3.3 Die Bewertung anderer Religionen im Licht der Theorie Girards
Girard hat seine Religionskritik an den Religionen primitiver Gesellschaften entwickelt. Eine oberflächliche Anwendung auf das Christentum mit seiner Gründung im gekreuzigt-ausgestoßenen Jesus von Nazaret, den es dann als Sohn Gottes verehrte, ließe erwarten, daß dieses ebenso der Girardschen Religionskritik verfallen müsse. Erst Girards sehr differenzierte Untersuchung der jüdisch-christlichen Offenbarungstexte ersetzte diesen Eindruck durch eine überraschende gegenteilige Sicht. Das sollte für die Bewertung der Schlüsseltexte anderer Religionen vorsichtig stimmen. Bis zum Erweis des Gegenteils ist für andere Religionen damit zu rechnen, daß ein genaueres kontextuelles Studium ihrer Texte nichtsakrifizielle Anteile zum Vorschein bringen könnte, die eine erste, oberflächliche Lesung übersieht oder völlig verkennt.
Mit seiner am Evangeliumstext gewonnenen gewaltkritischen Sicht muß die Theorie Girards die Offenbarungsqualität anderer Religionen dennoch nicht apriori leugnen.(22) Vielmehr stellt sie damit ein Instrumentar für eine im einzelnen erst durchzuführende Religionenkritik dar, aber auch für die Erschließung »wahrer und heiliger« Anteile(23) in anderen Religionen, die gegenüber den mehr individualistisch orientierten Kriterien von Rahners suchender Christologie (Nächstenliebe, Zukunftshoffnung, Todesannahme) eine wichtige Ergänzung zu geben vermag und solcherart keinen Widerspruch, sondern sogar eine Bereicherung für Rahners Theorie vom anonymen Christen darstellt.