Hans Karl Peterlini
Warum hast du dich für das Studium der Erziehungswissenschaft in Innsbruck entschieden?
Ich bin ein Spätberufener, hatte mit 45 nach einem intensiven Berufsleben im politisch-gesellschaftlich engagierten Journalismus eine Auszeit und wollte nur ein Semester lang ein wenig Uni-Luft schnuppern, weil gerade meine Tochter in Innsbruck studierte und sie mich in ihre WG einlud (was ich nur ein paar Mal genutzt habe). Interessiert und teilweise inskribiert habe ich mich für mehrere Studien, die aufgrund meiner historischen und politischen Arbeiten und Publikationen nahelagen, also Politikwissenschaften, Zeitgeschichte, Philosophie. Eher aus Neugier habe ich auch die Erziehungswissenschaften dazu genommen. Ich bin dann genau dort hängen geblieben, habe mich von allen anderen schnell abgemeldet und das Studium tatsächlich zu Ende geführt. Ich war fasziniert, dass ich für viele Fragen des gesellschaftlichen und politischen Lernens in diesem für mich neuen Fach überraschende Impulse bekam, die mir interessanter schienen als jene aus den einschlägigen und teilweise schon vertrauten Disziplinen. Die Pädagogik in Innsbruck lieferte damals, dank der vielfältigen Studienzweige, sehr gute Grundlagen für das, was wir heute politische Pädagogiken nennen.
Was war für dich ein unvergessliches Erlebnis deiner Studienzeit?
Zum einen ein Einführungsvortrag ins Studium, in dem nicht davon die Rede war, wie cool Lernen ist, sondern dass jedes Lernen zwangsläufig auch durch Irritationen und Widerstände hindurchführt. Das ist mittlerweile einer der zentralen Punkte meiner Positionierung in der Phänomenologischen Pädagogik. Fast elektrisiert war ich von meinem ersten Einblick in die Psychoanalyse – ich war irritiert und schrieb dem damals mir noch nicht sehr gut bekannten, heute sehr gut befreundeten Dietmar Larcher, ob er das für mich sinnvoll sehe. Er antwortete: „Fürchten Sie sich nicht vor der Psychoanalyse!“ Das war eine Schlüsselerfahrung.
Gab es Momente oder Personen in deinem Studium, die dich besonders geprägt haben?
Ja, die damaligen Lehrenden vor allem der Psychoanalytischen Pädagogik, allen voran mein Diplomarbeitsbetreuer Joe Berghold, aber auch Joe Aigner, Helmwart Hierdeis, Hans-Jörg Walter, ebenso die Lehrenden am damaligen ZwiKo, dem Institut für Zwischenmenschliche Kommunikation (Heute Institut für Psychosoziale Intervention und Kommunikationsforschung), wo ich nebenbei das Psychotherapeutische Propädeutikum, den ULG Kommunikationsberatung und einen Universitätskurs zu Coaching absolviert habe. Bernhard Rathmayr verdanke ich die Grundlagen der Erziehungswissenschaft auch in ihrer historischen Kontingenz. Und sehr dankbar bin ich für die Angebote in der Genderforschung, da hat Innsbruck für die damals (und teilweise immer noch) arg patriarchale Ordnung des Wissens wertvolle Akzente gesetzt. Wichtig waren aber auch die unschönen Momente – da wo Strukturen der Macht in den Lehr- und Lernprozessen wahrzunehmen waren. Macht und das Pendant der Ohnmacht in Bildungs- und Sozialisationsprozessen gehören seitdem zu meinen Schwerpunkten.
Warst du im Ausland? Welche Erfahrungen hast du dort gemacht?
Übers Studium war ich nicht im Ausland. Ich war schon vierfacher Vater und musste neben dem Studium über Projekte zum Familieneinkommen beitragen. Da waren schon die Zugfahrten Bozen-Innsbruck eine Herausforderung.
Wie hat sich dein Weg zum Studium und vom Studium bis heute entwickelt?
Sprunghaft, nicht linear: Weitergebracht hat mich meistens das „was aus der Reihe springt“ (Bernhard Waldenfels). Ich bin über Verbindungen zwischen den Studieninhalten und meinen früheren Arbeiten – die zeitgeschichtlichen Arbeiten über Konfliktentstehung, Konflikteskalation, Konfliktbewältigung am Beispiel Südtirol – in neue Zusammenhänge hineingeraten. Zugleich haben mich die Qualifikationen, die ich am damaligen ZwiKo (heute PsyKo) erwerben konnte, auch für Berufe in diesem Bereich neugierig gemacht. So war ich bereits in eine Ausbildungsgruppe für das psychotherapeutische Fachspezifikum in Psychodrama aufgenommen. Dann tat sich plötzlich die Möglichkeit eines Doktoratsstudiums an der Uni Bozen auf. Dort und in Innsbruck war ich externer Lehrender und Forschungsmitarbeiter. Und ehe ich mich‘s versah, rutschte ich in das Berufsbild eines wissenschaftlichen Mitarbeiters hinein. Da war vor allem die Zusammenarbeit mit der leider früh verstorbenen Lynne Chisholm und mit Michael Schratz sehr wertvoll. Mit Siegfried Baur von der Freien Universität Bozen bin ich auch in die Schulforschung hineingewachsen, wir sind oft ganz Südtirol abgefahren. Die Habil habe ich als Privatier geschrieben.
Welche im Studium erworbene Qualifikation hilft dir im heutigen Beruf am meisten?
Die theoretischen Grundlagen der Innsbrucker Erziehungswissenschaft schätze ich heute noch, aus diesem Fundus kann ich auf vielfältige Herausforderungen eingehen, in der Lehre, aber auch bei Forschungsprojekten. Die Ausbildung am ZwiKo hat mir sehr geholfen, als ich als völliger Uni-Neuling hier in Klagenfurt praktisch vom ersten Tag an Mitglied der Institutsleitung und ein Jahr später Institutsvorstand war. Das Verstehen zwischenmenschlicher Kommunikations- und Findungsprozesse hat wohl dazu beigetragen, dass ich einige komplexe Entwicklungen konsensorientiert gestalten und begleiten konnte. So wurde das bei meiner Ankunft in Klagenfurt von Schließung bedrohte Friedensforschungszentrum einvernehmlich in das von mir geleitete Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung eingebunden. Wir haben in dieser Zeit die Organisationsstruktur und die Geschäftsordnung des Instituts überarbeitet, die Administration umgestaltet und mit einer akademischen Fachkraft gestärkt, die Masterstudiengänge erneuert und dabei den Master „Diversitätspädagogik in Schule und Gesellschaft“ neu entwickelt.
Was möchtest du gerne noch erreichen – beruflich oder privat?
Ich wurde wie ein Traumtänzer zum Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft und Interkulturelle Bildung an der Uni Klagenfurt, und dies 10 Jahre nach Beginn meines Diplomstudiums … Das hat sich schlicht gefügt, viele Zufälle, glückliche Umstände und weiterführende Begegnungen, die sich nie planen oder strategisch vorhersehen hätten lassen. Das einzige, was ich beigetragen habe, war die Begeisterung für das, was ich gerade tat. Das geht nicht immer so gut auf, deshalb wäre es vermessen, mir mehr zu wünschen, als weiterhin meine Arbeit so zu gestalten, dass sie mir Freude und der Gesellschaft einen Beitrag bringt, sei er auch noch so bescheiden. Ich habe hier viele Wirkungsmöglichkeiten, in meinem Arbeitsbereich für Diversitätsbewusste Bildung, am Zentrum für Friedensforschung und Friedensbildung, in dem von mir hier eingerichteten UNESCO Chair „Global Citizenship Education - Culture of Diversity and Peace“. Diese Arbeit gut weiterzuführen und sie irgendwann neugierigen Kolleg*innen übergeben zu können, das ist mein beruflicher Wunsch. Arbeiten möchte ich, im gesunden Maß und an dem, was mich interessiert, bis zu meinem letzten Tag. Privat bin ich vorigen Sommer mit 60 zum 5. Mal Vater geworden. Auch da möchte ich nur das Vertrauen ins Leben weitergeben, das mir immer wieder Mut gemacht, trotz aller widrigen Umstände, die wir gerade erleben.
Studienanfänger*innen bzw. Studierenden rate ich…
… ihrer Neugier zu folgen und sich von der Freude leiten zu lassen, zugleich aber auch, sich von Widerständen, Irritationen, angstmachenden Themen nicht abschrecken zu lassen, denn oft sind genau dies die Themen, die uns weiterbringen.
Was war zu Studienzeiten dein Lieblingsort in Innsbruck/an der Universität?
… der Weg vom Hauptgebäude zum Institut in der Liebeneggstraße, zusammen mit anderen Studierenden, da gab es interessante Gespräche, viel Austausch und auch privat viel Nettes. Im Übrigen fiel mir nie auf, dass ich deutlich älter war als die meisten meiner Kolleg*innen, das spricht für diese: Sie haben es mich nie merken lassen. Danke!
Was verbindet dich heute noch mit der Fakultät für Bildungswissenschaften bzw. der Universität Innsbruck?
Die Erinnerung. Es sind ja fast alle, die mich geprägt haben, schon weg. Es gibt aber gute neue Verknüpfungen, die eine oder andere Mitarbeit in Kommissionen oder bei Betreuungen, das freut mich sehr. Besonders eng und lebendig sind die Verbindungen zu meinem Vorgänger hier in Klagenfurt, Erol Yildiz. Wir haben uns kennengelernt, als ich gerade in seinem gerade ausgeräumten Klagenfurter Büro Platz genommen hatte und er noch auf einen Sprung vorbeischaute. Die Spuren seines Wirkens hier in Klagenfurt sind reich- und nachhaltig.
Ich wollte immer schon einmal...
… mir fällt echt nichts ein, ich bin so reicht beschenkt, dass ich für alles dankbar bin, was mir widerfährt. Vom Unerfreulichen lernen wir meistens mehr, aber am Erfreulichen stärken wir uns.
Erziehungswissenschaft ist für mich…
… Lernen, Reflektieren, ständiges Umlernen, Ambivalenzen nicht nur aushalten, sondern produktiv in der Schwebe halten und annehmen. Erziehung ist kein kausaler Vorgang, es heißt, sich dem Spontanen und Unkontrollierbaren auszusetzen, Frustrationstoleranz und Geduld zu üben, Herrschaftsansprüche und Allmachtsglauben aufzugeben, eigene normative Standpunkte zu überdenken und das „Wagnis der Beziehung“ (Kupffer et al.) einzugehen.