Anfrage des Netzwerks "Inklusionsforscher*innen Österreich" (IFÖ) zur Nationalratswahl 2019 vom 18. Juli 2019 (PDF-Dokument).
Die Antworten der Parteien lesen Sie hier (HTML-Tabelle) oder hier (PDF-Dokument).
An die
wahlwerbenden Parteien in Österreich
zur Nationalratswahl 2019
18. Juli 2019
Sehr geehrte Damen und Herren,
wir sind eine Gruppe von Lehrenden und Forschenden auf dem Gebiet der Inklusionsforschung an österreichischen Universitäten und Pädagogischen Hochschulen, die sich in dem bundesweiten Netzwerk „IFÖ – Inklusionsforscher*innen Österreich“ zusammengeschlossen haben. Anlässlich der Nationalratswahl 2019 möchten wir mit diesem Schreiben auf einige drängende bildungspolitische Fragen hinweisen, die das Thema „inklusive Bildung/schulische Inklusion“ derzeit aufwirft.
Im Jahr 2008 hat sich Österreich mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) dazu verpflichtet, ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen zu implementieren und dafür auch die notwendigen Kosten zu übernehmen. Mit der Verabschiedung der „Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“ im Jahr 2015 wurde diese Selbstverpflichtung auf inklusive, gleichberechtigte und hochwertige Bildung für alle Menschen noch einmal bestätigt und in einen allgemeineren Kontext globaler Entwicklungsziele gebracht. Wie der Bericht des Bundesrechnungshofs vom Februar 2019 feststellt, fehlt bei der politischen Umsetzung allerdings bis heute eine erkennbare Gesamtstrategie.
Wir laden Sie und alle bildungs- und wissenschaftspolitischen Sprecher*innen der bundesweit wahlwerbenden Parteien zum Nationalrat ein, uns in diesem Zusammenhang Ihre Perspektiven, Ideen und Visionen mitzuteilen. Wir bedanken uns bereits im Voraus dafür, dass Sie bereit sind, sich daran zu beteiligen und erhoffen uns von dieser Initiative wichtige Impulse für den öffentlichen Diskurs zu dieser zentralen bildungspolitischen Thematik. Die Ergebnisse möchten wir in den facheinschlägigen Medien, der Tagespresse und anderen interessierten Publikationsorganen veröffentlichen.
Die Unterzeichner*innen [1]
[1] Eine ausführliche Liste mit den Namen der Unterzeichner*innen sowie der beteiligten Universitäten und Pädagogischen Hochschulen findet sich am Ende dieses Dokuments. Kontakt: Univ.-Prof. Dr. Thomas Hoffmann, Universität Innsbruck, Institut für LehrerInnenbildung und Schulforschung, Fürstenweg 176, A-6020 Innsbruck, Tel.: [+43] 0512 507-44433, E-Mail: thomas.hoffmann@uibk.ac.at
11 Fragen an die wahlwerbenden Parteien zur Nationalratswahl 2019
1.
Mit der Verabschiedung der „Agenda 2030“ sichert Österreich eine kontinuierliche Arbeit an nachhaltiger Entwicklung zu, die auch ein zentrales Thema von Bildung ist. In acht der 17 Entwicklungsziele werden ausdrücklich Menschen mit Behinderung adressiert. Wie stellen Sie einen umfassenden Diskurs sicher, um Bildung im Rahmen von bzw. als Praxis nachhaltiger Entwicklung zu schärfen und diese so verstandenen Bildungsprozesse an allen Schulformen zu etablieren?
2.
Der österreichische Monitoringausschuss zur Umsetzung der UN-BRK stellt in seinem zweiten Bericht (2018) fest, dass die Handlungsempfehlungen aus 2013 zum Artikel 24 („Bildung“) nicht implementiert wurden. Dies betrifft u.a. die umfassende Etablierung inklusiver Strukturen auf allen Ebenen des Bildungssystems, die Berücksichtigung inklusiver Bildung in sämtlichen Lehramtsstudiengängen, deren konsequente Öffnung für Menschen mit Behinderung sowie die finanzielle Förderung dieser Maßnahmen. Auf welche Weise werden Sie die strukturelle Transformation zu einem inklusiven Bildungssystem auf allen Ebenen unterstützen und wie werden Sie den Abbau von Barrieren und Diskriminierungen sicherstellen?
3.
Der Anteil derjenigen Schüler*innen, die in Sonderschulklassen unterrichtet werden (Exklusionsanteil), liegt in Österreich seit Jahren relativ unverändert bei rund 40%. Insgesamt kommt der Abbau des Sonderschulsystems nur schleppend voran. Für den Pflichtschulbereich zeigen die Zahlen des „Nationalen Bildungsberichts 2018“, dass seit 2008 in Österreich der Anteil der Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF) sogar gestiegen ist (Förderquote) und damit auch das Risiko von Stigmatisierung und Ausgrenzung aufgrund einer Behinderung. Zwischen einzelnen Bundesländern bestehen im Hinblick auf die Inklusions-, Exklusions- und Förderquoten zum Teil erhebliche Unterschiede (z.B. Exklusionsanteil Kärnten: 18%, Wien: 49%). Welche bildungspolitische Strategie verfolgt Ihre Partei, um in der kommenden Legislaturperiode die Förder- und Segregationsquoten weiter zu senken?
4.
Im „Nationalen Aktionsplan Behinderung 2012–2020“ wird die Etablierung von Inklusiven Modellregionen (Steiermark, Kärnten und Tirol) definiert, in denen Maßnahmen zur Implementierung eines inklusiven Schulwesens entwickelt und erprobt werden. Der Aktionsplan sieht vor, dass die Modellregionen bis 2020 auf ganz Österreich ausgeweitet werden sollen. Wie und in welchem zeitlichen Rahmen werden Sie die Erfahrungen aus den Modellregionen in eine bundesweite Strategie für ein inklusives Bildungssystem integrieren und einen flächendeckenden Ausbau umsetzen?
5.
In den Inklusiven Modellregionen sind verschiedene Konzepte für eine indexbasierte (anstelle einer individuellen) Ressourcenzuteilung erarbeitet worden. Es hat sich gezeigt, dass damit die Stigmatisierung vieler Kinder und Jugendlicher als Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF) vermieden und für die Schulen bzw. Regionen autonome Handlungsspielräume für präventive Maßnahmen geschaffen werden konnten. Soll für deren Finanzierung bloß eine Umschichtung der vorhandenen Ressourcen von weniger zu stärker belasteten Schulen erfolgen oder werden Sie zusätzliche Mittel für notwendige kompensatorische Fördermaßnahmen bereitstellen?
6.
Im „Nationalen Bildungsbericht 2018“ wird einmal mehr festgehalten, dass die familiäre Herkunft für den Bildungserfolg der Kinder eine wesentliche Rolle spielt und der Umgang mit Heterogenität im österreichischen Bildungssystem ausbaufähig ist. Empfohlen wird „ein kooperatives, in Professionellen Lerngemeinschaften zusammenarbeitendes Team an Schulen, das um ständige Schul- und Unterrichtsentwicklung bemüht ist, kompetente Leitungspersonen und schließlich ein Umfeld, das Unterstützungsmaßnahmen bereitstellt, die professionellen Servicecharakter haben.“ (Bd. 2, S. 46) Was gedenken Sie zu tun, um eine adäquate Unterstützungsstruktur für österreichische Schulen aufzubauen?
7.
In der Stellenplanrichtline des Bundes zur Berechnung der Dienstposten wird immer noch von einer Förderquote von 2,7 % ausgegangen, während der „Nationale Bildungsbericht 2018“ eine Förderquote von 3,9 % ausweist. Dass damit ein eklatanter Ressourcenmangel evident wird, der sich auch nicht durch zusätzliche Planstellen gemäß § 4 Abs. 8 FAG 2017 mildert, weil diese vorwiegend für Strukturmaßnahmen verwendet werden, steht außer Frage. Andererseits wird mit einem restriktiven SPF-Verfahren (siehe aktuell das Rundschreiben 7/2019 des BMBWF) versucht, die Förderquote zu senken. Dabei bleiben viele Schüler*innen auf der Strecke. Welche Änderungen werden Sie daher einfordern und wie wollen Sie sicherstellen, dass Schüler*innen, die besondere Unterstützung benötigen, diese auch erhalten?
8.
Seit 2015 gibt es in Österreich eine schulstufenspezifische statt einer schulartenspezifischen Lehramtsausbildung. Somit gibt es keine eigenständigen Ausbildungen mehr für Volksschul-, NMS-, Gymnasial- und Sonderschullehrer*innen. Der „Nationale Bildungsbericht 2018“ zeigt auf, dass der Erwerb von Kompetenzen zum Fokus „Behinderung“ in der neuen Lehrer*innenbildung sowohl strukturell als auch inhaltlich gut verankert ist. Sind sie für die Beibehaltung der neuen, schulstufenspezifischen Ausbildungsstruktur oder, wie im Regierungsprogramm 2017–2022 angedacht, für die Wiedereinführung einer eigenständigen sonderpädagogischen Ausbildung?
9.
Der Studierenden-Sozialerhebung 2015 (BMWFW 2016) kann entnommen werden, dass an Pädagogischen Hochschulen der Anteil von Studierenden mit Behinderung odernichtdeutscher Muttersprache gegenüber anderen tertiären Einrichtungen wesentlich niedriger ist. Es muss davon ausgegangen werden, dass sich die gesellschaftliche Diversität in der Lehrer*innenbildung nicht widerspiegelt (siehe auch NBB 2018, S. 69ff.). Damit werden aber auch Ressourcen nicht genützt, die durch Diversität und Mehrsprachigkeit sowie den Einsatz als Rollenvorbilder möglich wären.Welche Maßnahmen zur Erhöhung des Anteils von Studierenden mit nichtdeutscher Muttersprache oder Studierenden mit Behinderungen wollen Sie setzen?
10.
Die bis Ende 2018 bestehenden Bundeszentren wurden 2019 durch „National Competence Center“ (NCoC) ersetzt. Diese sind als Organisationseinheiten der Pädagogischen Hochschulen konzipiert. Aktuell wurden neun Bundeszentren in NCoC überführt. Das Bundeszentrum Inklusive Bildung und Sonderpädagogik (bzib.at), das in den vergangenen Jahren intensiv die Inklusiven Modellregionen wissenschaftlich begleitet, Arbeitsergebnisse disseminiert und dazu beigetragen hat, Barrieren für Menschen mit Behinderungen in der Schule des 21. Jahrhunderts abzubauen, wurde nicht wieder bewilligt. Gerade für die kommenden Aufgabenstellungen, wie die Weiterentwicklung des Nationalen Aktionsplans, die Reform der Lehrer*innenbildung, die Umsetzung der „Agenda 2030“ sowie die Fortführung der bestehenden Zielsetzungen wird die Expertise eines solchen bundesweit wirksamen Kompetenzzentrums dringender denn je benötigt. Werden Sie sich dafür einsetzen, dass im Rahmen der NCoC das Bundeszentrum für Inklusive Bildung und Sonderpädagogik weiterhin bestehen bleiben kann?
11.
Aktuelle Veränderungen im Bildungsbereich manifestieren und schaffen strukturelle Bedingungen, die Bildungsgerechtigkeit nicht unterstützen und Schulabbrüche und erfolglose Bildungswege nicht verhindern werden. Zahlreiche Befunde deuten darauf hin, dass die im „Pädagogik Paket 2018“ bereits durchgeführten Änderungen, wie die Kategorisierung der Schüler*innen in zwei Leistungsniveaus („Standard“ und „AHS-Standard“), die Wiederholung von Schulstufen aufgrund negativer Beurteilungen ab der dritten Schulstufe oder die Verpflichtung zur Ziffernbeurteilung ab der zweiten Schulstufe den Erwartungen einer optimalen Förderung unterschiedlich befähigter Schüler*innen nicht gerecht wird. Um Bildungsbenachteiligung zu kompensieren und so die Bildungschancen aller zu erhöhen, müssen Entwicklungen in Richtung Prävention angestoßen werden. Dafür braucht es zusätzliches Personal und Ressourcen. Dem gegenwärtigen Trend nach, ist eher eine Zurücknahme zusätzlicher Ressourcen wie z.B. der mobil tätigen Lehrer*innen oder Berater*innen an Schulen zu befürchten. Was werden Sie unternehmen, um mit Blick auf die aufgezeigten Probleme, Lehrpersonen wie auch Schulen die (Weiter)-Entwicklung einer besseren Passung zwischen Lernangebot und Lernausgangslage zu ermöglichen?
Liste der Unterzeichner*innen
Name |
Hochschule, Anschrift |
Prof.in Dr.in Mirjam Hoffmann Prof. Dr. Eberhard Spiss |
Kirchliche Päd. Hochschule Edith Stein Riedgasse 11, 6020 Innsbruck |
Prof.in Dr.in Lisa Paleczek Prof. David Wohlhart |
Kirchliche Pädagogische Hochschule Graz Lange Gasse 2, 8010 Graz |
Prof.in Dr.in Maria-Luise Braunsteiner Prof. Stefan Germany Prof.in Roswitha Lebzelter Prof.in Claudia Rauch, MA |
Pädagogische Hochschule Niederösterreich Mühlgasse 67, 2500 Baden |
Prof. Dr. Ewald Feyerer Prof.in Christine Kladnik Margit Leibetseder, MSc Prof.in Eva-Prammer-Semmler Prof. Willi Prammer Prof. Dr. Ute Sandberger Prof. Norbert Zauner |
Pädagogische Hochschule Oberösterreich Kaplanhofstraße 40, 4020 Linz |
Prof.in Maria Kreilinger Prof. Dr. Robert Schneider-Reisinger |
Pädagogische Hochschule Salzburg Akademiestraße 23, 5020 Salzburg |
Prof.in Dr.in Andrea Holzinger Prof.in Silvia Kopp-Sixt Prof.in Dr.in Gonda Pickl |
Pädagogische Hochschule Steiermark Hasnerplatz 12, 8010 Graz |
Prof. Dr. Rainer Grubich Mag.a Claudia Ovrutcki |
Pädagogische Hochschule Wien Grenzackerstraße 18, 1100 Wien |
Prof.in Marianne Neißl |
Private Pädagogische Hochschule Linz Salesianumweg 3, 4020 Linz |
Dr.in Edvina Bešić Katharina Maitz, MA Univ.-Prof.in Dr.in Barbara Gasteiger-Klicpera Ass. Prof.in Dr.in Susanne Seifert Caroline Breyer, MSc Dominik Pendl, MSc |
Universität Graz Universitätsplatz 3, 8010 Graz |
Univ.-Ass. Dr.in Julia Biermann Mag.a Petra Flieger Univ.-Prof. Dr. Thomas Hoffmann Dr.in Mishela Ivanova Univ.-Prof.in Dr.in Lisa Pfahl Dr.in Cathrin Reisenauer Univ.-Ass. Hendrik Richter A.o. Univ.-Prof. i.R. Dr. Volker Schönwiese |
Universität Innsbruck Innrain 52, 6020 Innsbruck |
Univ.-Prof. Dr. Gottfried Biewer Dr. Tobias Buchner Ass.-Prof.in Dr.in Michelle Proyer |
Universität Wien Universitätsring 1, 1010 Wien |