PANEL 14
(Dis-)Ableism in der Krise: Menschen mit Behinderung zwischen Fürsorgeversprechen und Utilitarismus
Chair: Thomas Hoffmann (Innsbruck)
13.30-15.00
(Dis-)Ableism in der Krise. Einführende Be-merkungen
Thomas Hoffmann (Innsbruck)
Es ist eine theoretisch wenig überraschende, aber in der Praxis umso dramatischere Erfahrung der vergangenen Monate, dass sich in der allgemeinen, weltweiten Gesellschaftskrise, die mit der COVID-19-Pandemie einhergeht, bereits bestehende gesellschaftliche Entwicklungen, Krisenzustände und Widersprüche (z.B. Digitalisierung, Globalisierung, Autoritarismus, soziale Ungleichheit, Rassismus) weiter zuspitzen und mit Nachdruck hervortreten. Dies gilt auch für „Ableism“ und „Disableism“, also für die Beurteilung und den diskriminierenden Ausschluss von Menschen (insbesondere mit Behinderung) aufgrund ihrer Fähigkeiten bzw. fehlender Fähigkeiten (z.B. auf zwei Beinen zu gehen, zu sehen, zu hören oder lautsprachlich zu kommunizieren). Und dies gleich in mehrfacher Hinsicht: Menschen mit Behinderung kommen in den aktuellen medialen und politischen Diskursen kaum vor und selten selber zu Wort. In Sondereinrichtungen wie z.B. Wohnheimen sind sie teils hohen Erkrankungsrisiken ausgesetzt und werden zugleich als besonders vulnerable Gruppe zum Gegenstand paternalistischer Fürsorge gemacht. Ihr Erkrankungsrisiko und ihre Überlebenschancen sind im Sinne der utilitaristischen Logik des „größtmöglichen Glückes für die größtmögliche Zahl“ (Bentham) Gegenstand wirtschaftlicher und medizinischer Kosten-Nutzen-Rechnungen, bis hin zum Wiederaufblühen sozialdarwinistischer Phantasien von einem „glücklichen Tod“ (Euthanasie) jener Minderheiten, die dem Glück der vermeintlichen Mehrheit im Wege steht. Zugleich wirft die aktuelle Situation Fragen danach auf, welche Fähigkeiten Menschen brauchen, um die Corona-Krise zu bewältigen bzw. mit ihr umzugehen: Welche Fähigkeiten gewinnen dabei an Wert oder Anerkennung, welche verlieren in der Krise? Diesen Themen soll in zwei 30minütigen Vorträgen mit anschließender Diskussion genauer nachgegangen werden.
Thomas Hoffmann ist seit 2018 Professor für Inklusive Pädagogik an der Universität Innsbruck. Mehrjährige Tätigkeit als Erzieher in verschiedenen Wohneinrichtungen, Tagesstätten und in der Erwachsenenbildung für Menschen mit intellektueller Behinderung und psychischen Erkrankungen. 2001 bis 2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der PH Ludwigsburg und an der Universität zu Köln. 2007 Ernennung zum Akademischen (Ober)Rat an der PH Ludwigsburg für das Lehr- und Forschungsgebiet der Geistigbehindertenpädagogik, dessen Leiter und Sprecher er bis 2018 war. 2015/2016 Vertretung der Professur für Pädagogik bei schwerer geistiger und mehrfacher Behinderung und Inklusion an der PH Heidelberg. 2016/2017 zweisemestrige Gastprofessur für Rehabilitationssoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte sind die schulische Inklusion und Exklusion von behinderten und sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen, Disability History und Geschichte der Behindertenpädagogik und Psychiatrie.
Disabled people, COVID-19 and its aftermath through an ability studies lens
Gregor Wolbring (Calgary)
Disabled people can be impacted by COVID-19 and its aftermath in many ways:
- as potential users of COVID-19 protection measures (protection product bought by disabled people or deployed by others to be used by disabled people)
- as potential non-therapeutic users (consumer angle of non COVID-19 products)
- as potential consumers of COVID-19 knowledge
- as potential producers of COVID-19 knowledge
- as potential therapeutic users (as patient, getting treated)
- as potential diagnostic targets (diagnostics to prevent ‘disability’ which might increase in the aftermath of COVID-19 due to changing family circumstances)
- by COVID-19 protection guidelines (staying at home, no visitors in group home….)
- by changing societal parameters caused by COVID-19 aftermath (how do we act toward each other? See for a positive possibility in (1))
- by changing societal parameters caused by COVID-19 aftermath (how do certain companies act toward disabled people?)
- more non-disabled people competing with disabled people for existing jobs after COVID-19
- increasing autonomy of a product or process (e.g. AI/ML judging disabled people, see algorithm bias in health insurance…).
Ability expectations („it would be nice to have certain abilities“) and ableism the more severe form of ability expectation („certain abilities are seen as absolutely essential“) are a cultural reality that impacts any of the 11 points. This presentation looks at these 11 points through an ability studies lens (short for “ability expectation and ableism studies”) which investigates how ability expectation (want stage) and ableism (need stage) hierarchies and preferences come to pass and the impact of such hierarchies and preferences (Wolbring, 2020). It furthermore provides data on how Canadian and US newspapers dealt with the 11 points in general and in content that engaged with ethics.
Wolbring, G. (2020). Ability expectation and Ableism glossary. Wordpress. https://wolbring.wordpress.com/ability-expectationableism-glossary
Gregor Wolbring ist Associate Professor (tenured) an der Cumming School of Medicine (Community Health Sciences, Program in Community Rehabilitation and Disability Studies) der University of Calgary. Zurzeit ist er Mitglied des Instituts für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) in Karlsruhe und Mitglied des Instituts für Wissenschaft, Politik und Gesellschaft der University of Ottawa. Zuvor war er Präsident der Canadian Disability Studies Association und Mitglied des Exekutivkomitees der Canadian Commission for UNESCO. Er wurde u. a. ausgezeichnet mit dem Tanis Doe Awardder Canadian Disability Studies Association (2017), dem Bachelor of Health Sciences Research Mentor Award (2014, 2016, 2018), dem My SupervisorSkills, GREAT Supervisor Award (2015), der Queen Elizabeth II Diamond Jubilee Medial, verliehen von der kanadischen Regierung (2013; ), dem Faculty of Medicine McLeod Award (2011) und dem National Award, verliehen vom Council of Canadians with Disabilities (1998). 2020 war er einer von drei Finalisten des Nachhaltigkeitspreises der University of Calgary, Kategorie Fakultäts-Nachhaltigkeitsforschungspreis.
Abhängigkeit in der Krise: Reflexionen über den ‚fürsorglichen‘ Umgang mit Menschen mit Behinderung
Sophia Falkenstörfer (Freiburg)
Kollektiv verantwortetes Helfen und Fürsorgen sind konstitutive Elemente jeder Gesellschaft, konstatieren u.a. Melville et al. (2015, S. 9). Fürsorgesystemen, bzw. der Art und Weise wie mit Fürsorgebedürftigen in einer Gesellschaft umgegangen wird, kommt daher „eine wesentliche Bedeutung bei der Analyse gesellschaftlicher Ordnungen“ (ebd. S. 10) zu. Die Corona-Pandemie kann unter diesem Aspekt als Lupe auf gesellschaftliche Verhältnisse gedeutet werden. Mit Blick auf die gegenwärtige Situation zeigt sich dabei ein enormes Spannungsfeld zwischen Fürsorgeversprechen einerseits und utilitaristischen Strömungen andererseits. Das Versprechen lautet bspw., dass die Gesellschaft Menschen schützen, ver- und umsorgen wird, die – z.B. aufgrund erhöhter Vulnerabilität – auf Hilfe und Unterstützung angewiesen sind. Dementgegen stehen neoliberale und utilitaristische Mächte, die deutlich bspw. in der Diskussion um die „Risikogruppe alter Menschen“ und dort verschärft bei dem Thema „Triage“ zutage treten. Interessant ist nun, dass der Personenkreis der Menschen mit Behinderung in den gegenwärtigen Debatten um die Auswirkungen der Corona-Pandemie kaum oder nur randständig, bzw. in einschlägigen Kreisen, in Erscheinung tritt. In dem Vortrag werden die Auswirkungen der Corona-Krise – mit Fokus auf eine zunehmend paternalistischen Fürsorge – für den Personenkreis der Menschen mit Behinderung, vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen utilitaristischen Tendenzen, diskutiert, die möglicherweise in Zusammenhang mit der marginalen Bedeutung der Personengruppe der Menschen mit Behinderung im gesamtgesellschaftlichen Kontext zu verorten ist.
Melville, G., Vogt-Spira, G. & Breitenstein, M. (Hrsg.) (2015). Sorge. Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag.
Sophia Falkenstörfer ist ab 1. Oktober 2020 Professorin für Heilpädagogik und Inclusive Education an der Katholischen Hochschule Freiburg. Sie arbeitete zunächst als Sonderschullehrerin mit Kindern und Jugendlichen mit den Förderschwerpunkten geistige Entwicklung, körperlich-motorische Entwicklung und sozial-emotionale Entwicklung. Von 2007 bis 2020 war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Akademische Rätin an an der PH Ludwigsburg, der Universität zu Köln und der Humboldt-Universität zu Berlin tätig. Promotion 2019 zur Relevanz der Fürsorge in Geschichte und Gegenwart, mit besonderem Fokus auf den Personenkreis der Menschen mit komplexen Behinderungen. Weitere Forschungsschwerpunkte sind Migration und Behinderung, Verhaltensauffälligkeiten bei Menschen mit komplexen Behinderungen und Forschendes Lernen in der Lehrer*innenbildung.