Paratexte um 1800

 

Paratexte in der Klassischen Moderne 

Bearbeitet von

Priv.-Doz. Dr. Torsten Voß

Dipl.-Ing. Dr. Nadja Reinhard

 

Bearbeitet von 

Mag. Martin Gerstenbräun

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jeanpaul

 

Foto: Katja Leiskau

Paratexte um 1800

Das Teilprojekt untersucht Epitexte kanonisierter Autoren für die Zeit von 1770 bis 1810. Bereits die Frühe Neuzeit gilt in der einschlägigen Forschung „als die erste eigentliche Epoche des Paratextes und die Pluralisierung des Paratextes als eine markante Signatur dieser Epoche“ (Ammon/Vögel 2008, S. XV); doch blieb Paratextualität dort in der Regel materiell an den Buchkorpus gebunden und zumeist auf Peritexte wie Motti, umfangreiche Widmungen, Vor- und Nachworte beschränkt und diese wiederum eng mit ihrem jeweiligem „Trägermaterial und dessen Topographie“ (Ott, 2010, S. 2) verklammert. Aus literarhistorischer Perspektive gilt dann das 18. Jahrhundert „als Jahrhundert des Übergangs vom frühneuzeitlichen zum modernen Paratext“ (Ammon/Vögel 2008, S. XIII). Während Paratexte in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch an ältere Modelle gebunden bleiben, werden fortlaufend, vor allem aber dann im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts hinsichtlich der Inszenierung von Autorschaft entscheidende Weichen für eine moderne Praxis im Umgang mit Paratextualität gestellt.

Eine für den expandierenden Buchmarkt signifikante Bedeutung kommt den im Laufe des 18. Jahrhunderts proliferierenden Periodika zu (vgl. dazu Fischer/Haefs/Mix 1999). Diese sorgen gleichermaßen für eine Differenzierung von Text und Paratext wie – paradoxerweise – für ihre Verquickung über ihre materiellen Grenzen hinweg. Im Zusammenhang mit der wachsenden Bedeutung von Zeitungen und Zeitschriften erfährt Paratextualität eine grundlegende Modernisierung dadurch, dass Autorschaft nicht mehr primär durch Peritexte sondern immer häufiger durch Epitexte inszeniert wird, so dass die dafür relevanten Paratexte mit dem Bezugstext bzw. –texten häufig nicht mehr materiell verbunden sind. Erst mit dieser räumlichen Separation von Text und Paratext, so die These, entwickelt sich auch die Vorstellung eines ‚eigentlichen‘ Textes. Von seiner konkreten Präsentation abgelöst, scheint dieser von seiner Materialität einer bestimmten Ausgabe bzw. (typo‑)grafischen Textorganisation genauso unabhängig wie von seinem paratextuellen Umfeld, das bis heute als ‚Beiwerk‘ gewertet wird, – andererseits und umgekehrt wird aber der ‚eigentliche‘ Text gerade durch seine materiell vom Textkorpus losgelösten Paratexte und auch durch Art, Ort und Materialität der Publikation mit dem Autor, sowie dessen Produktivität und Werk verknüpft und so überhaupt erst als ‚eigentlich‘ konstituiert und pointiert. Dadurch entsteht ein ebenso neues wie nachhaltig wirksames Modell von Autorschaft, das sich – lavierend zwischen ästhetischer Autonomie und Marktabhängigkeit – durch ein komplexes Zusammenspiel multipler Faktoren formiert.

Autorschaft verzichtet dabei nicht auf Ökonomie und Konkurrenz, formuliert diese aber mit und gegen den Markt neu und anders: als Konkurrenz um qualitativ gegründete Aufmerksamkeit bzw. symbolisches Kapital. Dieses spezifisch moderne Verständnis von Autorschaft lässt das Werk zunehmend als Medium seines Autors erscheinen und (re-)präsentiert sich, so die These, wesentlich über Meta-, Sekundär- und Paratexte, durch Texte über Texte also gerade durch „jenes Beiwerk“ durch das ein Text „vor die Öffentlichkeit tritt“ (Genette, 2001, S. 10).

Darüber hinaus reagiert der Bedeutungszuwachs von Epitexten auf zwei eng miteinander verschränkte literarhistorische Entwicklungen: Zum einen signalisieren Paratexte die Kommentarbedürftigkeit einer aus der regelpoetischen Ordnung mit ihren Kenntnissen und Kennern entlassenen Dichtung, zum anderen die Konkurrenz ihrer aus Gelehrtenrepublik und Mäzenatentum ausgezogenen und den Regularien eines sich etablierenden Kreativmarkts unterworfenen Autoren. Dieses ‚Beiwerk‘ – zumindest in seiner kleinen Form – erscheint nicht irgendwo, sondern überwiegend in den einschlägigen Periodika; damit wird ein neues Verweissystem literarischer Kommunikation etabliert, das den Bedingungen und Praktiken literarischer Publizistik wie Personalisierung und Popularisierung verbunden ist und gleichzeitig diese maßgeblich beeinflusst. Systematisch zu untersuchen ist nun, wie und in welchen Formen sich die für die literarische Kommunikation immer wichtiger werdende Inszenierung von Autorschaft im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts nicht zuletzt in einer Fülle von Para- und Metatexten manifestiert, deren Spektrum von der Selbstrezension bis zur Autobiographie reicht.

Die exemplarisch ausgerichtete Analyse von auktorialen Paratexten bzw. Epitexten um 1800 setzt sich bisher mit vier Schwerpunktautoren auseinander: Jean Paul, Johann Carl Wezel, Goethe und Friedrich Schiller. Geklärt werden soll der Stellenwert von zunächst buchfern (in Zeitschriften und Journalen wie der Zeitung für die elegante Welt, den Horen, diversen Musen-Almanachen oder dem Deutschen Museum etc.) publizierten Epitexten und Begleitmaterialien (Essays, Vorankündigungen, Subskriptionseinladungen etc.), die dann später mitunter auch in die Erzähltexte integriert werden, wie zum Beispiel bei Jean Paul die sogenannten "Werkchen" in "Dr. Katzenbergers Badereise". Gerade weil sie nicht immer in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der eigentlichen Narration stehen (aber mitunter den für den Erzähltext wichtigen Diskurs mit thematisieren), können sie die Position des Autors vorab transportieren. Sie geben Aufschluss über seine Denkweisen, Intentionen und Selbstverortungen im literarischen Feld, die freilich auch in den vorab publizierten "Werkchen" komplex verschlüsselt vermittelt werden. Dabei ergeben sich die Fragen: Bleiben sie dann noch "Paratexte", wenn sie ins Werk eingestreut werden und was verändert sich, wenn sie nun nicht mehr buchfern-epitextuell sind? Welche Funktion innerhalb der auktorialen Positionierung nehmen sie dadurch ein? (Nach oben)

 

 

Paratexte in der Klassischen Moderne 

Was um 1800 rudimentär begann, radikalisiert sich im Zeitalter der Klassischen Moderne, wenn vor allem Literatur mit Innovations- und Kunstanspruch zu einem erklärungsbedürftigen Investitionsprodukt transformiert, das explizit der Programme, der Para- und Metatexte bedarf – insbesondere bei den modernen Avantgarden. Deren zahlreiche Manifeste sind Reklame (im Sinne aufmerksamkeitsökonomischer Fokussierung) und Exegese zugleich und darüber hinaus ein notwendiger Bestandteil der Kunst selbst. Dabei ist hypothetisch davon auszugehen und alsdann systematisch zu verifizieren, dass in einer durch Fotografie und Film, Rundfunk und diversifizierte Druckerzeugnisse medial aufgerüsteten Moderne die immer zahlreicher werdenden Epitexte nicht nur in materieller Hinsicht vom Korpus des Buches abgelöst sind, sondern auch in rezeptionsästhetischer Hinsicht an Eigenständigkeit gewinnen. Entsprechend beklagt Arthur Kahane den Umstand, dass man mit Hilfe von Paratexten am literarischen System partizipieren kann, ohne Literatur im emphatischen Sinne zu lesen, und personifiziert diese Entwicklung unter dem Titel Der Informierte: „Er weiß nichts, aber das genau. Er hat ein festumrissenes Lebensziel: die Personalien aller Menschen, die irgendwie Gefahr laufen, in den Zeitungen genannt zu werden, genauer zu kennen als jeder andere. […] Das ist die heutige Form des humanistischen Bildungsideals.“ (Kahane 1926) Der Informierte lese keine Bücher, dazu habe er gar nicht die Zeit; stattdessen lese er Theaterkritiken und Rezensionen, Verlagsprospekte und Annoncen für Neuerscheinungen, kurz: eine Menge Paratexte. Gerade die einschlägigen Feuilletons und literarischen Zeitschriften tragen genauso wie die zahlreichen Illustrierten und Magazine zur Proliferation eines ausdifferenzierten Beiwerks bei, dessen Spektrum von der werblichen Anzeige über die vor allem in der Zwischenkriegszeit beliebten Autorenrundfragen bis zur bebilderten Schriftsteller-Homestory reicht und insgesamt jene Kultur des Sekundären begründet, die etwa George Steiner oder Botho Strauß heute als Herabwürdigung des Kunstwerks im parasitären Geschwätz der Feuilletons diffamieren.

Prototypisch für eine solche Kultur des Sekundären sind beispielsweise Rundfragen, die sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in verschiedenen Periodika und Zusammenhängen großer Popularität erfreuten, was sich erstens anhand der Häufigkeit ihres Erscheinens und zweitens an dem Umstand belegen lässt, dass kaum ein namhafter Autor sich ihnen verschließen mochte. Die Aussendungen der Redakteure richteten sich brieflich, meist mit nur einer Frage, an Kulturschaffende, deren Antwortschreiben anschließend in einem mit redaktioneller Einleitung versehenen Artikel veröffentlicht wurden. Fast alle namhaften Akteure des literarischen Feldes nahmen an solchen Befragungen zumindest sporadisch teil, wobei mitunter selbst die schriftlich erteilte Absage, an der Rundfrage teilnehmen zu wollen, zusammen mit den eingesandten Antworten publiziert wurde.

Neben den Rundfragen, die auf signifikant popularisierende Weise aufgreifen, was die Forschung als Merkmal moderner Kunst und Literatur herausgestellt hat, nämlich das Werk gleichermaßen programmatisch wie personal zu flankieren, sollen weitere Paratextsorten auktorialer Provenienz aus den zeitgenössischen Medien herangezogen werden: Homestories über Autoren, die sich indes vor allem in den illustrierten Zeitschriften finden lassen – Bertolt Brecht etwa lancierte sie in den späten 1920er Jahren wiederholt in der populären Zeitschrift UHU –, Schriftstellerporträts und -interviews. Dabei sind auch die neuen technischen Medien zu berücksichtigen, namentlich der ab 1923 in Deutschland sendende Rundfunk, der Schriftstellern schon früh die Gelegenheit zur öffentlichen Inszenierung gab – von der Lesung bis zum Gespräch –, was bspw. so unterschiedliche Autoren wie Johannes R. Becher und Gottfried Benn nutzten.

Neben einer Präzisierung der von Genette verfasseten Terminologie soll eine Typisierung der Textgattungen Rundfrage und Interview (ausgehend von der historischen Entwicklung dieser Genres) versucht werden. In einem zweiten Schritt werden einschlägige Periodika gesichtet, um einen quantitativen Überlick der Quellenlage zu erhalten. Es ist davon auszugehen, dass im Anschluss eine Auswahl der zur untersuchenden Periodika erfolgen muss. Der Fokus wird dabei auf Zeitungen und Zeitschriften der Klassischen Moderne liegen, die überregionale Relevanz aufweisen, aber auch der Umgang von Schriftstellern mit dem jungen Medium Rundfunk soll in die Analyse einfließen. Die geplante Monographie zum Thema soll erstmals auch die Kontexte, in denen Autoren sich paratextuell zu ihrem Werk äußern (und es somit rahmen) und zur Inszenierung ihrer Person beitragen, in die Untersuchung miteinbeziehen. Dem "medialen Ort" einer paratextuellen Äußerung kommt eine ebenso große Bedeutung zu, wie der Äußerung selbst.  "Wer veröffentlicht was in welcher Form und in welchem Kontext?", sollen daher die zentralen Fragen bei der Korpusanalyse des Teilprojektes sein.

Strategien zur Distinktion sowie Versuche der Exegese des eigenen Werks sollen im Anschluss identifiziert, beschrieben und mittels Bourdieus feldtheoretischen Forschungsansätzen dargestellt werden. Die These, dass Buch, Zeitung und Zeitschrift in der Moderne in einem triangulären Verhältnis stehen, das einen diskursiven Raum eröffnet, in dem das schriftstellerische Werk (und letzlich auch der/die SchriftstellerIn selbst) überhaupt erst wahrnehmbar wird, gilt es dabei zu beweisen. (Nach oben)

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