Einführung: Eva Binder und Anna Ladinig
Der armenisch-sowjetische Regisseur Artavazd Pelešjan (*1938) ist eine Einzelerscheinung des Weltkinos. Seine Filme – ausschließlich dokumentarische Kurzfilme – passen in kein gängiges Kino-Format, dafür sind sie von einer einzigartigen emotionalen Intensität. Es sind verdichtete Bild-Ton-Montagen ohne Dialog und Kommentar – "reines Kino", allerdings nicht im Sinne einer abstrakten Kunst, sondern basierend auf materiellen bewegten Real-Bildern, die durch Montage und Musik in Schwingung versetzt werden. Aus der Bewegung der Bilder heraus komponiert Pelešjan existentielle Themen: Revolution, Genozid und Rückkehr der Armenier in ihr Land, Tier und Mensch, archaisches Bergbauernleben, die Eroberung des Weltraums. In der Sowjetunion wurde er in den 1960er Jahren mit seinem Diplomfilm als neues Talent gefeiert, doch er blieb ein Einzelgänger. In Frankreich wurde er Anfang der 1990er Jahre international entdeckt und fand in Jean-Luc Godard einen Fürsprecher. Dort fanden seine Filme auch einen regulären Verleih. Obwohl sie auf Festivals und in Kunsträumen immer wieder zu sehen waren, bleibt Pelešjan, dessen filmisches Gesamtwerk gerade einmal eine Länge von 3 Stunden umfasst, ein Geheimtipp, den es immer wieder (neu) zu entdecken gilt.
NAČALO (DER ANFANG), UdSSR 1967, Ohne Dialog, Schwarzweiß, DCP, 10min
Für seinen Diplomfilm montierte Pelešjan eine dichte Bild-Ton-Kollage aus found footage zum 50-jährigen Jubiläum der Oktoberrevolution. Menschenmengen sind in Bewegung. Wir hören Schüsse, Kirchenglocken und treibende Musik. Vielmehr als eine Erzählung entsteht ein Eindruck. Kondensiert in knappe zehn Minuten, werden die vorrevolutionäre Zeit, die Revolution und der Tod Lenins im Jahr 1924 bis zu den Protesten der 1960er Jahre in Europa, Japan und den USA abgehandelt. Wie Pelešjan schreibt, lassen sich seine Filme schwer in Worte fassen. Sie "existieren auf der Leinwand, man muss sie sich anschauen." (IFFI 2021)
MY (WIR), UdSSR 1969, Ohne Dialog, Schwarzweiß, 35mm, 30min
Realisiert 1969 für das armenische Fernsehen und das Filmstudio Armenfil’m basiert diese Montagearbeit von Pelešjan auf Bildern vom alltäglichen Leben im Jerewan der 1960er Jahre, die mit Szenen der Heimkehr armenischer Familien kombiniert werden. Dabei leistet der Armenier Pelešjan audiovisuelle Trauerarbeit: Insbesondere das wiederkehrende ikonische Bild des für die armenischen Christen "heiligen" Bergs Ararat verweist auf jenes traumatische Ereignis, das eine visuelle Leerstelle bildet: den Genozid an den Armeniern im Osmanischen Reich in den Jahren 1915 und 1916. Der Film wurde 1970 mit dem Hauptpreis der Internationalen Kurzfilmtage in Oberhausen ausgezeichnet und ist damit die erste Arbeit Pelešjans, die außerhalb der Sowjetunion gezeigt wurde.
OBITATELI (DIE BEWOHNER), UdSSR 1970, Ohne Dialog, Schwarzweiß, 35mm, 10min
Die titelgebenden BEWOHNER sind Tiere. Die Menschen dagegen erscheinen schemenhaft und werden durch Schüsse und Gitter impliziert. Wie in NAČALO und MENK arbeitet Pelešjan auch hier mit found footage. Durch seine Methode der Distanzmontage entsteht eine Filmstruktur, die einer "ballonförmig drehenden Konfiguration" ähnelt. Ihre grundlegende Idee ist, durch Distanz zwischen Schlüsselbildern deren Wirkung zu verstärken. (IFFI 2021)
VREMENA GODA (DIE JAHRESZEITEN), UdSSR 1972–75, Ohne Dialog, Schwarzweiß, 35mm, 30min
Pelešjans Filme sind Gesamtkompositionen, in denen Bild und Ton die gleiche Wertigkeit zukommt. Vivaldis Vier Jahreszeiten geben hier den Rhythmus für das bäuerliche Leben in Armenien vor. Arbeit und Rituale scheinen als ewige Kreisläufe aus der Zeit gefallen. Die Schafe werden auf den Berg getrieben. Das Gras wird rhythmisch mit der Sense geschnitten. Der Film wirkt dokumentarischer als Pelešjans frühere Werke. Das mag am langsameren Montage-Rhythmus liegen, an der Tonspur mit Originalton-Passagen oder daran, dass Pelešjan hier nicht Archivmaterial verwendete, sondern mit dem Kameramann Michail Vartanov arbeitete. (IFFI 2021)
NAŠ VEK (UNSER JAHRHUNDERT), UdSSR (1982), Ohne Dialog, Schwarzweiß, 35mm, 48min
In seinem letzten zu Sowjetzeiten entstandenen Film entwirft Pelešjan seine Vision des technischen Zeitalters und vermittelt ein verstörendes Bild von der Geschichte der Luftfahrt und der Eroberung des Weltraums. Schon der Beginn des Films ist programmatisch: Über dem Bild einer kathedralengleichen Rakete erscheint der Filmtitel UNSER JAHRHUNDERT. Die rhythmische, auf Wiederholung basierende Struktur des Films nimmt die Zwangsläufigkeit des Countdowns eines Raketenstarts auf und kulminiert in grandiosen Schlüsselsequenzen von verglühenden Flugkörpern und sich steigernden Explosionen. (Constantin Wulff für den Ausstellungskatalog der Kunsthalle Wien, 2004)
Eine Veranstaltung des Russlandzentrums in Kooperation mit dem Leokino und dem IFFI