Weshalb Leseförderung für alle ein Umdenken braucht
Naemi Sander
Um Leseförderung neu denken, innovativ umsetzen und dabei alle einschließen zu können, bedarf es eines Perspektivenwechsels. Kritisch betrachtet (re)produzieren Bibliotheken mit „bewährten“ Konzepten Bildungsungleichheiten und erreichen lediglich bereits gut geförderte Kinder. Alle anderen Altersgruppen und Familien mit geringerem kulturellem und sozialem Kapital geraten leicht aus dem Blickfeld. Damit Leseförderung für alle gelingen kann, muss sie lebendig und kraftvoll sein, braucht es Mut, Durchsetzungswille und Umsetzungsstärke.
„Sprache ist das Medium, in dem Menschen ihre Welt, ihre Kultur und sich selbst erschaffen.“1 Sprache, Lesen und damit einhergehende Lesekompetenz ist zentral für eine funktionierende moderne demokratische Gesellschaft und bildet die Grundlage dafür, dass sich Menschen in ihrer Umwelt orientieren können, dass sie an relevanten Prozessen teilhaben, sich als mündige Bürger:innen wahrnehmen und sich sowohl persönlich als auch beruflich entfalten können. Fragen von kultureller Teilhabe, Bildungs- und Chancengerechtigkeit sind damit verknüpft. Auch in Ländern mit gut entwickelten Bildungssystemen wie Österreich ist es jedoch für viele nicht selbstverständlich, lesen zu können: Dies belegen zahlreiche empirische Untersuchungen, etwa die PISA-Erhebungen der letzten Jahre. So läuft der Anteil derer, die wegen ihrer schlechten Lesefähigkeiten kaum eine Chance auf einen höheren Bildungsabschluss und auf Teilhabe am gesamtgesellschaftlichen Leben haben, auf über 20% hinaus.2 Mit dem Anstieg dieser Zahlen in den letzten Jahren wird das Ausmaß und die bildungspolitische Brisanz einmal mehr deutlich, da es sich nicht um ein aussterbendes, sondern kontinuierlich nachwachsendes Problem handelt.3 Hoffnung auf gleiche Bildungschancen erscheinen im Hintergrund der sozialen Selektivität nahezu als Utopie. Auswirkungen zeigen sich nicht nur in der analogen Lesekompetenz, ähnliche Befunde machen sich in der digitalen Bildung sichtbar: Kinder aus bildungsnahen Familien erwerben deutlich höhere Kompetenzen als aus sozioökonomisch schwächer gestellten Familien.4
Um den erkennbaren Defiziten entgegenzuwirken, muss die Vermittlung guter Sprach- und Lesekompetenzen umfassender gedacht und gestaltet werden: Sie muss früher als die Schule ansetzen und die Entwicklungen aller Kinder und Jugendlichen begleiten. Dies schließt Angebote begleitend und ergänzend zu den Bildungsinstitutionen ein. Zudem müssen präventive Maßnahmen auch kurative Ansätze einschließen, die lesefernen und -schwachen Erwachsenen einen niederschwelligen Zugang zum Lesen und Schreiben ermöglichen. An dieser Stelle machen sich die Chancen der non-formalen Leseförderung in (öffentlichen) Bibliotheken deutlich.5 Wenn Leseförderung gesamtgesellschaftlich gedacht wird und wir als Bibliotheken diese Aufgabe ernsthaft annehmen wollen, benötigt es neben mehr Sichtbarkeit auch Kooperationsbereitschaft und Vernetzung. Wir müssen den Blick auf die Welt derer ausrichten, die bildungs- und damit lesefern aufwachsen.6
Im Vortrag sollen neben der theoretischen Einbettung Methoden, Aktivitäten und Veranstaltungsformate vorgestellt werden, die es ermöglichen, diese Ziele nachhaltig zu erreichen. Zusammenarbeit mit Bildungseinrichtungen, niederschwellige Zugangsmöglichkeiten und Formate, die allen Kindern Lesefreude, -motivation und -kompetenz vermitteln und speziell für die Förderung von lesefernen Kindern geeignet sind, werden dabei in den Blick genommen. Bibliotheken als Bildungsinstitutionen können mit der Förderung von Lesekompetenz die Basis des lebenslangen Lernens mitbilden. Um die Teilhabe für alle zu sichern, braucht es eine umfassende Förderung von Bildungsprozessen aller Menschen: ein gemeinsames Umdenken in der Leseförderung.
Kurzbiografie
Naemi Sander ist als Literaturwissenschafterin und Pädagogin in der Stadtbibliothek Dornbirn für den Bereich Kinder, Jugend, Familie zuständig. Neben der ökologischen Nachhaltigkeit setzt sie sich in der Programmplanung für Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit in der Leseförderung ein.
Stiftung Deutschland 2021; Racherbäumer, Kathrin: Keine Besserung in Sicht. In: Arbeitskreis Jugendliteratur: Abgehängt?! Bildungs- und Teilhabe-Chancen auf dem Prüfstand. JuLit 03/ 2022, S. 3f.
1 Assmann, Aleida: Einführung in die Kulturwissenschaft. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2008.
2 Vgl. OECD: PISA 21st-Century Readers. Developing Literacy Skills in a Digital World. Paris: OECD Publishing 2021.
3 Vgl. Ehmig, Simone C.; Heymann, Lukas: Die Zukunft des Lesens. In: Grond-Rigler, Christine; Straub, Wolfgang (Hrsg.): Literatur und Digitalisierung. Berlin/ Boston: De Gruyter 2013, S. 251; Vgl. Klieme, Eckhard; u.a.: PISA 2009. Bilanz nach einem Jahrzehnt. Münster u.a.: Waxmann 2010.
4 Vgl. Sälzer, Christine: Lesen im 21. Jahrhundert. Lesekompetenzen in einer digitalen Welt. Deutschlandspezifische Ergebnisse des PISA-Berichts „21st-century readers“. OECD. Düsseldorf: Vodafone
5 Vgl. Keller-Loibl, Kerstin; Brandt, Susanne: Leseförderung in Öffentlichen Bibliotheken. Berlin/ München/ Boston: Walter de Gruyter 2015, S. 3.
6 Vgl. Brosche, Heidemarie: Spezielle Leseförderung für lesefern aufwachsende Kinder. In: eselsohr - Fachzeitschrift für Kinder- und Jugendmedien. Mai 2020, S. 18-19.