Obwohl die Länder des Balkan, darunter auch Bosnien, Serbien und Kroatien, für ihre Gastfreundschaft bekannt sind, und diese Eigenschaft auch in künstlerischer, besonders literarischer Form thematisiert wird, hat die literaturwissenschaftliche Forschung diesem Thema bisher kaum Beachtung geschenkt. Diese Lücke möchte das vorliegende Dissertationsprojekt schliessen. Gastfreundschaft wird dabei nicht nur als ein soziales Phänomen sondern auch als eine ethische Form der menschlichen Begegnung und des Umgangs mit Andersartigkeit(en) verstanden.
Gastfreundschaftsverhältnisse finden sich in der bosnischen, kroatischen und serbischen Literatur sowohl als Motiv im Text als auch in der Verbindung zwischen Text und Leser. Der Leser wird dabei zum empfangenden Gastgeber für den Text und dessen Figuren. Die auf dem Gastfreundschaftsprinzip basierende Begegnungsethik hält ein Instrumentarium bereit, um die in vielen Texten der bosnischen, kroatischen und serbischen Literatur wahrnehmbaren Bemühungen zu beschreiben, die (Kriegs-)Realität wahrheitsgetreu wiederzugeben ohne die Problematiken historischer Wirklichkeitsdarstellung ausser Acht zu lassen, Opfer darzustellen ohne sie wieder zu Opfern zu machen, über Gewalt, Schmerz und Tod zu berichten ohne die unüberbrückbare Andersartigkeit dieser Phänomene zu leugnen.
Die theoretische Grundlage für die Analyse bilden hauptsächlich Ethiktheorien, die dem Poststrukturalismus nahe stehen und die in Verbindung mit literaturwissenschaftlichen, soziologischen und kognitionswissenschaftlichen Ansätzen für die Literaturanalyse fruchtbar gemacht werden. Das Dissertationsprojekt soll einen neuen Blick auf die südslawische Literatur eröffnen und die bestehende Forschung durch neue Erkenntnisse aus einem kaum beachteten Gebiet ergänzen. Die durch die Analyse erarbeitete literaturwissenschaftliche Methodik soll über die Südslawistik hinaus weitere Forschungen zm Thema Ethik und Literatur anregen und als Instrumentarium dafür dienen. Die Analyse leistet ausserdem einen Beitrag zur interdisziplinären Forschung, da sie ethisch-philosophische, soziologische und literaturwissenschaftliche Herangehensweisen miteinander vereint.