Intimstes Organ
Gehirn und Geist
Rezension in: Christ in der Gegenwart, 55. Jahrgang, Nr. 41/03, Oktober 2003
von: Ulrich Willers
Das Gehirn, das komplizierteste Gebilde, ist zugleich unser "intimstes und rätselhafteste Organ". Wir sind grundlegend darauf angewiesen, wenn wir die Natur um uns herum verstehen wollen. "Ohne funktionierendes Gehirn erleben wir nichts." Dies gilt in ganz besonderem Maße dann, wenn wir nicht nur die Natur draußen, sondern die Natur in uns erforschen, uns selbst als Menschen, die Geist im Körper sind, verstehen wollen. Was auch immer wir über unsere Einheit von Leib und Seele, Geist und Körper, Geist und Gehirn herausfinden, wir sind auf das Gehirn als Erkenntnisorgan angewiesen. Das Objekt der Erforschung ist zugleich Subjekt dieses Tuns, ist schon beteiligt, bevor es erforscht ist. Wie kann das gehen?
Die Gehirnforschung ist das heute vielleicht spannendste Feld der Humanwissenschaften, steht freilich nocht ganz am Anfang. Goller stellt Fragen, Probleme und bisherige Ergebnisse verständlich, präzise und umfassend dar. Er hebt vor allem auf die letztlich philosophisch zu klärende Grundproblematik ab, ob Gehirn und Geist identisch sind, ob Bewußtsein, das aus Gehirnaktivitäten entsteht, aus den materiellen Bedingungen hinreichend zu erklären ist. Sein Ergebnis: Die Hirnforschung ist im Grunde begrenzt. Sie kann die organische Grundlage der Bewußtseinszustände, aber nicht diese selbst (visuelle, akustische, taktile Erlebnisse, Vorstellungen, Emotionen usw.) ergründen. Wenn in sogenannten bildgebenden Verfahren aufgezeichnet wird, was im Gehirn einer Person vorgeht (wenn sie betet, singt, arbeitet oder was immer sie tut), dann hat man doch in keiner Weise festgehalten, was in der Person selbst vorgeht, etwa Freude, Hoffnung, Ärger, Langeweile.
Wie das Gehirn Bewußtsein hervorbringt, bleibt rätselhaft. Goller stellt eine prinzipielle Unvereinbarkeit der beiden Perspektiven fest, der aus dem Erleben und der des Beobachters. Denken, Fühlen, Wollen sind ausschließlich in der Erste-Person-Perspektive zugänglich. Sie kommen in der anderen Perspektive überhaupt nicht vor. Das heißt: Die gängigen wissenschaftlichen Verfahrensweisen haben keinen wirklichen Zugriff auf das Phänomen des Bewußtseins. "Das Körper-Geist-Problem läßt sich nicht auf ein Gehirn-Geist-Problem reduzieren." Bewußtsein und Gehirn sind "miteinander vereinbare Aspekte derselben Sache", aber auf eine Weise, die wir prinzipiell nicht zu verstehen vermögen. Es bleibt immer eine "Erklärungslücke".
Das Buch, für philosophisch und psychologisch Interessierte geschrieben, dürfte auch für Theologen und theologisch neugierige Laien ein großer Gewinn sein.