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Die mimetische Theorie und der religiöse Relativismus

Während das Denken Schwagers sich gleich im ersten Anlauf im theologischen Kontext entwickelte, näherte sich mein eigenes Denken dem jüdisch-christlichen Gedankengut über den Umweg der modernen Anthropologie. Und es bleibt dieser verbunden, wenn auch auf eine eher kritische Art und Weise. In der mimetischen Theorie sehe ich zuerst das Mittel zum Umsturz der intellektuellen Fundamente jenes unsere Welt beherrschenden Relativismus.

Schon seit der Antike haben die Verteidiger des Paganismus die Einzigartigkeit des Christentums negiert. Die Ähnlichkeit zwischen den biblischen Erzählungen und den zahlreichen mythischen Berichten diente oft als Basis solcher Versuche. Man kann es kaum bestreiten: Auch heidnische Götter und Halbgötter, Dionysos, Osiris, Adonis usw., erleiden oft ein Martyrium im Kontext jenes kollektiven Wahns, der an die biblische Passion denken läßt. Dessen Gewalt ist auf dem Höhepunkt der sozialen Unordnung beheimatet, und es folgt ihr eine Art von »Auferstehung«: ein triumphales Wiedererscheinen des getöteten Opfers, das zugleich die Offenbarung seiner Gottheit ist.

Solche Erkenntnisse wurden von den Ethnologen des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts aus zahlreichen archaischen Kulten und verwandten Institutionen, wie z. B. der sakralen Monarchie, gewonnen. Fasziniert durch diese Entdeckungen, arbeiteten sie an einer globalen Theorie der Religion. Ein solches Projekt ist jedoch nie geglückt; heute glaubt man nicht mehr an seine Realisierbarkeit, mehr noch: inzwischen hält man es nicht mehr für realisierungswürdig. Man sieht in diesen Versuchen ein Beispiel des intellektuellen Imperialismus, der gewaltsam an den politischen Imperialismus, schlußendlich auch an den Kolonialismus gekoppelt bleibt.

Eine solche Kritik ist jedoch maßlos. Viele dieser Ethnologen waren Antikolonialisten und dies zu einer Zeit, als eine solche Haltung verdienstvoller war als heutzutage. Das, was sie damals jedoch motivierte, war nichts anderes, als jene doppelte ­ wissenschaftliche und antireligiöse ­ Leidenschaft, die all die großen Abenteuer dieser Epoche, besonders jenes des Darwinismus, prägte. So suchte man nach einem Wesen des Religiösen, das universell genug wäre, um auf immer die christliche Bevorzugung der Einzigartigkeit (des Unwiederholbaren, des Einmaligen) zu diskreditieren. Deswegen war man auch so auf die Ähnlichkeit zwischen den Religionen erpicht. In unseren Tagen scheint es zwar zunächst keine andere Fragen zu geben, als jene nach den Differenzen, doch ist der Unterschied zu gestern mehr scheinbar, als wirklich. Die überschwenglich hervorgehobene Differenz, die immer und überall betont wird, ist in Wirklichkeit unbedeutend, weil sie jenen Unterschied ausschließt, der allein zählt und der Wahres vom Falschen, Wirkliches vom Imaginären trennt.

Der religiöse Relativismus ist eine metaphysische Gewißheit wie die anderen auch. Wie läßt sie sich aber gewinnen, nachdem man an gar nichts mehr glaubt, zumindest im Prinzip nicht, selbst nicht an die Wissenschaft und ihre Beweise? Sollten sie heutzutage auf eine klare Antwort insistieren, werden ihre Gesprächspartner immer noch bei der Unterstreichung der Ähnlichkeiten zwischen den Mythen und dem Christentum enden. Diese seien zu zahlreich und zu frappant, wird man ihnen sagen, um die Möglichkeit der Einzigartigkeit des Christentums zuzulassen.

Nivellieren sie also die Unterschiede, und sie werden sich auf dem sterilen Sockel unseres Relativismus wiederfinden! Dieser betont nur noch die von mir erwähnten Ähnlichkeiten. Ohne genau zu präzisieren, was sie zum Inhalt haben, glaubt man mit geschlossenen Augen, deren Bedeutung sei schwerwiegender, wie jene der Unterschiede, die allein zählen.

Doch was unterscheidet die jüdisch-christliche Tradition von den Mythen? Brillant wurde diese Frage durch Friedrich Nietzsche beantwortet. In der jüdisch-christlichen Überlieferung sind die Opfer unschuldig, die kollektive Gewalt dagegen schuldig. In den Mythen bleibt die Gemeinschaft immer schuldlos, selbst dann, wenn die Opfer ­ was auch des öfteren vorkommt ­ als unschuldig dargestellt werden.

Ödipus wird als wirklich schuldig und als wirklich für die Pest verantwortlich dargestellt. Logischerweise haben also die Thebaner einen Grund, um ihn auszuschließen. Der Gottesknecht und Jesus sind aber unschuldig. Ihr Tod stellt eine Ungerechtigkeit dar.

Nietzsche und die modernen Denker sehen darin nur einen moralischen Unterschied. Zudem hat das Wort »Moral« in ihrem Sprachgebrauch etwas Verächtliches. Gerade bei Nietzsche ist eine solche Geringschätzung extrem ausgeprägt. Deswegen scheut er sich nicht, eindeutig Partei zu ergreifen: für die Mythen und gegen das jüdisch-christliche Erbe.

Nietzsche übersieht aber etwas Entscheidendes. Wenn die jüdisch-christliche Verteidigung der Unschuld des Opfers gegen deren Anklage durch die Mythen als moralisch zu qualifizieren wäre, so handelt es sich dabei sicher nicht um jene Moral, die Nietzsche als »Sklaven-Moral« bezeichnete und deren Grund er in den heimtückischen Rachegelüsten der Schwachen gegenüber den Starken sah. Es handelt sich um jene Moral, die der Wahrheit entspricht. Die Opfer sind Sündenböcke, die dazu allein durch die gewaltsame Mimesis bestimmt sind. Deswegen sind sie wirklich unschuldig. Es gibt eben im jüdisch-christlichen Erbe eine Kongruenz von Moral und Wahrheit, die Nietzsche und den modernen Denkern völlig entgeht, und dies deswegen, weil sie den Sündenbock und seine Einmütigkeit erzeugende Wirkung nicht sehen.

Hinter den oberflächlichen Ähnlichkeiten zwischen Mythen und der jüdisch-christlichen Tradition legt nun die mimetische Theorie das wirkliche Geschehen frei. Das Chaos, das der kollektiven Gewalt vorausgeht, stellt eine faktische Zersetzung menschlicher Gemeinschaften dar; es ist die Frucht der mimetischen Rivalitäten, denen alle Menschen verfallen. Durch ihre Steigerung und Verschlimmerung wirkt die Mimesis immer ansteckender. Schlußendlich kann sie aber das zusammenführen, was sie vorher zersetzte. Sie vereinigt die Gemeinschaft gegen die »Sündenböcke«, die nun als verantwortlich für die Unordnung gelten. Die Klarheit der Gemeinschaft über diese Verantwortung stellt allerdings nur das Ergebnis der mimetischen Ansteckung dar.

Die mimetische Theorie kann uns erklären, warum die Mythen die Opfer als schuldig und die Gemeinschaften als schuldfrei darstellen. Es handelt sich um eine Illusion, die durch die gewaltsame Ansteckung hervorgebracht wird. Der Ursprung der Mythen ist eben im Phänomen der Menge zu sehen, deren Truggebilde sie sind. Sie sind unfähig, selbst die unwahrscheinlichsten Anschuldigungen bloßzulegen; man findet diese immer und überall als typisch ödipale Verbrechen vor: Vatermord, Inzest, Pestübertragung usw. Die »Fehler« der mythischen Heroen erinnern zu sehr an die Fehler, die die Menge ausfindig macht, wenn sie auf der Suche nach Opfern ist, um nicht die Verfolger-Mentalität zu offenbaren.

Wenn die Mythen uns täuschen, indem sie das reale Verhältnis zwischen den Opfern und den Gemeinschaften umdrehen, so stellen die jüdisch-christlichen Texte dieses Verhältnis wieder her, oder vielmehr: sie begründen die Wahrheit, indem sie diese erste Verdrehung umkehren. Sie rücken ein Verhältnis zurecht, das in den Mythen ­ zwar verkehrt ­ schon immer da ist: das Verhältnis zwischen den isolierten, ohnmächtigen Opfern und den Gemeinschaften, die diese Opfer verfolgen. Die jüdisch-christlichen Texte entschleiern also die Wahrheit, die die Mythen verbergen.

Die Verteidigung der Opfer hat demnach nichts mit einer »wischi waschi« Moral zu tun. Indem sie die Wahrheit der Sündenböcke offenlegt, erschüttert die jüdisch-christliche Tradition das mythische System in dessen Ganzheit. Diese nun denunzierte Lüge spielt doch eine wesentliche Rolle in der menschlichen Kultur. Es gibt zwar auch einige Mythen, die die Schuld des Opfers minimieren, es gibt aber keinen einzigen, der die Gemeinschaft beschuldigen würde.

Warum gleichen sich dann aber die Mythen und die jüdisch-christliche Tradition bis zu einem gewissen Grad? Die Antwort ist einfach. Sie sind alle im selben Typus der Krise beheimatet. Es ist immer ein und dieselbe Maschine, die die falschen »wahren Schuldigen« produziert. Warum unterscheidet sich dann die jüdisch-christliche Tradition von den Mythen mehr, als daß sie diesen gleicht? Die Antwort: Weil sie auf die Herausforderung dieser Krise anders reagiert als die Mythen.

Im Fall der Mythen arbeitet die Maschine auf eine so effiziente Art und Weise, daß sich ihr keiner entziehen kann. Jegliche Opposition ist ausgeschaltet. Die Ergebnisse werden durch die Mythen präsentiert, als seien sie die reine Wahrheit.

Im jüdisch-christlichen Erbe funktioniert die Maschine immer noch, aber nicht mehr so perfekt. Schlußendlich, in den Evangelien, funktioniert sie so schlecht, daß die ganze Wahrheit der Sündenböcke und des sie produzierenden Mechanismus offengelegt wird.

Die biblische Überlegenheit kann demnach unmöglich in den Begriffen der Rasse, des Volkes oder der Nation definiert werden; sie hat gar nichts Ethnozentrisches an sich. Die jüdischen und christlichen Gemeinschaften widerstehen in ihrer Globalität der gewaltsamen Ansteckung eben keineswegs effizienter, als dies die mythischen Gemeinschaften tun. Allerdings widerstehen die kleinen Minderheiten. Die mythische Einmütigkeit in der Zusammenrottung gegen die Opfer verwandelt sich dadurch zur Frage nach der Mehrheit. Wenn die Unterwerfung unter die gewalttätige Mimesis nicht dauernd den Widerstand brechen würde, gäbe es keinen Sündenbock, der rehabilitiert werden müßte.

Die Offenbarung ist demnach im doppelten Sinn des Wortes außergewöhnlich. Nicht nur, daß sie eine einzigartige und einmalige Tradition ist. Auch im Zentrum dieser Tradition selber wird sie durch Widerstand leistende Minoritäten lebendig. Sie sind zu klein, um auf der Ebene der Realgeschichte den Sieg davonzutragen, doch sind sie mächtig genug, um die Redaktion der Heiligen Schrift entscheidend zu beeinflussen.

Dies erklärt auch, warum im Unterschied zu den mythischen Urteilen, die immer harmonisierend und konstruktiv bleiben, weil sie den kathartischen und reinigenden Effekt der einmütigen Gewalt widerspiegeln, im jüdisch-christlichen Erbe die kollektiven Gewaltakte zu einer ­ in den Evangelien hervorgehobenen ­ »Spaltung« führen. Die Synoptiker lassen Jesus sagen, daß er den Krieg und nicht den Frieden bringe. Johannes läßt uns sehen, daß Jesus überall Spaltung hervorruft, wo er interveniert. Die Eruption der Wahrheit zerstört eine auf der Lüge der gewaltsamen Einmütigkeit gegründete soziale Harmonie.

Die mimetische Theorie zeigt auf, daß das jüdisch-christliche Erbe kein Mythos ist. Immer dann, wenn es darum geht, die kollektive Gewalt zu beschreiben, scheint es dem Mythos zu gleichen, doch es unterscheidet sich radikal von diesem durch die Interpretation, die sie ihm gibt. Die Mythen stellen bloß den passiven Reflex, das jüdisch-christliche Erbe aber eine aktive Offenbarung derselben kollektiven, Sündenböcke fabrizierenden Maschine dar.

Nicht nur, daß die jüdisch-christliche Tradition eine Wahrheit besitzt, die sich den Mythen entzieht, sie ist sich auch allein dieser Wahrheit gewiß. Es ist weder eine ethnozentrische Dummheit, noch die Rivalität mit anderen Religionen, die sie diesen Anspruch eines Wahrheitsmonopols erheben und einlösen läßt. Nietzsche hatte in diesem Punkt recht: Keine Religion verteidigt die Opfer in dem Sinn, wie die jüdisch-christliche Tradition dies tut. Sah Nietzsche darin den Beweis der Unterlegenheit, so erblicken wir darin den Ausdruck der Überlegenheit. Der religiöse Relativismus wird auf seinem eigenen Boden ­ dem der Anthropologie ­ widerlegt. Es ist allerdings unmöglich zu denken, daß in einer inkarnatorischen Religion, diese Überlegenheit unabhängig von der explizit religiösen Dimension sein könnte.

Die Ähnlichkeiten zwischen den Mythen und dem jüdisch-christlichen Erbe bleiben in dem Ausmaß real, wie sich dies die alten Ethnologen auch erhofft haben, nur deren Konsequenzen sind nicht dieselben, wie die antichristliche Einstellung dieser Forscher sich dies erwartete. Wenn das jüdisch-christliche Erbe nicht in dem Ausmaß den Mythen gleichen würde, wie es das faktisch tut, könnte es sich auch nicht so von ihnen unterscheiden. Es würde der fundamentalen Versuchung des Menschen entgehen, jener Versuchung, die Petrus im Hof des Hohenpriesters erlitten hat: dem Druck des sozialen Konformismus. Es könnte nicht siegen, in einer Herausforderung, die ihm gemeinsam ist mit den Mythen, die aber von den letzteren nicht bewältigt wird.

Die alten Ethnologen haben keineswegs Unrecht gehabt, wenn sie das Religiöse zu systematisieren versuchten. Ihre feindliche Einstellung dem Christentum gegenüber verwirrte allerdings ihr Forschungsziel. So versuchten sie, das jüdisch-christliche Erbe zum Mythos zu reduzieren und das Licht durch die Dunkelheit zu erklären. Anstatt zur Klarheit zu verhelfen, förderten sie das Unverständnis. Die methodische Umkehrung dieser Interpretationsrichtung: die Mythenlektüre mittels der jüdisch-christlichen Hermeneutik verhilft dem Programm zum Erfolg.

Nachdem man die Rolle der Sündenböcke in den Mythen geklärt hat, wird man verhältnismäßig leicht eine rationale Erklärung der archaischen Religionen geben können. Eine Gemeinschaft, die durch eine lange Krise geprüft wird, wird in der plötzlichen Ausstoßung des Sündenbocks ein Wunder sehen, an dessen Zustandekommen sie keineswegs beteiligt ist. Deswegen kann sie sich noch mehr ihrem Sündenbock zuwenden. Nachdem dieser die Unordnung und den Tod verbreitet hat, kann nun dieses außergewöhnliche Wesen, weil es selber tot ist, das Leben der Gemeinschaft neu herstellen. Seine Kräfte scheinen die menschliche Endlichkeit zu transzendieren und dies sowohl im Hinblick auf das Gute, als auch das Böse. Die archaischen Götter sind nichts anderes als sakralisierte Sündenböcke.

Indem sie ihre Unschuld offenbart, entsakralisiert die biblische Offenbarung die Sündenböcke. Was bei der Entschleierung des Mythos am meisten verblüfft, ist die Menschlichkeit eines Josef, eines Ijob, der Propheten und all der rehabilitierten Opfer, die in der Bibel so zahlreich vorkommen.

Im Kontext dieser Entsakralisierung erscheint aber das Christentum als stark problembeladen. Gemäß dem christlichen Glauben ist die erlösende Tätigkeit Jesu gerade durch die Passion, das heißt durch das Phänomen des Sündenbocks vermittelt. Ist das nicht ein Rückfall? Ist Christus selbst nicht ein sakralisierter Sündenbock? Nähert man sich nicht einem archaischen Regreß des Christentums verglichen mit dem strikten Monotheismus des Judentums oder aber des Islam?

Solche kritische Gedanken im Hintergrund, das Bedürfnis sich ihnen zu stellen und sie zu beantworten, haben mein Zaudern hinsichtlich der Formulierungen Schwagers, wie ich sie zu Beginn dieses Essay zitiert habe, mitbedingt. Indem man die mimetische Logik bis zum Schluß verfolgt, gelangt man zu Definitionen, die zu sehr an die archaische Logik des Sakralen erinnern, so daß man sehr leicht jene Versuchung provoziert, die unter anderen Bedingungen von der mimetischen Theorie gerade abgebaut wird: die Versuchung der Assimilation des Christentums an den Mythos.

Die Analysen, die ich gerade in Erinnerung gerufen habe, zeigen, daß das Thema der Gottheit Christi unmöglich auf das der Sakralisierung des Sündenbocks hinauslaufen kann. Der Prozeß der Sakralisierung erfordert ­ wenn auch auf vortäuschende Art und Weise ­ die Schuldhaftigkeit der Sündenböcke. Hätte man deren Unschuld anerkannt, könnten sie unmöglich die Gewalt polarisieren und hätten ihre scheinbar hilfreiche Wirksamkeit verloren.

Wäre die Gottheit Christi der gewaltsamen Sakralisierung entsprungen, würden sich die Zeugen der Auferstehung als eine Menge präsentieren, die seinen Tod verlangen, und nicht als eine kleine Gruppe von Individuen dastehen, die seine Unschuld beteuern. Der Friede Christi wäre dann derselbe Friede, »wie die Welt ihn gibt« (Joh 14,27). Es wäre der Friede, den die Sündenböcke ermöglichen, nicht aber jener Friede, »der alles Verstehen übersteigt« (Phil 4,7). Das Reich Gottes ist aber nicht von dieser Welt. Dieser Welt gegenüber verkünden die Evangelien nichts anderes als Spaltung und Zwietracht, die aufgrund des Zerfalls der gewaltsamen Einmütigkeit notwendigerweise kommen.

Wäre nun das Christentum auf die Ebene des Mythos zurückgefallen ­ und dies im Kontext eines so zentralen Punktes wie dem der Gottheit Christi ­, so hätte sich dieser Rückfall nach und nach ausgebreitet; er gäbe dem Neuen Testament in seiner Ganzheit ­ verglichen mit der hebräischen Bibel ­ einen regressiven Charakter. Das Neue Testament vollendet aber den Prozeß der Entsakralisierung, indem es offenbart, was nirgendwo sonst geoffenbart worden ist: die mimetische Genese der Sündenböcke und ihre Gründungs- und Strukturierungsfunktion in der menschlichen Kultur.

Im gesellschaftlichen Kontext betrachtet, bleibt zwar die Passion nichts anderes als eines unter vielen Beispielen eines Prozesses, der als Sündenbockmechanismus die menschlichen Kulturen beherrscht. In der Bibel ist dies jedoch jenes Beispiel, das am meisten entmythologisiert wurde. Es ist somit das Beispiel, das am ehesten geeignet ist, uns über diesen Gründungs- und Strukturierungsprozeß aller menschlichen Kulturen ­ über die »Mächte dieser Welt« ­ aufzuklären.

Immer wieder von neuem beginnend und damit auch die lange Liste der seit Anbeginn der Welt aufeinanderfolgenden Morde weiterschreibend, setzt sich der Prozeß bis hin zur Passion Jesu fort. Soll er begriffen werden, muß das Thema der Passion, wie es uns von den Synoptikern überliefert wird, mit jenem Wort über den Teufel, »den Mörder von Anfang an« aus dem Johannesevangelium (Joh 8,44) in Verbindung gebracht werden. Der Satan kann zugleich das Prinzip der Ordnung und der Unordnung sein, weil die von ihm gemeisterte mimetische Gewalt im Sündenbockmechanismus gefesselt wird. Durch das Kreuz wird er aber zum Narren gehalten, weil er um diese prinzipielle Quelle seiner Macht gebracht wird. Viel zu spät begreift er, daß das kümmerliche Geheimnis seiner Macht durch die wahrheitsgetreuen Erzählungen der Passion gelüftet und damit auch neutralisiert wird. Der Geist Gottes, der den Jüngern den Mut zur Offenlegung dieser Wahrheit eingibt, wird mit dem Namen Paraklet gerufen, einem Begriff, der den Verteidiger der Opfer bezeichnet.

All das haben sowohl Schwager und auch ich in der Zeit, als Des Choses cachées geschrieben wurden, begriffen. Doch mir hat dies nicht genügt. Ich glaubte, daß es das vorrangige Interesse der mimetischen Theorie sein müßte, alle apologetischen Kräfte gegen den religiösen Relativismus zu richten. Sie sollte seine Schwäche bloßlegen. Ich wollte nichts, als die Klarheit dieser Position präzisieren; mich drängte es geradezu nach einem Beweis. Der (auch Schwagersche: Anm. des Übersetzers) Rekurs auf den Opferbegriff, der schon den Ritus der archaischen Religionen bezeichnete, für die Beschreibung der Passion Christi, stellte sich somit mir und meinem Programm in den Weg.

Ich fürchtete, daß die traditionelle Definition der Passion im Kontext der Opferbegrifflichkeit, all jenen zusätzliche Argumente liefern würde, die das Christentum an den Typus der archaischen Religion assimilieren wollen. Deswegen habe ich diesen Sprachgebrauch lange Zeit verworfen.

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