PANEL 8
Rechtsphilosophische und bioethische Perspektiven
Chair: Elisabeth Dietrich-Daum (Innsbruck)
16.30-18.00
Notwendigkeit und bürokratisches Regieren durch „Maßnahmen“
Anne Siegetsleitner (Innsbruck)
Im Zuge der Covid-19-Pandemie kam es wie in zahlreichen weiteren Staaten auch in Österreich auf unterschiedlichen Entscheidungsebenen zu sogenannten Maßnahmen. Undifferenziert von „Maßnahmen“ zu sprechen, erlaubt nicht nur, deren Charakter im Laufe einer Pandemie umzuinterpretieren, sondern es wurde auf das Muster einer instrumentellen Begründung zurückgegriffen. Die Maßnahmen seien notwendig, um das Sars-CoV-2-Virus zu bekämpfen. Ähnlich wie in anderen europäischen Staaten wurde in Österreich auf Bundesebene die konkrete Zielsetzung jedoch mehrmals verändert. Die Rhetorik der Notwendigkeit schien wichtiger als das konkrete Ziel. Es zeigten sich Ansätze zu Elementen, welche Hannah Arendt u.a. in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft im Abschnitt „Bürokratie: Die Erbschaft des Despotismus“ behandelt. Sie analysiert darin ein Regieren, das dem Stil der absoluten Monarchie entspricht und führt nicht zufällig Österreich-Ungarn als Beispiel einer solchen Despotie an. Im Gegensatz zur Gesetzesherrschaft ist nach Arendt Bürokratie das Regime der Verordnungen. Vom Standpunkt dieser Bürokratie scheint das verfassungsrechtliche Regieren als unendlich unterlegen, denn Gesetzesinterpretationen hemmten und verhinderten direktes politisches Handeln. In einer bürokratischen Herrschaft werde gehandelt, bevor Recht gesprochen wird, Einspruch sei entweder gar nicht möglich oder nur auf so „bürokratischem“ Wege, dass ihm keine praktische Bedeutung mehr zukomme. Der Vortrag beleuchtet den politischen Umgang mit der Pandemie in Österreich unter der Perspektive von Ähnlichkeiten und Unterschieden zu einer bürokratischen Herrschaft im Sinne Arendts.
Anne Siegetsleitner ist Professorin für Praktische Philosophie an der Universität Innsbruck. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf den Gebieten der Angewandten Ethik (Informations- und Medienethik, Bioethik) sowie der Politischen Philosophie (u.a. Hannah Arendt) und der neueren Philosophiegeschichte (Humanismus, Logischer Empirismus)
Rechtssicherheit und Verhältnismäßigkeit von Covid-„Maßnahmen“
Caroline Voithofer (Innsbruck)
„Sie haben am 20.3.2020 zuerst einen öffentlichen Ort betreten und sind dann von Ihrem Wohnort in **** nach *** in die Wohnung einer befreundeten Familie in ***, gefahren, obwohl das Betreten dieses Ortes zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 seit 16.03.2020 verboten war. Der Aufenthalt war auch nicht durch die unter der gem. § 2 der Verordnung gem. § 2 Zi. 1 des COVID-19-Maßnahmengesetzes genannten Ausnahmen gestattet. […] Wegen dieser Verwaltungsübertretung wird über Sie folgende Strafe verhängt: […] Gesamtbetrag: € 660,000, Ersatzfreiheitsstrafe: 60 Stunden. (LVwG Niederösterreich, 12.3.2020, LVwG-S-891/001-2020)
Dieser Auszug aus dem Spruch eines bekämpften Straferkenntnisses der Bezirkshauptmannschaft Tulln vom 8.4.2020 ist nur ein Beispiel für „Maßnahmen“, die sowohl der Rechtssicherheit als auch der Verhältnismäßigkeit nicht zuträglich waren. Dass diese beiden Zwecke generell aber auch in speziellen Ausnahmezuständen für das friedliche Zusammenleben in einem Rechtsstaat notwendig sind, zeigt mein Beitrag ebenso wie andere Verletzungen dieser Zwecke durch konkrete COVID-19-Maßnahmen, die in Rechtsform in Erscheinung getreten sind. Dabei wird deutlich, dass Rechtssicherheit keinesfalls automatisch durch Normen, die im dafür vorgesehenen Verfahren ordnungsgemäß zustande gekommen sind, verwirklicht sind, sondern dass durch Gesetzeshypertrophie sowie unverständliche oder unvollständige Normen Rechtssicherheit unterwandert wird. Unverständliche und unvollständige Normen ermöglichen das „Regieren durch Maßnahmen“ im Sinn des vorigen Beitrags von Anne Siegetsleitner. Die Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen setzt voraus, dass sie sich auch mit neuen Erkenntnissen über COVID-19 Infektionswege sowie die Gefährlichkeit von COVID-19 verändern. Sind Maßnahmen hingegen ungeeignet oder überschießend, ist damit zu rechnen, dass auch geeignete und verhältnismäßige Maßnahmen nicht mehr von Rechtsüberzeugung der Rechtsadressat_innen getragen werden und die „Befolgungsbereitschaft“ stark reduziert wird. Wenn dann Infektionszahlen steigen, werden weitere Maßnahmen in Kraft gesetzt. Dann droht die Gefahr, dass aus dem Ausnahmezustand ein Dauerzustand wird, in dem das Regieren durch Maßnahmen zur „neuen Normalität“ wird.
Caroline Voithofer arbeitet am Institut für Zivilrecht an der Universität Innsbruck und ist dort auch für die Rechtsphilosophie zuständig. Sie schreibt derzeit an ihrer Habilitationsschrift zum Thema „Sittenwidrigkeit als Zulässigkeitsschranke für körperbezogene Rechtsgeschäfte“.
Evidenz und Solidarität. Narrative in Zeiten von Corona
Gabriele Werner-Felmayer (Innsbruck)
Im Rahmen der Covid-19 Pandemie und den Maßnahmen zu deren Eindämmung standen zwei Narrative im Vordergrund. Zum einen waren plötzlich Zahlen und Studien und damit wissenschaftliche Evidenz in aller Munde. Expert*innen aus Virologie, Hygiene, Epidemiologie und verschiedenen klinischen Bereichen der Medizin lieferten Argumente für politische Entscheidungen hinsichtlich unpopulärer Maßnahmen. Schwierige ethische Themen, wie die Allokation von Ressourcen (Stichwort Triage) drangen unversehens ins kollektive Bewusstsein. Zumindest kurzfristig boten datenbasierte Modelle Zuflucht, aber gerade an Covid-19 wurde die Unsicherheit von wissenschaftlicher Evidenz deutlich – u.a., weil sie in diesem Fall erst generiert werden musste und muss. So ist das Vertrauen in Evidenz und allgemeiner in Wissenschaft bereits wieder abgeflaut. Von Anfang an wurde – wissend, dass die Eindämmung der Erkrankung persönliche Einschränkung bedeutet - ein zweites Narrativ gepflegt, nämlich das der Solidarität und fürsorglichen Entsagung. Solidarität für „die Alten“ war der erste Aufruf, ihm folgten weitere, ohne dass ein Verständnis dessen, was Solidarität gesamtgesellschaftlich und politisch bedeutet, spürbar wurde. Im Bemühen um Motivierung der Bürger*innen, die Maßnahmen solidarisch mitzutragen, wurden gesellschaftliche Gruppen z.T. gegeneinander ausgespielt oder völlig übersehen. Dabei ist gerade in Krisenzeiten ein vertieftes Verständnis für die Dimensionen von Solidarität, der es um Gemeinsinn, sozialen Frieden und Gerechtigkeit geht, notwendig. Institutionalisierte Solidarität ist ein wesentlicher Grundpfeiler von Gesundheits- und Sozialwesen im europäischen Kontext, doch scheint der Wert Solidarität über die letzten Monate zunehmend zu einer individuellen Angelegenheit zu werden, den die und der Einzelne durch den Maßnahmen-Dschungel retten muss, während Gewinnorientierung nach wie vor das einzige Modell für Wirtschaftlichkeit bleibt, die auch den Bereich des Sozialen prägt. In der Bioethik hat der Begriff der Solidarität in den letzten Jahren eine Renaissance erlebt. Es scheint hoch an der Zeit, ihn auch in der politischen und gesellschaftlichen Praxis neu zu beleben.
Gabriele Werner-Felmayer, Institut für Biologische Chemie der Medizinischen Universität Innsbruck, forscht und lehrt zu bioethischen Fragen in der Medizin mit Fokus auf die soziokulturelle Bedeutung neuer Technologien und diesbezüglich gemachter Hoffnungen und Versprechen.