Vom Ablass zum Einkaufszettel. Historische Gedanken zu Einzelblatt und gebundenem Buch

Martin Roland

Ein Buch ist, ohne viel Nachdenken, bei uns ein Κώδικας (Codex), also ein „Blätterbuch“: Der Begriff umfasst den Liebesroman oder Krimi, den wir am Strand lesen, aber auch die mittelalterliche Hand-schrift, die in unserer Bibliothek im Tresor liegt und die wir herzeigen, wenn der Bundespräsident ge-ruht, die Bibliothek eines Besuchs zu würdigen.

Bloß wir alle wissen, dass es in Bibliotheken viel mehr gibt als solche Bücher. Der Titel verrät, wohin ich sie heute entführen möchte. Zu Einzelzetteln, und zwar nicht zu solchen, die von ehemals ganzen Büchern übriggeblieben sind, sondern zu solchen, die als Einzelzettel entstanden sind. Freilich, fast alle haben nur deswegen bis heute überlebt, weil sie – zwischenzeitlich oder bis heute – unter Buchdeckeln Schutz gefunden haben.

Die Sachlage ist freilich ziemlich verwickelt, denn nicht jeder „Einzelzettel“ ist wirklich ein Stück Papy-rus, Pergament oder Papier. Im 2. Jahrhundert vor Christus verwendete der Mosaikkünstler He-phaistos ein aus Mosaiksteinchen geformtes Zettelchen, das den Eindruck erweckt mit Siegelwachs am Grund befestigt zu sein, um seinen Namen zu verewigen. Diese Praxis, Kunstwerke auf imaginä-ren Zettelchen (cartellini) zu signieren, ist dann im Spätmittelalter und der Renaissance bei vielen Künstlern durchaus gängig. Solche mit Siegelwachs angebrachte Zettel sind freilich nicht bloß ein „Schmäh“ von Künstlern, die Betrachter*Innen beeindrucken wollen, sondern solche Zettel gab es wirklich. In den Musées royaux des Beaux Arts in Brüssel wird eine zeitgenössische Wiederholung des berühmten Merode-Altars (New York, Metropolitan Museum) bewahrt und dort hängt über dem Kamin im gemütlichen Zimmer der Verkündigung – anders als an dieser Stelle in der Vorlage – ein kolorierter Einblattdruck. Solche Holzschnitte mit dem Heiligen Christophorus haben sich, beinahe zu Hauf, in Büchern erhalten. Hier – und bei vielen, oft in Millionenauflagen produzierten Zetteln – spielt die im Titel genannte Ablasspraxis eine große Rolle.

Der Vortrag wird solchen Beispielen nachgehen. Und, der Vortrag wird versuchen, eine Systematik in die erhaltenen Einzelzettel zu bringen: Einzelzettel als Teil von Kunstwerken, Einzelzettel als Ge-schenke, Einzelzettel als Vorlagen/Vorprodukt oder bloß als Schmierpapier, Einzelzettel als Beschrif-tungen, Einzelzettel als Urkunde, Einzelzettel im öffentlichen Raum als Werbung oder Mobbing bzw. als Hilfsmittel im Unterricht, Einzelzettel als Mittel der privaten Andacht, als Spielkarten oder magi-sches Amulett, …

Viele dieser Kontexte sind uns durchaus vertraut. Dass es derartiges jedoch bereits in Antike und Mit-telalter gab, wird viele erstaunen. Der Vortrag wird bemerkenswerte und schöne Objekte vorstellen, sich aber keineswegs auf solche beschränken. Vielmehr wird die Nutzung der Zettel im Fokus stehen und dabei die intendierte und tatsächliche Funktion behandelt, aber auch die heutige Situation be-dacht. Die im Titel benannten Einkauflisten waren immer ephemere Erzeugnisse, bloß wenn sie sich über Jahrhunderte erhalten und zum Beispiel von Michelangelo Buonarroti geschrieben und illus-triert wurden, werden sie spannend.

Kurzbiografie

Dr. Martin Roland, MAS, geb. 1964 in Saint-Julien-en-Genevois (Frankreich). Studium der Kunstge-schichte in Wien unter Gerhard Schmidt, 1986–1989 Ausbildungskurs am Institut für Österreichische Geschichtsforschung. Arbeitet als Kunsthistoriker am Institut für Mittelalterforschung der Österrei-chischen Akademie der Wissenschaften an der Katalogisierung von Handschriften und Urkunden des (späteren) Mittelalters und des 16. Jahrhunderts, vor allem in ihrer Interaktion mit anderen Medien (Tafelmalerei, Musik, Liturgie, Theater).

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