PANEL 11

Pandemische Dystopien in der Literatur des 21. Jahrhundert

Chair: Wolfgang Meixner (Innsbruck)

10.30-12.00

Die Erinnerung der Zukunft. Dekadenz und Apokalypse in Catherine Mavrikakis‘ Dystopie Oscar de Profundis

Doris Eibl (Innsbruck)

Quer durch die literarischen Genres verhandeln die Fiktionen der 1961 als Tochter europäischer Einwanderer in Chicago geborenen und in Montréal aufgewachsenen frankophonen Autorin Catherine Mavrikakis immer wieder die Themen „Krankheit“, „Tod“ und „Trauer“ in grotesk zugespitzten Konstellationen, greifen transgenerationelle Traumata wie etwa den Holocaust (Le Ciel de Bay City, 2008), die Invasion in der Normandie (Omaha Beach, 2008) oder den Rassismus gegen die schwarze Bevölkerung in den USA (Les derniers jours de Smokey Nelson, 2011) auf und verweben diese mit einer manchmal hoffnungsvollen, doch meist pessimistischen Suchbewegung, welche die Gegenwart kritisch in den Blick nimmt. In ihrer 2016 erschienenen Dystopie Oscar de Profundis inszeniert die Autorin eine in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts in den Stadtruinen der früheren Metropole Montréal angesiedelte und von Klimawandel und Seuchen gezeichnete Gesellschaft. Kanada gibt es nicht mehr, dafür aber eine Art Weltstaat, der alle sozialen Strukturen demontiert und jegliches unabhängige intellektuelle Leben außer Kraft gesetzt hat. Die Besitzenden leben in Sicherheitsghettos am Stadtrand, die Mittelosen führen in den Straßenfluchten des Zentrums einen erbarmungslosen Kampf ums Überleben. Als eine neue „schwarze Krankheit“ zusehends mehr Opfer fordert, wird die Stadt unter Quarantäne gestellt, und es kommt zu einer unerwarteten, allerdings nur kurzen Begegnung zwischen Arm und Reich, die gegen die seit Langem wuchernde Verrohung und Entfremdung zwischen den Menschen nichts auszurichten vermag.

Im fiktionalen Raum einer alles andere als einladenden Zukunft dekliniert Mavrikakis‘ Dystopie eine Reihe für das Genre typische Themen (stattliche Kontrolle über individuelle Freiheit, Auswüchse des globalen Kapitalismus, Ausbeutung der Ressourcen, Klimawandel, Pandemien, Spaltung der Gesellschaft,), wobei die Grenzen zwischen Fiktion und  gegenwärtiger Realität mitunter so durchlässig sind, dass dem prophetischen Szenario des Romans die Qualität einer „mémoire du futur“ (Erinnerung der/aus der Zukunft) eignet. Dystopien verhandeln zwar in erster Linie das Andere der Utopie, zeigen aber gerade auch über die imaginierten Katastrophenszenarien Exitstrategien auf. Bei Mavrikakis scheint der Prozess der Zersetzung und Zerstörung zwar irreparabel, am Beispiel der zwei Hauptfiguren, Oscar de Profundis und Cate Bérubé, werden aber Bewahrung und Revolte als Haltungen skizziert, die den Leser*innen Anhaltspunkte für eine kritische Bestandsaufnahme ihre Gegenwart anbieten.

Dr. Doris G. Eibl, Universität Innsbruck, Romanistin, Kanadistin und Kulturwissenschaftlerin, Mitglied der Forschungsplattform Center Interdisziplinäre Geschlechterforschung, Mitherausgeberin der interdisziplinären Zeitschrift für Kanada-Studien. Publikationen: französischen und frankokanadische Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts, Erinnerung und Gedächtnis, Text und Bild, schreibende und malende Frauen im Surrealismus. Neueste Publikationen: Mensch-Tier-Beziehungen in den frankophonen Kulturen, Literaturen und Medien. Les relations entre homme et animal dans les cultures, littératures, et médias francophones (hg. mit Christoph Vatter, 2020); Zukunft/Utopie (hg.mit David Winkler-Ebner, 2020).

Pandemien lesen. Die Prolepsis der Literatur

Dunja Mohr (Erfurt)

Im gegenwärtigen „Goldenen Zeitalter der dystopischen Fiktion“ (Lepore 2017) sind Dystopien „fashionable“ (Robinson 2018). In der aktuellen Corona Pandemie scheinen nun literarische (und filmische) Dystopien die Realität geradezu auf unheimliche Weise bereits proleptisch inszeniert zu haben, Wirkwechsel verkehren sich. Standardelemente der Dystopie, z.B. Gesundheitsüberwachung, Quarantänemaßnahmen, Isolation, Grenzschließungen, verwaiste Innenstädte, eingeschränkte Bürgerrechte, sozio-ökonomische Zusammenbrüche, pandemische Bedrohung u.v.m., sind Teil der Gegenwartsrealität. Temporale Achsen lösen sich auf, indem sich fiktionale Zukunft, in der Vergangenheit rezipiert, und reale Gegenwart ineinanderschieben. Literatur wird proleptisch: Die Dystopie Songs for the End of the World (April 2020) der kanadischen Autorin Saleema Nawaz handelt von einer tödlichen globalen Coronavirus Pandemie chinesischen Ursprungs, geschlossenen Grenzen, Lockdowns, social distancing, die Angst vor dem Anderen und sich selbst als potentieller Viren(über)träger. 

Wenn aus Fiktion Realität, „wenn Fiktion zu einer realen Katastrophe wird“ (Bronfen 2020, 18), stellt sich die Frage, was die spekulative Literatur zum Verständnis einer pandemischen Realität beitragen kann. Führt die eingehende Beschäftigung mit Pandemieimaginationen gar zu psychologischer Resilienz (vgl. Scrivner, Johnson, Kjelgaard-Christiansen, und Clasen 2020)? Welches Narrativ, welche Bedeutungszuschreibungen und Warnungen offerieren pandemische Dystopien des 21. Jahrhunderts? Welche Handlungsoptionen oder Lösungsansätze, welche Kausalzusammenhänge und soziopolitischen, ökologischen und individuell-systemischen Korrelationen und Kontextualisierungen werden imaginiert? Der Vortrag zeigt anhand von Nawaz‘ Roman und Atwoods bekannter Trilogy MaddAddam (2003-2013), die von einer menschengeschaffenen intentionalen Pandemie erzählt, die die Menschheit auslöschen soll, um den ausgebeuteten Planeten und seine Ökosysteme zu retten, einerseits dystopische Erzählmuster, andererseits auch proleptisch-spekulative, fantastisch-realistische Hoffnungselemente auf, die auf der literarischen Ebene Handlungsstrategien und Umdenkprozesse offerieren. Pandemien lesen könnte auch bedeuten, Fiktion Realität werden zu lassen.

Dr. Dunja M. Mohr, Universität Erfurt, Anglistin und Kulturwissenschaftlerin, Sektionsleitung Frauen- und Geschlechterstudien der Gesellschaft für Kanada-Studien, Vorstandsmitglied Margaret Atwood Society, Beirat Margaret Atwood Studies und Utopian Studies. Publikationen u.a. zu spekulativer Literatur, Posthumanismus, Anthropozän, Postkolonialismus, Post-9/11, New Materialism, Frankenstein. Aktuell arbeitet sie zum narrativer Affekt, literary empiricism und Ästhetik und organisiert die internationale Tagung “‘Artpolitical’ – Margaret Atwood’s Aesthetics”, Göttingen, 2021.

„Der Körper ist uns Tempel“. Juli Zehs Corpus Delicti

Maria Piok (Innsbruck)

Ein Land, in dem niemand mehr krank wird: Was sich wie eine ideale Traumwelt ausnimmt, zeigt Juli Zeh als radikale Dystopie. In ihrem Roman Corpus Delicti. Ein Prozess (2009) entwirft sie das Modell einer Gesundheitsdiktatur, in der Genforschung, strenge Hygienevorschriften und medizinischer Kontrollwahn, scheinbar auf das Wohl aller ausgerichtet, jede Form individueller Selbstentfaltung kategorisch unterbinden. 

Ausgerechnet der menschliche Körper – in der Literatur immer wieder Inbegriff von Sinnlichkeit und Trieb, komisch-groteskes Ventil und Projektionsfläche von Vorstellungen des Tierisch-Unreinen – wird hier zur neuen Religion eines durch und durch lebensfeindlichen Staatsprinzips. Körperlichkeit bedeutet nun nicht mehr (Lebens-)Lust, sondern die Pflicht zur Selbstoptimierung und Ertüchtigung im Dienste des Staates. Wer sich, wie die Protagonistin des Romans, ureigenen körperlichen Empfindungen wie Liebe und Schmerz aussetzt, wird gleichsam zur Gefahr.

Juli Zeh führt in Corpus Delicti den mittelalterlichen Hexenprozess in die Gegenwart eines modernen Staats- und Justizwesens, das als logische Konsequenz unserer gegenwärtigen Idealvorstellungen erscheint, die den gesunden, jugendlichen Körper als einzige Norm akzeptieren. Damit schließt sie nicht nur an einen kulturwissenschaftlichen ,body turn‘ des ausgehenden 20. Jahrhunderts an, sondern auch an prinzipiellen Fragen, etwa nach der Dichotomie von Körper und Geist, nach dem Recht auf Selbstbestimmung und Privatgeheimnissen oder der Pflicht des Einzelnen gegenüber der Allgemeinheit – Fragen, die gerade jetzt von besonderer Brisanz sind.

Mag. Dr. Maria Piok, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungsinstitut Brenner-Archiv und im Literaturhaus am Inn. Forschungsschwerpunkte: österreichische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, literarischer Transfer, Satire und (Volks-)Theater. Publikationen u.a.: Werkausgabe Otto Grünmandl Band I und II (Haymon 2019/20); Gerhard Kofler: in fließenden übergängen / in vasi comunicanti. Frühe Gedichte in Deutsch, Italienisch und Südtiroler Mundart / Poesie giovanili in tedesco, italiano e dialetto sudtirolese (Haymon 2019); Sprachsatire in Nestroys Vaudeville-Bearbeitungen (iup 2017).

Zur Funktion postapokalyptischer Narrative beim Begreifen von Pandemien: Emily St. John Mandels Das Licht der letzten Tage

Caroline Rosenthal (Jena)

Der Vortrag analysiert die Funktion postapokalyptischer Narrative für das Begreifen gegenwärtiger Krisen anhand des Romans Das Licht der letzten Tage (Original: Station Eleven) der Kanadierin Emily St. John Mandel. Mandels Text gehört zum Genre der „speculative fiction“, die, anders als etwa der Science-Fiction, Ereignisse aufgreift und zuspitzt, die bereits geschehen und damit plausibel sind. Während der Science-Fiction etwas imaginiert, das bisher nicht möglich ist, weist die speculative fiction eine größere Nähe zur Lebenswirklichkeit der Leser*innen auf, weil sie das bereits Mögliche spekulativ dramatisiert. Mandels Roman spielt 20 Jahre nachdem das Virus der sogenannten Georgia Grippe 99% der Menschheit ausgerottet hat und entwirft ein post-pandemisches, dystopisches Szenario dafür, wie die Welt nach der Pandemie aussehen könnte. Dabei ist die dystopische Zukunft nur in Abgrenzung und Erinnerung an die untergegangene Welt begreifbar, so dass ein analytischer Blick aus der imaginierten Zukunft auf die reale Gegenwart der Leser*innen entsteht.

Postapokalyptische Romane entwerfen eine Welt nach der Katastrophe, aber mehr als das führen sie uns die Bedingungen unseres gegenwärtigen Daseins vor Augen. Es rücken gesellschaftliche Strukturen, Machtverhältnisse, globale und lokale Ordnungen, das Verhältnis von Mensch und Umwelt, sowie die Bedingungen des Menschseins und der Menschlichkeit an sich in den Blick, gerade weil diese nach der Apokalypse zerfallen und neu definiert werden müssen. Postapokalyptische Romane werfen Fragen danach auf, was Zivilisation überhaupt ist und auf welche Strukturen sie sich stützt. So werden Krisen, Brüche und Risse in gesellschaftlichen Verhältnissen unserer Zeit sichtbar – Ungleichheiten in Bezug auf Klasse, Geschlecht oder Ethnizität –, welche (wie es sich auch jetzt während der Corona Krise zeigte) durch die Pandemie besonders pointiert werden.   

Dr. Caroline Rosenthal ist Professorin für Amerikanistik an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Sie hat zu kanadischer Literatur, Kultur und Literaturtheorie, zur zeitgenössischen Stadtliteratur Nordamerikas, zu nationalen Mythen sowie zu Aktualisierungen der amerikanischen Romantik und zu Nature Writing, Ecocriticism und Ecopoetry gearbeitet. Zu ihren Publikationen zählen: New York and Toronto Novels after Postmodernism: Explorations of the Urban (2011), Gained Ground: Perspectives on Canadian and Comparative North American Studies (hg. mit Eva Gruber, 2018), Anglophone Literature and Culture in the Anthropocene (hg. mit Gina Comos, 2019). Caroline Rosenthal war von 2015-2017 Präsidentin der Gesellschaft für Kanada-Studien.

 

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