Tagungsbeiträge
Die Abstracts der Redebeiträge der Referent_innen der Tagung sind hier als PDF abrufbar.
Donnerstag, 29. Juni 2017
13:30–14:15 KEYNOTE 1
Maria A. Wolf (Innsbruck)
Medikalisierung der Sozialen Frage und wissenschaftliche Neuordnung der Kindheit
Ausgehend von der Frage, wie das Wesen der „sozialen Frage“ in der Wissenschaft um 1900 interpretiert wurde, wird erörtert, was zur Engführung auf Lösungskonzepte einzelner wissenschaftlicher Fächer beigetragen hat, weshalb die Medikalisierung als Möglichkeit sozialer Ordnungsbildung erfolgreich werden konnte und welche Bedeutung dabei dem Kind und der Kindheit zukommt.
14:15–15:15 PANEL 1
Wissenschaftsdisziplinäre Vermessungen zwischen Pädiatrie, Pädagogik und Psychoanalyse
Moderation: Alfred Weiss, Salzburg
Kristina Schierbaum (Frankfurt)
Janusz Korczak im Spannungsfeld von Pädiatrie und Pädagogik
Pädiatrie und Pädagogik teilen mehr Gemeinsamkeiten, als gemeinhin gesehen wird, z. B. eine lange Vorgeschichte. Beide Wissensfelder entstanden ungefähr zur gleichen Zeit. Neben der eigenwilligen Rezeptionspraxis lässt sich rückblickend konstatieren, dass die jeweiligen zeitgenössischen Fachtheorien immer auch konklusive Ideen zum Kern der anderen Disziplin enthielten. Gibt es zu Beginn des 20. Jh. noch zahlreiche Beispiele der intensiven Auseinandersetzung, so hat die Betonung der Unterschiede im Laufe des 20. Jahrhunderts die Oberhand gewonnen. Die Vorgeschichte dieser Entwicklung liegt in der Aufklärungszeit, in der sich die Kinderärzte als sog. Aufklärungspädiatrie konstituierten, sich als ausschließlich für Kinder zuständig erklärten und die »Pädiatrie« noch als umfassende „soziale Wissenschaft vom Kind“ verstanden, die sowohl praktisch wie theoretisch agierte und soziale wie biologische Einflussfaktoren zusammendachte (vgl. Peter 2014). Der Umgang mit kranken Kindern aber hat nicht nur in der Pädiatrie, sondern auch in der Fürsorge bzw. »Sozialen Arbeit« eine lange Tradition, denn die Sorge um uneheliche Kinder, Waisen und arme Kinder schloss auch die Kranken unter ihnen nicht aus. Ein Akteur auf dem Gebiet der Kindergesundheit ist Janusz Korczak (1878/79-1942), der polnische Mediziner, Pädagoge und Schriftsteller. Während seines Medizinstudiums an der Kaiserlichen Universität zu Warschau und seiner Studienreisen in die Metropolen Europas (Berlin, Paris und London) hatte er sich auf die Kinderheilkunde spezialisiert und war sieben Jahre als Pädiater im Berson-Bauman-Spital in Warschau tätig. Im Anschluss führte er über 30 Jahre das jüdische Waisenhaus „Dom Sierot“. Die Leitung war eine schwierige erzieherische Aufgabe, denn sie umfasste die komplette Betreuung einer größeren Zahl von Halb-, Voll- und Sozialwaisen. Es ging Janusz Korczak dabei aber nicht allein um die Bekämpfung oder Vermeidung ansteckender Krankheiten, sondern auch um die grundsätzliche Verbesserung des Gesundheitszustandes und gedeihliche Bedingungen des Aufwachsens. Seine »Erziehungsklinik« ist ein Sinn-bild für die »Medikalisierung des sozialen Sektors« (vgl. Hering 2006: 67), auch wenn sein Enga-gement über die medikale Sorge um die Kinder hinausging: Im „Dom Sierot“ lernte Janusz Korczak das Kind auch in seiner stabilen Entwicklung kennen, um „zu wissen, was es zum nor-malen Aufwachsen braucht, was ihm [dem Kind] fehlt, wenn es in seiner (physischen, intellek-tuellen, moralischen) Entwicklung gestört wurde, um dann die Mängel, nach Möglichkeit rechtzeitig beheben zu können“ (SW Bd. 9: 201). Im Fall „Janusz Korczak“ geht es in Bezug auf „medikalisierte Kindheiten“ nicht nur um einen Akteur, sondern auch um eine Institution mit spe-ziellem Konzept, ein Programm, einen Wirkungsbereich und einen Ort. An ihm lässt sich zeigen, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch eine „Zweiheit von Medizin und Pädagogik“ bestand – und die Sozialmedizin als Brückenschlag von der Medizin (Pädiatrie) zur Sozialen Arbeit (Fürsorgeerziehung) gedeutet werden kann, denn in seinem Handeln zeigt sich medizinisches Können mit sozialem Engagement in „Personalunion“.
Irene Berkel (Innsbruck)
Die Neuvermessung der Kindheit in der psychoanalytischen Klinik und Theorie
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert wuchs im Zuge der biowissenschaftlichen Fortschritte das Interesse an Reproduktion und Sexualität, an nicht-reproduktiven Formen von Sexualität und am Inzesttabu. Die Entdeckung der infantilen Sexualität durch Freud, den Begründer der Wissenschaft vom Unbewussten, galt als revolutionär, da sie sich gegen die romantische Vorstellung von der Unschuld des Kindes wandte. Bis zu Freud galt sexuelles, sogenanntes frühreifes Verhalten entweder als Manifestation einer sexuellen Verführung oder der Proletarisierung im Rahmen der Industrialisierung. Freuds Entdeckung der Bedeutung der infantilen Sexualität für die Subjektkonstitution war das Resultat klinischer Erfahrungen und erfolgte historisch an der Schwelle, da das Allianzdispositiv seine ökonomische wie politische Bedeutung einbüßte und das Sexualitätsdispositiv die bürgerliche Familie besetzte (Foucault). Freud bringt die infantile psychosexuelle Entwicklung des Kindes in ein Verhältnis zur Anerkennung des Inzesttabus (Ödipuskomplex). Die Leiden der Neurotiker sind auf infantile Konflikte zurückzuführen, die in den Symptomen als Verdrängtes wiederkehren, weshalb den NeurotikerInnen die Einnahme ihrer symbolischen Position im Tableau der Generationen misslingt. In Abgrenzung zu C.G. Jung und Alfred Adler konzeptualisiert, dogmatisiert Freud den Ödipuskomplex zum Schibboleth der 'wahren' Psychoanalyse und verleiht ihm jene Normativität, von der sich die Psychoanalyse bis heute nur schwer befreien kann. Der Vortrag diskutiert die Entdeckung der infantilen Sexualität im Rahmen einer Dialektik von Ent- und Remythologisierung sowie von Befreiung und Zwang.
15:45–17:45 PANEL 2
Akteure, Organisationen, Behörden
Moderation: Christina Antenhofer, Innsbruck
Klara Meßner und Rodolfo Tomasi (Bozen)
Nach zwei Diktaturen zur Demokratie Erwachsenen-, Kinder-Jugendpsychiatrie in Südtirol
Der Artikel von E. Dietrich-Daum, M. Ralser 2012 „Die Psychiatrische Landschaft des historischen Tirol von 1830 bis zur Gegenwart - Ein Überblick", in welchem sie die Entwicklung der Psychiatrischen Dienste für Erwachsene in Tirol und Vorarlberg von 1830 bis zum Ersten Weltkrieg und dann bis 2011 in Tirol, Südtirol und Trentino, darstellen, dient als Basis, um Fragen aufzuwerfen, Korrekturen einzuführen und Inhalte zu integrieren. E. Dietrich-Daum skizziert 2017 in „Über die Grenze in die Psychiatrie. Südtiroler Kinder auf der Kinderbeobachtungsstation von Maria Nowak-Vogl in Innsbruck (1954-1987)“ die Anfänge der Kinder- und Jugend-Psychiatrie -psychotherapie in Südtirol. Die verschiedenen Anfänge der Betreuung von KJ mit Behinderung und/oder psychischen Störungen auf deutscher und italienischer Seite nach 1945 wurden nun erstmals zusammengetragen. Die explizite psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen begann 1992 mit der Ermächtigung per Landesregierungsbeschluss „für die Errichtung einer Stelle - Fachbereich Kinderneuropsychiatrie - in der Abteilung für Pädiatrie des Krankenhauses Bozen“. Auf dieser Stelle wurde eine breite Palette an kinder- jugendpsychiatrischer Tätigkeit nach dem Vorbild vom deutschsprachigen Mitteleuropa für das gesamte Südtirol inklusive Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit ohne zugrundeliegende spezifische Strukturen und ohne spezialisiertes Personal entfaltet. Die unterstützenden und hemmenden Kräfte - interethnisch und interdisziplinär - waren vielfältig. Aufgrund des späten Beginns mit spezialisiertem Personal, fehlender Tradition plus der Grenzsituation zwischen Italien und Österreich, zwei Staaten mit unterschiedlicher Geschwindigkeit in der Entwicklung bezüglich der Eigenständigkeit des Fachgebietes und unterschiedlicher Rezeption der UEMS-Vereinbarungen (Union Europèenne des Medicins Specialistes) kam es in Südtirol bei der Zuordnung des Fachgebietes zu einem Hin und Her zwischen den historischen Mutterfächern Pädiatrie und Erwachsenenpsychiatrie mit einem Intermezzo unter der Sanitätsdirektion und fachfremden Leitungen. Die in denselben Jahrzehnten im Umfeld der KJPP parallel sich entwickelnden Fachgebiete, Bildungsinstitutionen und Einrichtungen für Kinder, Jugendliche werden, auch mit Blick auf die Annäherungen und Entfernungen zwischen italienischer Gesetzgebung und Gesetzgebung im deutschen Sprachraum, dargestellt.
Elisabeth Dietrich-Daum (Innsbruck)
Die Innsbrucker Kinderbeobachtungsstation von Maria Nowak-Vogl (1947–1987). Projektbericht
Der Beitrag beschäftigt sich mit der Innsbrucker Kinderbeobachtungsstation, die zwischen 1954 und 1987 von der Psychiaterin und Heilpädagogin Maria Nowak-Vogl geleitet wurde. Diese im Panorama funktionsgleicher bzw. funktionsähnlicher Einrichtungen zur psychiatrischen, heilpädagogischen und klinischen Beobachtung von als erziehungsschwierig oder „verhaltensauffällig“ geltenden Kindern und Jugendlichen kann als erste Nachkriegsgründung in Österreich betrachtet werden. Zwischen 1948 und 1996 wurden hier über 3650 Kinder und Jugendliche untersucht, behandelt und begutachtet. 1980 geriet die Innsbrucker Beobachtungsstation zum ersten Mal in den Fokus öffentlicher Kritik. Ein im ORF ausgestrahlter Dokumentarfilm von Claus Gatterer und Kurt Langbein zeigte eine Reihe von Missständen auf, insbesondere die Verabreichung des Hormonpräparates Epiphysan, die Behandlung enuretischer Kinder mittels Klingelmatratze und allgemein, den repressiven Kontroll- und Erziehungsstil des Leitungspersonals.1987 ging Nowak-Vogl in Pension, die Station gab sich unter neuer Führung ein klinisches, im Bereich der Behandlung familientherapeutisch ausgerichtetes Profil, die Aufnahmezahlen und die Verweildauer gingen stark zurück. 2010 wurde das Geschehen an der Kinderbeobachtungsstation erneut – dieses Mal von Betroffenen und einem Innsbrucker Historiker – thematisiert, was die Tiroler Landesregierung unter dem Vorzeichen der virulenten Heimdebatten veranlasste, eine Anlaufstelle für Opferschutz einzurichten (zwischen 2010 und 2016 hatten sich dort 167 Betroffene gemeldet) und zwei Jahre später die Medizinische Universität motivierte, eine interdisziplinäre Fachgruppe mit der Untersuchung der Vorwürfe zu befassen. Letztere legte 2013 ihre Ergebnisse vor: https://www.i-med.ac.at/pr/ presse/2013/Bericht-Medizin-Historische-ExpertInnenkommission_2013.pdf. In diesem Bericht, der die formulierten Vorkommnisse und Missstände bestätigte, empfahl die Kommission eine weitere Untersuchung in Form eines Forschungsprojektes. Dieses sollte die Einrichtung selbst und das dort Geschehene anhand der nun erstmals zugänglich gemachten Krankenakten rekonstruieren, im Wesentlichen die Gruppe der Betroffenen sowie die Gruppe der handelnden Akteure (Eltern, Schule, Behörden) präziser fassen und die Behandlungspraxis – vor allem die Verabreichung des Hormonpräparates Epiphysan – genauer untersuchen. Mittels Befragung weiterer Zeitzeug_innen und einer Analyse der Gutachtenspraxis sollte, bevorzugt mit Blick auf Nowak-Vogls Unterbringungsempfehlungen, eine Einschätzung der Funktion der Kinderbeobachtungsstation im regionalen Fürsorgesystem vorgenommen und die Relevanz der gutachterlichen Beurteilungen für das weitere Leben der Kinderpatient_innen näher bestimmt werden. Letztendlich wurde angeregt, die Denk- und Handlungsmuster der Leiterin darzulegen und in die Diskurse der Nachkriegsjahrzehnte über Erziehungsziele und Jugendarbeit, Familienpolitik und Familialisierung der marginalisierten Schichten, Geschlechterordnungen und Sexualität in Beziehung zu setzen. Die Ergebnisse dieses unter Leitung von Michaela Ralser, Dirk Rupnow und der Vortragenden zwischen 2014 und 2016 durchgeführten Forschungsprojektes wurden am 22. Juni 2017 veröffentlicht: https://www.uibk.ac.at/iezw/forschungen-zur-kinderbeobachtungsstation/. Der Vortrag selbst wird sich auf drei Fragen konzentrieren: Wie setzt sich die Gruppe der zugewiesenen Kinder zusammen? Welche Akteursgruppen waren im Zuweisungsprozess involviert? Wie ist die faktische Wirkmacht der an der Kinderbeobachtungsstation verfassten Gutachten einzuschätzen?
Mirjam Janett (Basel)
Die „behördliche Sorge“ um das Kind. Kindswegnahmen in Basel von 1945 bis 1972
Mit der fortschreitenden Politisierung und Ökonomisierung der Gesundheit im 20. Jahrhundert rückten das Kind und sein Verhalten in den Fokus der staatlichen Behörden. In der Schweiz schufen die Kinderschutzbestimmungen des 1912 eingeführten Zivilgesetzbuchs die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Behörden, Kinder bei «Gefährdung» aus ihren Familien zu nehmen und an einem in ihren Augen geeigneten Ort unterzubringen. Waren es vorher eher armenrechtliche Motive, die zu einer Versorgung von Kindern und Jugendlichen führten, waren fortan hauptsächlich fürsorgerisch-prophylaktische Beweggründe ausschlaggebend. Obwohl die rechtlichen Bestimmungen zum Schutz des Kindes vorgesehen waren, dienten sie im Laufe des 20. Jahrhunderts vermehrt der Sanktion von gesellschaftlich nicht tolerierter Devianz. Verhaltensweisen, die mit den gesellschaftlichen Normen und Werten kollidierten, setzten die Betroffenen den Zugriffen von staatlichen Behörden aus; zudem wurde ihr Verhalten zum Gegenstand sowohl medizinischer als auch psychiatrischer Expertisen. Der Tagungsbeitrag behandelt den Kanton Basel-Stadt, der im nationalen Vergleich früh über eine professionalisierte Kinder- und Jugendfürsorge verfügte. Der Beitrag untersucht, wie die Akten der Vormundschaftsbehörde zwischen 1945 und 1972 die Kindsgesundheit adressierten und inwiefern diese – sowohl in ihrer psychischen als auch physischen Dimension – ausschlaggebend für eine Fremdplatzierung war. Die Behörde verfolgte mit der Fremdplatzierung in Heime und Erziehungsanstalten, aber auch in psychiatrische Kliniken das «biopolitische» Ziel, die Kinder einer hegemonialen Normalitätsvorgabe anzupassen und sie «gesellschaftsfähig» zu machen. Die Sorge um das Kind führte somit paradoxerweise zu systematischen Zugriffen auf die Kinder mit der Intention, ihr Verhalten pädagogisch-erzieherisch zu steuern. Diese Praxis verweist auf die Janusköpfigkeit der Kinder- und Jugendfürsorge im 20. Jahrhundert, die ihre Maßnahmen mit der pädagogischen Sorge um das Kind legitimierte, tatsächlich aber als Macht- und Herrschaftstechnologie diente.
Keber Katharina (Ljubljana)
Post WWI children healthcare in Central Slovenia as experienced by Angela Boškin, the first Slovenian home care nurse
The paper will address children healthcare in the first post- WWI decade in current Slovenia. At the time when school physicians have been returning from the military service and paediatricians have been becoming more active as well, the first Slovenian home care nurse Angela Boškin played a significant role in caring for infants and mothers as well as in the organisation and development of the home care service. By analysing her work, the paper will attempt to reconstruct the demanding post-war social conditions that required healthcare improvements for all children. Her work is distinguished by two key achievements. The establishment in 1919 of the first Slovenian counselling service for mothers and infants in Jesenice, which she achieved in cooperation with physicians. Thus Ms Boškin laid the foundation for the social and healthcare work of the home care nurses. In 1922, she established the children’s shelter in a rundown and overcrowded orphanage in Bohoričeva street in Ljubljana, which developed into the first childcare institution (Zavod za socialno higiensko zaščito dece) where Angela Boškin worked as the first professionally qualified nurse.
Freitag, 30. Juni 2017
09:00–10:15 PANEL 3
Konstellationen der Zeitzeug_innenschaft
Moderation: Michaela Ralser, Innsbruck
Christine Hartig und Sylvelyn Hähner-Rombach (Ulm und Stuttgart)
Institution, Zeitzeugen, Narration. Re-Konstruktionen der Innsbrucker Kinderbeobachtungsstation
Der Vortrag widmet sich den institutionellen, gesellschaftlichen und medialen Rahmungen von Zeitzeugenschaft am Beispiel der Innsbrucker Kinderbeobachtungsstation. Folgende Fragen stehen im Mittelpunkt: Woher kamen die Kinder, warum kamen sie auf die Kinderbeobachtungsstation, was haben sie dort erlebt? Wie können sie über das Erlebte sprechen? Welche wissenschaftlichen/populären Narrative entstehen? Die Verschränkung dieser Fragen bietet die Chance, mögliche Hemmnisse und Blindstellen sowohl in der Bereitschaft von ZeitzeugInnen über ihre Erlebnisse zu berichten als auch in der wissenschaftlichen wie gesellschaftlichen Aufarbeitung von Gewaltverhältnissen beispielhaft zu beleuchten.
Elisabeth Malleier (Wien)
Die Sorge, meine Akte und ich
Im geplanten Vortrag möchte ich einige grundsätzliche Überlegungen zur Diskussion stellen. Als Historikerin, ehemaliges „Kinderdorfkind“ und Tochter eines während der NS-Zeit als Jugendlicher in mehreren Gauerziehungsanstalten in Tirol und Vorarlberg internierten Vaters, möchte ich mich mit den Ambivalenzen in der Frage eines emanzipatorischen Anspruchs von Wissenschaft auseinandersetzen. Mit diesem sozusagen „dreifachen“ Blick, der eine Generationenfolge „vulnerabler Kindheiten“ umfasst, möchte ich der Frage nachgehen, wie genau die Trennung zwischen Jenen die „sprechen“ und Jenen die „besprochen werden“ funktioniert und mit welchen Mitteln die Distanz zwischen „WissenschafterIn“ und „Betroffenen“ aufrechterhalten wird. Diese Fragen und Machtdispositive sollen am Beispiel der Aktensuche unterschiedlichster Art während der Recherche zur Geschichte meiner Familie (siehe das Buch „Rabenmutterland“, AlphaBeta Verlag, 2016) reflektiert und in ihren Auswirkungen auf die Wahrnehmung der eigenen Geschichte analysiert werden.
10:15–11:00 KEYNOTE 2
Reinhard Sieder (Wien)
Sozialpolitische Emphase und erzieherische Gewalt. Wiens Fürsorgeerziehung (1910er–1970er Jahre)
Das sozialpolitische Engagement der Sozialdemokratie in Wien in den 1910er, 1920er und 1930er Jahren findet neue Objekte der Sozial- und Fürsorgepolitik: alleinstehenden Mütter und die Kinder der sozioökonomisch Schwachen. Aus der Auseinandersetzung mit ihnen entsteht die moderne öffentlich-städtische „Familienfürsorge“. Gerahmt und orientiert wird der Vorgang seit seinen Anfängen durch einen Meta-Diskurs: die Rassenhygiene. Ledige Frauen und uneheliche Kinder interessieren vor allem im Hinblick auf den „Volkskörper“. Eine Reihe von älteren und jüngeren Theorien tragen zur Anleitung der praktischen Fürsorge bei: die psychiatrische Theorie der progressiven Degeneration, die Psychopathologie Kochs, die Charakterlehre Kretschmers, eine frühe Milieutheorie. Diese Theorien legitimieren den Umgang der seit 1912 nach und nach eingerichteten Fürsorgeämter mit Eltern und Kindern und insbesondere die Kindesabnahme und Überstellung der Kinder in die sog. Gemeindepflege. In den aus der Monarchie übernommenen und in neu errichteten städtischen, kirchlichen und privaten Erziehungs- und Kinderheimen setzt sich eine Gewalterziehung fort, die dem offiziell verkündeten sozialdemokratischen Programm einer kompensatorischen „Nacherziehung“ zuwiderläuft. Mehrere Generationen von Kindern und Jugendlichen erleiden in den Institutionen der Fürsorgeerziehung bis herauf in die 1970er Jahre lebenslang wirkende Schäden und Behinderungen. Wissenschaften sind daran maßgeblich beteiligt: Heilpädagogische Ärzt*innen der Universitäts-Kinderklinik, Psycholog*innen der Universität Wien und Psycholog*innen des Wiener Jugendamtes führen Tests an Kindern und Jugendlichen durch, die vom Jugendamt an die Kinderübernahmestelle oder gleich in ein Erziehungsheim überstellt worden sind. Sie legitimieren die Abnahme von Kindern und ihre Überstellung in Erziehungsheime oder zu Pflegeeltern. Hingegen unternehmen sie keinen ernsthaften Versuch, die Praxis der Heimerziehung und der Pflegeeltern zu kontrollieren. Aus der Vermischung von christlich-pastoralen und rassenhygienischen Ideen formt sich die Leitidee, Armut und Kinderelend würden von Eltern und Kindern durch Sittenlosigkeit, vererbte Mängel und mangelnde Disziplin selber verschuldet. Dies öffnet den Weg für die ebenso rassenhygienisch begründeten medizinischen Experimente und Morde an Kindern und Jugendlichen im Gesundheits- und Fürsorgesystem des NS-Staates. In der Zweiten Republik werden die Strukturen der Fürsorgeerziehung baulich, ideologisch und praktisch reproduziert. In den Jugendämtern und in den Erziehungsheimen werden nach wenigen Monaten in großer Zahl leitende Beamte, Psycholog*innen, Fürsorgerinnen und Erzieher*innen aus dem NS-Staat wiedereingestellt. Ihre Erziehungsideologie und ihr Menschenbild verändern sich meist nur semantisch. Erst um 1970 entsteht parallel zur Kritik an der öffentlichen Psychiatrie auch eine Kritik der Fürsorgeerziehung. Sie führt in eine lange Reformphase, die mit der Schließung fast aller Erziehungsheime der Stadt und dem Aufbau einer neuen dezentralen Struktur um das Jahr 2000 vorläufig endet.
11:30–13:30 PANEL 4
Konstruktionen von Behinderung. Vom 19. Jahrhundert bis in die Zweite Republik
Moderation: Lisa Pfahl, Innsbruck
Irmtraut Sahmland (Marburg)
Die „Rettung der Cretinen“
Vermehrt seit 1850 fand eine intensive Auseinandersetzung über Cretinismus statt, eine Form geistiger Behinderung, die sowohl als epidemische wie auch als sporadische Form beobachtet wurde, über deren Ursachen man jedoch keinerlei gesicherte Erkenntnisse hatte. So war die Erkrankung auch nicht präzise abgrenzbar, sondern stand oftmals synonym für Idiotismus, Blödsinn oder Schwachsinn. Unterteilungen in Voll-, Halb- und Viertelcretine sollten die abgestuften Schweregrade markieren. Es war insbesondere der Arzt Guggenbühl, der auf dem Abendberg bei Interlaken in der Schweiz eine erste Heilanstalt für cretine Kinder einrichtete mit dem ambitionierten Ziel, deren als retardierte Entwicklung oder Hemmungsbildung verstandene geistige und körperliche Beeinträchtigungen durch geeignete Maßnahmen in stationärer Pflege ausgleichen und ihnen eine gute Prognose geben zu können. Der Abendberg erregte international großes Aufsehen, scheiterte jedoch letztlich, so dass die Anstalt um 1860 geschlossen wurde. Gleichwohl war dies die Initialzündung zur „Medikalisierung“ von Kindern und Jugendlichen mit zum Teil schwerwiegenden geistigen und körperlichen Beeinträchtigungen. In vielen Regionen wurden Anstrengungen unternommen, um das Vorkommen der Erkrankung zu erfassen, einerseits durch statistische Erhebungen, andererseits durch Feldforschungen reisender Ärzte. In Verbindung damit wurden Heil- und Pflegeanstalten für cretine und idiotische Kinder gefordert. Bis 1881 werden allein in Deutschland 32 solcher Anstalten aufgeführt, die sich in Trägerschaft, Größe und finanzieller Ausstattung sehr unterschieden. Das Interesse des Beitrags zielt auf die Rekonstruktion der Argumente, Intentionen und Strategien der unterschiedlichen Protagonisten in diesem Aktionsfeld. Die Diskussion wurde sowohl von Ärzten wie auch von Pädagogen und Theologen geführt; deren Blick auf die kranken Kinder und Jugendlichen erweist sich jeweils als sehr verschieden. Darüber hinaus geht es zwischen den verschiedenen Disziplinen um die Deutungsmacht über den Bedarf der kranken Kinder und die angemessene Form der Hilfsangebote sowie das Aushandeln von Interaktionsmöglichkeiten in den Anstalten.
Hemma Mayrhofer und Katja Geiger (Wien)
Verwahrung und Verdinglichung. Kinder mit Behinderungen am „Steinhof“ nach 1945
In zwei Jahren Forschungsarbeit untersuchte das IRKS im Auftrag des Wiener KAV Pavillon 15 „Am Steinhof“. Anhand dieser empirischen Studie wird im Tagungsbeitrag exemplarisch rekonstruiert, wie die geschlossene Psychiatrie bis in die 1980er Jahre zur gesellschaftlichen „Entsorgung“ von als „bildungsunfähig“, „verhaltensauffällig“ und für medizinische Forschung uninteressant eingestuften Kindern genutzt wurde. Die Ergebnisse machen auf breiter Datenbasis sichtbar, wie die auf Pavillon 15 untergebrachten Kinder einem weitgehenden Verdinglichungsprozess ausgesetzt waren, für den die vorherrschenden medizinisch-psychiatrischen Deutungsschemata das entsprechende Überzeugungssystem bereitstellten. Sie waren verknüpft mit einer sozialen Praxis, die von Distanzierungs- und Entpersönlichungsstrategien des Personals gegenüber den Kindern geprägt war. Letztere wurden tendenziell lediglich als empfindungslose Objekte wahrgenommen, ihnen widerfuhr eine umfassende Vernachlässigung bzw. multiple Deprivation. Als zentrale Entlastungsstrategie des Personals zeigt sich der großzügige Einsatz freiheitsbeschränkender Mittel: Neben sedierenden Medikamenten kamen physische Beschränkungen in Form von Netzbetten, Zwangsjacken und anderen Fixierungen in großem Ausmaß zur Anwendung, um sich eine soziale Betreuung weitgehend zu ersparen und einen „störungsfreien“ Stationsalltag zu gewährleisten. Massiv gefördert wurden diese gewalttätigen Praktiken durch eine völlig unzureichende Personal- und Ressourcenausstattung und eine daraus resultierende permanente Überforderung der Pflegekräfte. Im Beitrag soll das Gewaltsystem auf Pavillon 15 anhand ausgewählter Fallrekonstruktionen zu einst dort untergebrachten Kindern verdeutlicht werden. Dabei wird neben der Unterbringung auf Pavillon 15 auch der Weg auf den „Steinhof“ mitberücksichtigt, an dem u. a. die „Abschiebepolitiken“ anderer Institutionen und die Definitionsmacht von Sachverständigengutachten sichtbar werden.
Dominique Karner (Innsbruck)
Kinder in der Psychiatrie. Hörstumme Kinder im Landes-Nervenkrankenhaus Hall i. Tirol
Im Zentrum des Interesses stehen PatientInnen im Kindes- und Jugendalter (3-16 Jahre), die zwischen 1945 und 1955 in das Landes-Nervenkrankenhaus Hall i. Tirol eingewiesen wurden. Der Beitrag dieser Arbeit besteht einerseits darin, dass über eine quantitative Analyse Basisdaten der zu behandelten PatientInnen erfasst und für weitere Forschungen zur Kinder- und Jugendpsychiatrie in Hall zur Verfügung gestellt werden. Andererseits wird mit dem zweiten Teil der Masterarbeit der Versuch unternommen, eine Sozialgeschichte der Psychopathie in Tirol nachzuzeichnen. Fragen, die unter zu Hilfenahme der Kranken- und Patientenakten aus dem Historischen Archiv der Psychiatrie Hall behandelt wurden, betreffen u.a. die Einweisungsgründe, die Wege nach und aus Hall, die Aufenthaltsdauer, die Diagnostik sowie die Behandlung der Kinder in der Anstalt. In der Masterarbeit wurden die in Hall untergebrachten PatientInnen, unter Berücksichtigung des sich zu jener Zeit in Gebrauch befindenden Würzburger Diagnoseschlüssels (1933), in verschiedene Gruppen geteilt: Hörstumme Kinder, die nicht nervenkrank und frei von psychischen Abweichungen waren, Epileptiker, „psychopathische Kinder“, PatientInnen mit angeborenen und früherworbenen „Schwachsinnszuständen“, „Nervenkranke“ ohne psychische Störungen sowie Kinder mit progressiver Paralyse oder Schizophrenie (schizophrener Formenkreis). Da sich die Arbeit im zweiten Abschnitt mit der Diagnose „Psychopathie“ auseinandersetzt, steht vor allem die Frage nach dem sozialen Milieu im Vordergrund sowie die Charakteristika, die für die Diagnose „Psychopathie“ sprechen. Im Vortrag selbst wird jedoch die Gruppe der hörstummen Kinder den Fokus bilden, nachdem die Ergebnisse der empirischen Studie über die Kinder im Landes-Nervenkrankenhaus Hall in Tirol (1945-1955) zu Beginn der Präsentation vorgestellt wurden.
Katharina Fürholzer (Ulm)
„Eine Explosion der Sprache“. Zur Filmbiographie der taubblinden Marie Heurtin
Ist Hellen Kellers außergewöhnliches Schicksal noch weitgehend bekannt, stand die Lebensgeschichte der taubblinden Marie Heurtin (1885–1921) bislang nur in den Marginalen öffentlicher Aufmerksamkeit. Über die biographische Verfilmung Marie Heurtin (FR 2014, Reg.: Jean-Pierre Améris; deutscher Titel: Die Sprache des Herzens) wurde das Leben der Französin nun einem breiteren Publikum nahegebracht. Der Film erzählt den Beginn der ‚Heilsgeschichte‘ der jungen Marie, die, taub und blind geboren, zunächst bei ihren Eltern aufwächst. Gegen den ärztlichen Rat, das Mädchen in einer psychiatrischen Anstalt unterzubringen, geben die Eltern das Kind mit zehn Jahren in die Obhut des von Nonnen geführten Institut Larnay, das sich bis heute der Ausbildung behinderter Kinder verschreibt. Zunächst stark überfordert mit der Welt des mehrfach behinderten, sich Regeln und Normen mit äußerster Willens- und Körperkraft widersetzenden Mädchens, gelingt es einer der Ordensschwestern nach monatelangen Bemühungen, Marie an soziokulturelle Normen (Kleidung, Hygiene, Verhalten etc.) anzupassen und ihr in einer Art Sprachtherapie einen Weg zu Kommunikation und Interaktion zu ermöglichen. Im Interesse meines Beitrags steht sowohl die medizingeschichtliche als auch ästhetisch-narrative Ebene des Films. Der Schwerpunkt liegt dabei auf folgenden Fragen: In welcher Weise wird die Annahme des Instituts um Leben, Erziehung und Unterrichtung (mehrfach) behinderter Kinder als Gegenentwurf zu medizinischer Sorge und Versorgung konzipiert? Wie verhandelt der Film das konstante Kräftemessen des (mehrfach) behinderten Kindes mit seiner Umgebung, seine Auflehnung gegen die Heteronomie der Welt der Gesunden? Nicht zuletzt ist zu diskutieren, welche Motivfunktion Marie Heurtins Behinderung im künstlerischen Medium des Films erfüllt: Welche ästhetisch-narrative Bedeutung kommt also ihrer Entwicklung vom ungezähmten „wilden kleinen Tier“ hin zu einem konventionalisierten Normen entsprechenden Mitglied der Gesellschaft zu?
15:00–16:00 PANEL 5
Konstruktionen „psychopathischer“ Kindheiten in Kaiserreich und Weimarer Republik
Moderation: Maria A. Wolf, Innsbruck
Nina Balcar (Bremen)
Die psychiatrische und pädagogische Konstruktion des „psychopathischen“ Kindes um 1900
Im Zentrum meines Beitrages steht der interdisziplinäre Diskurs von Psychiatern und Pädagogen über das „schwer erziehbare“ Schulkind, das sie um die Jahrhundertwende immer häufiger als „psychopathisch“ einstuften. Die diffuse „Modediagnose“ eignet sich besonders gut als Analysekategorie, anhand derer die zeitgenössischen bürgerlichen Sorgen um und Erwartungen an das Kind zum Ausdruck kommen. Die „psychopathischen“ Schulkinder erschienen den „Kinderseelenforschern“ (Wilhelm Ament) gleichermaßen gefährdet als auch gefährlich zu sein, sodass sie eine besondere Beschulung oder gar Therapie in speziellen Anstalten für erforderlich hielten. Die erste Anstalt für „schwer erziehbare“ – später dann „psychopathische“ – Kinder war die private Heilerziehungsanstalt auf der Sophienhöhe bei Jena, die der ambitionierte Volksschullehrer Johannes Trüper mit Unterstützung durch die Jenenser Psychiater Otto Binswanger und Theodor Ziehen sowie den reichsweit einzigen Pädagogikprofessor Wilhelm Rein im Jahre 1890 gründete. Die Sophienhöhe war die weltweit erste interdisziplinäre Institution, deren heilpädagogisches Programm auf die „Behandlung“ „psychopathischer“ Zöglinge abzielte und somit einen wissenschaftlichen Anspruch erhob. Zahlreiche BesucherInnen hospitierten auf der Sophienhöhe und gründeten ähnliche Anstalten im In- und Ausland. Die Sophienhöhe galt, obwohl sie ihre Klientel ausschließlich aus wohlhabenden Gesellschaftskreisen rekrutierte, als Grundstein der späteren schichtenübergreifenden Psychopathenfürsorge. Die Anstaltsärzte und Pioniere der Kinderpsychiatrie Theodor Ziehen und Wilhelm Strohmayer nutzten die Zöglinge als „Beobachtungsmaterial“, so der zeitgenössische Sprachgebrauch, für ihre wissenschaftlichen Fallstudien über das „psychopathische“ Kind. In dem Beitrag werde ich erstens die Genese des Psychopathiekonzepts nachzeichnen, zweitens aufzeigen, welche Vorstellungen von sozialer Norm und Devianz – psychischer Gesundheit und Krankheit – sich hinter dem Psychopathiekonzept verbargen resp. erst durch dieses hervorgebracht wurden. Dabei sollen drittens Unterschiede und Gemeinsamkeiten der pädagogischen und psychiatrischen Wissensordnungen verglichen werden.
Thomas Beddies (Berlin)
Anlage oder Erziehung? „Nervöse“ und „psychopathische“ Kinder in der Weimarer Republik
Im Ersten Weltkrieg wurden in Deutschland neben Risiken für die körperliche Gesundheit der Kinder auch Probleme im mentalen und sozialen Bereich offenbar, um deren Bewältigung als „Kriegsfolgelasten“ man sich nach 1918 verstärkt bemühte. Die Notwendigkeit erweiterter und spezifizierter Behandlung und Betreuung auffälliger Kinder fand in ihren Ausdruck nicht nur in der (Heil-)Pädagogik, Fürsorge und Rechtsprechung, sondern auch in der Psychiatrie, in der Kinder mit eigenen Diagnosen und Therapieerfordernissen anerkannt wurden. Die Suche nach den Bedingungsfaktoren beobachteter Symptome wurde vor allem durch die Diskussion über Einflüsse und Wechselwirkungen von „Anlage“ und „Milieu“ bestimmt. Diese „Anlage-Umwelt-Debatte“ soll am Beispiel eines Richtungsstreits zwischen der Psychiatrischen und Nervenklinik der Berliner Charité und der Leipziger Universitätsnervenklinik am Ende der Weimarer Republik nachgezeichnet werden. Die Auseinandersetzungen zwischen R. v. d. Leyen und F. Kramer (Berlin) auf der einen und P. Schröder und H. Heinze (Leipzig) auf der anderen Seite zeigen paradigmatisch Verlaufslinien der Diskussion und werfen auch ein Schlaglicht auf die Verhältnisse im Übergang zur NS-Diktatur. Auch in der Jugendfürsorge führte die Finanzkrise dazu, dass erbbiologische Konzepte, die Kostensenkungen für die Betreuung „Minderwertiger“ versprachen, zunehmend an Bedeutung gewannen. In Bezug auf verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche drückte sich diese Tendenz in der Debatte darüber aus, ob „Schwerst-“ bzw. „Unerziehbare“ überhaupt einen Platz in der Fürsorgeerziehung bekommen sollten. Die Annahme, dass als Ursache für deviantes Verhalten vorrangig vererbte Defekte zu gelten hätten, reduzierte die Lösungsansätze für solche Fälle. Statt aufwändiger Erziehungsprogramme wurde als „vernünftige“ Option ihre Verwahrung in (Arbeits-)Anstalten zum „Schutz der Gesellschaft“ vorgeschlagen. Dieser Präferenz der „Anlage“ als Verursacherin abweichenden Verhaltens wurde 1933/34 von Kramer und v. d. Leyen heftig widersprochen. Beide vertraten einen integrativen Ansatz, der von der unauflöslichen Verbindung der Anlage- und Milieu-Einflüsse ausging. Der Ausgang der Kontroverse wurde letztlich nicht mehr von dem epistemologischen Gehalt der sich gegenüberstehenden Theorien bestimmt, sondern von den politischen Rahmenbedingungen im NS-Deutschland. Hier erwies sich die Anschlussfähigkeit des Leipziger Modells an die rassistischen sozial- und gesundheitspolitischen Zielsetzungen als vorteilhafter.
16:30–18:00 PANEL 6
Diagnoseregime als Katalysatoren des Kinderschutzes, der Fürsorgeerziehung und der Familienarbeit
Moderation: Marina Hilber, Innsbruck
Felicitas Söhner (Düsseldorf)
Diagnostik als Impulsgeber der Medikalisierung des Kinderschutzes
Kinder und Heranwachsende sind eine vulnerable Bevölkerungsgruppe, deren Schutz vor Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung in unserer Gesellschaft als zentrales Gut und moralische Verpflichtung verstanden wird (Vgl. Fegert et al., 2010, S.18). Das Verständnis eines moralischen Gebots, Kinder zu schützen, ist keineswegs ein Phänomen der Moderne. Kinderschutz, und damit Misshandlung und Missbrauch von Kindern, sind als Gegenstand der Medizin ein relativ junges Phänomen. Zwar ist die Problematik keine Erscheinung der modernen Gesellschaft, doch das Verständnis einer Zuständigkeit von Medizin für den Kinderschutz hat sich erst im 19. Jahrhundert entwickelt. Vorher wurde es vielmehr als soziales Problem verstanden. Zunächst war es vor allem die Gerichtsmedizin, die sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts mit Gewalt gegen Kinder unter medizinischen Gesichtspunkten befasste. Die moderne, institutionalisierte Ausprägung des Kinderschutzes fand ihre Anfänge mit der Gründung verschiedener lokaler Gesellschaften, die sich für Kinderrechte einsetzten. Die historische Entwicklung der Medikalisierung des Kinderschutzes unterlag einem konstanten Wandel. Dieser drückt sich aus in einer zunehmenden Verbreiterung der Debatte und einer zunehmenden Differenzierung innerhalb des Fachbereiches Medizin. Dieser Prozess baut auf dem wachsenden Wissen über Missbrauch und zunehmenden diagnostischen Möglichkeiten auf. Die fachliche Auseinandersetzung stand immer in Zusammenhang mit dem medialen, öffentlichen Diskurs, der bis in die späten 1960er Jahre hinein geprägt war von einer Tabuisierung der Offensichtlichkeit und ihrer moralischen Folgen. Diese Haltung änderte sich stark durch die Publikation Henry Kempes, dessen Diagnostik einen sichtbaren Beweis erbrachte, der in seiner Prägnanz und Eindeutigkeit nicht mehr verdrängt oder umgedeutet werden konnte. Durch die Arbeit des Pädiaters Henry C. Kempe und seines ‚Child Protection Teams‘ in Denver setzte ein Paradigmenwechsel im medizinischen Kinderschutz ein. Kempes Beitrag initiierte eine fachliche Debatte und lässt sich als Katalysator der medizinischen Auseinandersetzung mit der Thematik verstehen (Vgl. Kruse, 1993, S.5). Dieser Beitrag untersucht, wie die Etablierung neuer Diagnosemöglichkeiten durch die technische Entwicklung, die sozialpolitische Gemengelage sowie Phasen verstärkter medialer Aufmerksamkeit eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung von Kindern ermöglicht und unterstützt haben. Die dazu angeführten Beispiele stellen die Komplexität der Geschichte des medizinischen Kinderschutzes dar im Hinblick auf die gesellschaftlichen Akteure, Fragen der Diagnostik, die öffentliche Wahrnehmung und politische Interventionsstrategien.
Patrick Müller (Kassel)
Gutachterliche Diagnosen und die Verwaltung des Falles in der Fürsorgeerziehung
Die Einweisung von Kindern und Jugendlichen in Erziehungsheime im Kontext der Fürsorgeerziehung der 1950er bis 1970er Jahre in Deutschland, erfolgte im Zusammenspiel der Konstruktion des sozialen Problems der Verwahrlosung und eines sich ausbildenden Wohlfahrtsstaates. „Gefährdete“ und „gefährliche“ Kinder und Jugendliche wurden dabei in teilweise geschlossenen Heimen einer außerfamiliären Erziehung zugeführt. Spätestens mit der institutionellen Unterbringung in einem Heim beginnt das Erstellen und fortlaufende Führen einer Fallakte im Rahmen einer totalen Institution (Goffman 1973). In vielen Fallakten sind psychologische und psychiatrische Gutachten zentrale Dokumente, in denen Diagnosen und Handlungsempfehlungen zum Umgang mit einer untergebrachten Person formuliert werden. Auf Grundlage der empirischen Daten aus dem laufenden DFG-Projekt „Die Verwaltung des Falles. Die Rekonstruktion von institutionellen Handlungsvollzügen“ an der Universität Kassel (Leitung: Mechthild Bereswill) wendet sich der geplante Vortrag diesen Gutachten und ihrer Wirkung bei Entscheidungen über die Erziehung und Ausbildung einer Person in einem Heim zu. Anhand ausgewählter Fälle sollen in einer vergleichenden Perspektive Handlungsmuster dargestellt werden, die den Umgang der Verwaltungsakteur*innen mit den Diagnosen der Gutachten im Fallverlauf zeigen.
Kristina Popova (Blagoevgrad)
’Better Baby’ Contests in the 1930-es and the Visualization of the Children Health
The “Better Baby Contests” started in the USA at the beginning of the 20th century. These competitions were local initiatives among other biopolitical inventions to improve children’s health and to educate mothers. In the 1920s such “Better Baby Contests” started also in Balkan towns as the struggle for hygiene, health, cleanness, mother’s enlightenment and modern children care became stronger. The “Better Baby Contests” spread the activities of the new opened local children health centers and the work of the trained public health nurses. The paper is based on archival documents of some competitions in the 1930es. It presents the process of organization : the introduction of new techniques of control over families and documentation: the introduction of regular home visits and individual card indexes, where homes and living conditions were described and evaluated, different forms to educate and to stimulate mothers to follow doctor’s and nurses’ advises, rules and criteria of participation and classification in terms of “clean” and “dirty”. The local and central media discourse as well as the images of babies and mothers are also sources for the visualization of children in the context of the popular health promotion publications in the 1930-es. The paper tries to reveal the reception and interpretation of the competitions of the different agents: public health nurses, mothers, educators, politicians, journalists. The local children health centers, where the public health nurses were the main agents of the organization of the competitions, aimed to reform the child rearing and to improve their control over the living conditions in the visited homes. They aimed to establish modern hygiene norms using the competitions as well as different forms of social support. In the central media the “Better Baby Contests” were presented in a different way. They were used in the eugenic discourse to present the images of “healthy” babies as well as to stress the danger of birth rate decline in the late 1930-es.
Samstag, 1. Juli 2017
09:00–09:45 KEYNOTE 3
Sylvia Wagner (Düsseldorf)
Arzeimittelstudien an Heimkindern in der BRD in den Jahren von 1949–1980
Nachdem in den letzten Jahren über Arzneimittelstudien an Heimkindern in der Schweiz berichtet wurde und das Thema dort inzwischen wissenschaftlich aufgearbeitet wird, ist nun bekannt, dass es solche Forschungstätigkeit auch an Heimkindern in der BRD bis in die 1970er Jahre gegeben hat. Erste Hinweise auf Studien fanden sich in medizinischen Fachzeitschriften, in denen die Ergebnisse der Untersuchungen publiziert wurden, wobei die Versuchspersonen klar als Heimkinder benannt wurden. Die geprüften Substanzen sind den Gruppen der Psychopharmaka, Impfstoffe und triebdämpfenden Mittel zuzuordnen. Die Prüfung von Psychopharmaka betrifft vor allem Neuroleptika. Diese Präparate sind besonders in Einrichtungen für Behinderte sowie in Kinder- und Jugendpsychiatrien in großem Umfang eingesetzt worden. Dabei dienten sie offensichtlich in erster Linie der Sedierung der Bewohner, die „notwendig“ war, um den ungestörten Ablauf in den Einrichtungen zu gewährleisten. Die Studien, die den Präparaten einen positiven Effekt auf die „pädagogische Angriffsfläche“ der Kinder bescheinigten, sollten offenbar den großflächigen Einsatz der Substanzen rechtfertigen. Dem ungestörten Ablauf in den Einrichtungen dienten augenscheinlich auch der Einsatz und die Prüfung von triebdämpfenden Präparaten wie dem Antiandrogen Cyproteronacetat. Der Prüfung von Impfstoffen lag sicherlich eine ganz andere Motivation zugrunde. Hier ging es nicht um den ungestörten Ablauf in einer konkreten Einrichtung, sondern die Entwicklung der Schutzstoffe, vor allem gegen Poliomyelitis, lag im Interesse der Regierung und der Bevölkerung. In keinem Fall konnte eine Einwilligung der Eltern oder gesetzlichen Vertreter der Kinder gefunden werden. Zum Teil zeigt sich bei den Vorgängen eine Kontinuität von Verantwortungsträgern aus der Zeit des Nationalsozialismus. Eine wichtige Frage, die es zu klären gilt ist die, warum das Thema so lange keine Beachtung fand.
09:45–10:45 PANEL 7
Medikamentierung in kinderpsychiatrischen Einrichtungen nach 1945
Moderation: Elisabeth Dietrich-Daum, Innsbruck
Ina Friedmann (Innsbruck)
Die Verabreichung des Hormonpräparates Epiphysan (1952-1980) durch Maria Nowak-Vogl
Die Heilpädagogin und Kinderpsychiaterin Maria Nowak-Vogl leitete die Kinderbeobachtungsstation des A.ö. Landeskrankenhauses Innsbruck von 1954, dem Jahr der offiziellen Gründung, bis zu ihrer Pensionierung 1987. Die Kinderbeobachtungsstation war aus dem 1947 eingerichteten „Kinderzimmer“ an der Psychiatrischen Frauenstation der Psychiatrisch-Neurologischen Universitätsklinik hervorgegangen, wo Nowak-Vogl bereits 1952 begonnen hatte, minderjährigen PatientInnen das Hormonpräparat Epiphysan zur Bekämpfung von (vermeintlichem) sexuellen Fehlverhalten durch Injektionen zu verabreichen. Nowak-Vogl, die dieses Präparat durch beinahe 30 Jahre hindurch bei Kindern und Jugendlichen zwischen sechs und 16 Jahren anwendete, konnte zu Beginn ihrer Versuche auf keinerlei Erfahrungswerte hinsichtlich der Behandlung von Minderjährigen zurückgreifen. Dass bis 1957 nach ihrer eigenen Angabe bereits 32 PatientInnen von ihren Epiphysan-Versuchen betroffen waren, zeugt nicht allein von einer an der Kinderbeobachtungsstation durchgeführten Versuchsreihe, sondern zugleich von dem ausgeprägten Wunsch im damaligen Fürsorgesystem nach einem zuverlässigen Schutz vor kindlicher und jugendlicher Sexualität. Die Dimension des Eingriffs in die Körper der betroffenen PatientInnen war beträchtlich und geschah meist ohne Information der Minderjährigen oder deren (Pflege-)Eltern. Allein das Jugendamt wurde im Fall einer Vormundschaft einbezogen. Nowak-Vogls „Auswahlkriterien“ der PatientInnen, die ihrer Ansicht nach mit Epiphysan zu behandeln waren, können auf Basis von Krankenakten und Publikationen ebenso nachvollzogen werden, wie die konkreten Gründe, die zu dieser medikamentösen Bekämpfung unerwünschter Sexualität führten. Darüber hinaus nahmen bereits wenige Jahre nach Einführung der Hormonbehandlung an der Kinderbeobachtungsstation regionale Einrichtungen der Kinder- und Jugendfürsorge diese Praxis in ihr Maßnahmenrepertoire auf und forderten diese Medikation in der Folge eigeninitiativ für manche der unter ihrer Obhut stehenden Minderjährigen. In den bisher bekannten Fällen war Nowak-Vogl stets als „Expertin“ auf diesem Gebiet involviert.
Ursina Klauser (Zürich)
„Ein durchaus erfolgreiches Unternehmen“. Kinderpsychiatrie in Münsterlingen, 1950–1980
Das Ambulatorium der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen bildete bis in die frühen 1980er Jahre das Zentrum der kinderpsychiatrischen Versorgung im Ostschweizer Kanton Thurgau. Im Münsterlinger Ambulatorium, das anfänglich klar auf die psychiatrische Versorgung Erwachsener ausgerichtet war, wurden ab der Mitte des 20. Jahrhunderts zunehmend auch Kinder psychiatrisch abgeklärt und behandelt. Betrug deren Zahl in den späten 1930er Jahren noch wenig mehr als ein Dutzend, so war im Jahresbericht der Klinik für 1968 bereits von nahezu 700 Kindern die Rede, die jährlich in Münsterlingen untersucht würden. Diese Entwicklung wirft eine Reihe von Fragen auf: Wie kam es, dass die Zahl der psychiatrischen Abklärungen bei Kindern über wenige Jahrzehnte derart rasant anstieg? Was führte dazu, dass ein Kind in den Fokus der Psychiatrie kam und wie gestaltete sich die kinderpsychiatrische Abklärungs- und Behandlungspraxis? Der Beitrag beleuchtet diese Fragen mit Blick auf das spezifische institutionelle Setting des Münsterlinger Ambulatoriums und diskutiert die wachsende Bedeutung der Kinderpsychiatrie im Kontext der psychopharmakologischen Wende. Er zeigt auf, dass die Behandlung von Kindern an der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen von den späten fünfziger bis in die frühen achtziger Jahre stark medikamentös geprägt war – und dass dieser Behandlungsansatz in enger Wechselwirkung mit der Figur des depressiven Kindes stand.
11:15–12:45 PANEL 8
Landschaften und Räume medikalisierter Kindheit
Moderation: Elisabeth Lobenwein, Klagenfurt
Michaela Ralser (Innsbruck)
Heilpädagogische Landschaften. Schwellenräume zwischen Medizin und Pädagogik
Mit Ausnahme von Wien, wo eine frühe heilpädagogische Institutionenbildung schon 1911 einsetzt, entstehen in unmittelbar zeitlicher Folge zur Errichtung der Innsbrucker Kinderbeobachtungsstation im Jahr 1954 eine Reihe funktionsgleicher Einrichtungen in ganz Österreich. Parallel zur Intensivierung der Heimerziehung in den beiden Nachkriegsjahrzehnten – nie zuvor und nie wieder waren derart viele Kinder in Erziehungsheimen untergebracht – etablierte sich ein österreichweites Netz von Heilpädagogischen Ambulatorien, Beratungsstellen, stationären Einrichtungen und Kinderbeobachtungen. Welchen Namen sie auch trugen – es handelte sich durchwegs um Einrichtungen, die innerhalb der jeweiligen Region – wie schon das Innsbrucker Beispiel zeigt – eine Monopolstellung hinsichtlich der Beurteilung und „Verteilung“ von Kindern und Jugendlichen erreichten, die entweder in den Fokus der Fürsorge gerückt waren oder von Schulen, ÄrztInnen und Eltern – immerhin 60 % der Zugewiesenen – als erziehungsschwierig und verhaltensauffällig angesehen wurden und auf diesem Weg in eine dieser neuen mediko-pädagogischen Orte der langen 50er Jahre zur Begutachtung und Behandlung gelangten. Alle Einrichtungen standen – ein österreichisches Spezifikum – unter ärztlicher Leitung: Ihre Leitungsfiguren waren Kinderpsychiaterinnen, Neurologinnen oder Pädiater. Sie alle verband eine Bildungs- oder Berufssozialisation im Nationalsozialismus und eine Verwurzelung im diagnostischen Inventar der Jahrhundertwendepsychiatrie, welche begonnen hatte, soziale Devianz als soziale Pathologie zu deuten. Für Österreich gilt, dass die Psychiatrie bis in die 1960er Jahre im Wesentlichen dem naturwissenschaftlichen Paradigma verpflichtet war und darin vor allem erbbiologisch und artungstheoretisch argumentierte. Auch die österreichische Heil- und Sonderpädagogik ist wie die deutsche mehrheitlich klinisch orientiert: sie setzte lange auf die Medizin als Erklärungsmodell für kindliche Abweichung und jugendliche Verhaltensauffälligkeit. Sie favorisierte lange eine exkludierende Sonderpädagogik und ermöglichte der Kinderpsychiatrie und Pädiatrie die Ausdehnung ihres Deutungsanspruchs ins Feld der Pädagogik. Gemeinsam nun lieferte die mediko-pädagogische Expertise dieser beiden Wissensgebiete das Passpartout für den unbestimmten Rechtsbegriff der Verwahrlosung. Die als erziehungsverwahrlost bezeichneten Kinder und Jugendlichen waren nun einer weiteren Zumutung ausgesetzt: ihrer vermeintlich unzulänglichen Natur, die nun als krankhaft deviant, als anlagebedingt deformiert und prognostisch kriminell gedeutet wurde. Der Vortrag versucht die longue durée der medikalen Umklammerung der um 1900 einsetzenden neuen Sorge um das Kind am Beispiel der Fürsorgeerziehung in Österreich zu rekonstruieren, den Beitrag der Kinderbeobachtungen daran zu ermessen – schließlich waren sie angetreten, das Feld der Fürsorge zu professionalisieren und den Entscheidungsvorgängen und Maßnahmenempfehlungen zur öffentlichen Ersatzerziehung eine psychiatrisch-heilerzieherisch informierte, wissenschaftliche Grundlage zu verschaffen – und zuletzt einzuschätzen, welchen Anteil letztere an der bis in die 1980er Jahre anhaltenden medikal orientierten Erziehungs- und Behindertenhilfe hatten.
Nora Bischoff (Berlin)
Das „enfant vagabond“ als Beispiel medikaler Deutungsmuster im pädagogischen Kontext
Das „Davonlaufen“ von Kindern und Jugendlichen gehörte zu jenen problematisierten Verhaltensweisen, die eine Irritation der bürgerlichen Ordnung darstellten und auf die mit Politiken der Einhegung reagiert wurde. „Die hervorstechendste Eigenart verwahrloster Knaben ist das Vagieren“ hieß es 1911 zum Stichwort „Verwahrlosung“ im Enzyklopädischen Handbuch der Pädagogik. Als mögliche Ursachen wurden erstens die „pathologische Steigerung und Verwilderung des Freiheitsgefühls“, zweitens „krankhafte, psychopathische Zustände (Epilepsie, Zwangsangst)“ sowie drittens die „sog. ‚Schulangst‘ überbürdeter Kinder“ angeführt. Bei Mädchen hingegen zeige sich die Verwahrlosung im Wesentlichen in „sexueller Erregbarkeit und Ausschreitungen“, weshalb das Vagabundieren bei ihnen auf die Erfüllung eines vermeintlich fehlgeleiteten oder übersteigerten Geschlechtstriebs zurückzuführen sei. Hier wird deutlich, dass sich zum Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur ein geschlechtlich codiertes Verwahrlosungsnarrativ herausgebildet hatte, sondern auch eine medikale Deutung abweichenden Verhaltens vorherrschend war. So entwickelte die Psychiatrie im frühen 20. Jahrhundert – eingebettet in die Forschungsdiskurse zur „Verwahrlosung“ sowie über den „Wandertrieb“ – eine Taxonomie dieses „enfant vagabond“ (Guy Néron, 1928). Deren Wirkmächtigkeit ergab sich allerdings nicht nur aus den Bestrebungen der Psychiatrie, sich als eine gesellschaftliche Leitwissenschaft zu etablieren, sondern auch aus der Bereitschaft der Pädagogik, die medikale Deutung sozialen Verhaltens vorrangig zu beachten. Sozialwissenschaftliche Erklärungen mussten bis ins späte 20. Jahrhundert meist weit dahinter zurückstehen. Selbst wenn das soziale Umfeld als bedeutsam anerkannt wurde, blieb der Fokus auf die (als defizitär verdächtigte) Persönlichkeit des „verwahrlosten“ Kindes gerichtet, wenn es darum ging, die Ursachen des Weglaufens oder „Herumtreibens“ zu ergründen. Wohl eigneten sich Fürsorge und Pädagogik die medikale Sichtweise bei der ‚Diagnose‘ an, welche abweichendes Verhalten in der Tendenz pathologisierte. Jedoch setzten sie bei der ‚Therapie‘ auf pädagogische Mittel: Als der angemessene Ort, um eine Änderung des Verhaltens herbeizuführen, galt in den meisten Fällen nicht die Psychiatrie, sondern die Besserungsanstalt bzw. das Erziehungsheim. Ihre konzeptionelle Anschlussstelle zur Psychiatrie fand die Anstaltspädagogik in einem Erziehungskonzept, das im 19. Jahrhundert unter den Begriffen „Regierung“ und „Zucht“ herausgearbeitet worden war und auf die „sittliche Entwicklung der Persönlichkeit“ abzielte. Die daraus abgeleiteten pädagogischen Leitlinien waren u.a. Beseitigung der Störung der Ordnung, Gewöhnung, Belohnung und Strafe. Über die „Grenzen der Erziehbarkeit“ (Villinger, 1928) entschied bis in die 1970er Jahre im Zweifelsfall die Psychiatrie. Im Vortrag soll die longue durée des medikalen Deutungsmusters des „Davonlaufens“ sowie der darauf gerichteten pädagogischen Praktiken zum Einen anhand der einschlägigen Fachpublikationen, zum Anderen im Spiegel der Tiroler und Vorarlberger Jugendfürsorge in den Blick genommen werden.
Ulrich Leitner (Innsbruck)
Medikalisierte Kindheitsräume. Raumentwürfe und Raumerfahrungen im mediko-pädagogischen Feld
Mitte der 1950er Jahre wurde das Erziehungsheim für schulpflichtige Mädchen in Kramsach-Mariatal im Tiroler Unterland umgebaut, das 1858 als Waisenhaus der Barmherzigen Schwestern entstanden war. Den kostenintensiven Umbauplan und die damit verbundenen langwierigen Debatten belegt Verwaltungsschriftgut, das im Tiroler Landesarchiv archiviert ist. Die Landesregierung zog als Träger der Einrichtung Maria Nowak-Vogl zu Rate. Die Innsbrucker Kinderpsychiaterin entwarf in einer gutachterlichen Stellungnahme ein Programm zur innenarchitektonischen Gestaltung des Heimes, das sie entlang ihrer medizinischen Einschätzung der in Kramsach untergebrachten Mädchen entfaltete. Die Anordnung der Bäder und ihre Ausstattung, die Wege zwischen Schlafraum und Waschzelle bis hin zur optimalen Temperierung des Erziehungsheimes, all dies sind Komponenten, die Nowak-Vogl, begründet entlang von medizinisch-therapeutischen Gesichtspunkten, dem von ihr als „regelwidrig“ bezeichneten Kind entgegenzuhalten für notwendig erachtete. Nowak-Vogls Stellungnahme demonstriert zum einen, welchen Einfluss die medizinische Diagnose der Psychiaterin als Konsiliarärztin auf die Erziehungsanstalten hatte. Zum zweiten veranschaulicht das Fallbeispiel des an medizinischen Gesichtspunkten ausgerichteten Raumentwurfes, wie umfassend der medizinische Diskurs in den Leib der Kinder einzudringen versuchte. Der Beitrag beginnt, gestützt auf historisches Aktenmaterial, mit dem Umbau des Erziehungsheimes in Kramsach und fokussiert auf die medizinischen Implikationen, welche den Umbaumaßnahmen beigemessen wurden. Sodann wird in den narrativ-biographischen Interviews, die 2013–2015 am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Innsbruck mit ehemaligen Heimkindern geführt wurden, nach räumlich konnotierten Erfahrungen in mediko-pädagogischen Einrichtungen (M. Ralser) in Tirol und Vorarlberg gefragt. Der Beitrag greift damit das neue Interesse an Raum und Materialität in den Kulturwissenschaften auf und lotet sein Potential für die Erforschung von medikalisierten Kindheiten aus.