Pluralismus - ethische Grundintuition - Kirche

Wolfgang Palaver, Wilhelm Guggenberger u.a. (1)

publiziert in: ZkTh 120 (1998) 257-289


Inhalt:


 

1. Die babylonische Verwirrung: Christliche Ethik angesichts von Postmoderne und Pluralismus



Des Menschen Situation in der gegenwärtigen - global immer dichter vernetzten - Gesellschaft ist in einer Weise prekär, die kaum überbietbar scheint. Sein Streben nach einer Gestaltung der Welt gemäß eigener Vorgaben und sein Hang zur Bemächtigung der ihm begegnenden Realität haben ihn in eine höchst ambivalente Position geführt. Einerseits dringen die Wissenschaften in die tiefsten Geheimnisse des Lebens und die fernsten Galaxien vor, sind technische Revolutionen geradezu an der Tagesordnung, floriert das wirtschaftliche Wachstumsmodell längst jenseits von Grenzen, die ihm bereits vor Jahrzehnten als "deadline" prognostiziert worden waren, und faßt das politische Konzept der liberalen Demokratie in immer weiteren Bereichen unseres Planeten Fuß. Andererseits aber sehen wir nicht nur die sozialen und ökologischen Gefahren des Fortschritts, an dem viele von uns als Nutznießer partizipieren, sondern leiden auch am Verlust von Einheit und Orientierung - sowohl der einzelnen Individuen als auch der gesamten Gesellschaft - und wir fühlen die Bedrohung durch scheinbar unmotivierte archaische Formen der Destruktivität. Dies sind die beiden Gesichter einer janusköpfigen Entwicklung, von denen keines ohne das andere zu haben ist. Die Effizienz menschlicher Leistungen hängt - so ein sozialwissenschaftlicher Zentralgedanke der Moderne (2) - wesentlich an einer Form radikaler gesellschaftlicher Arbeitsteilung, die in ihrer gegenwärtigen Ausprägung als funktionale Differenzierung bezeichnet wird. Die praktische Selbsterfahrung vieler Menschen in einem solchen Sozialgefüge, das weder Autoritäten noch Abschlußgedanken erträgt und keine verbindliche Selbstbeschreibung mehr zu entwerfen vermag, (3) ist die eines Rädchens in einer komplexen Maschinerie.

In diese Situation, die der Sprachverwirrung nach dem mißglückten Turmbau zu Babel gleicht, sind auch Ethik und Moraltheologie gestellt. Sie haben dabei nicht nur mit der Pluralität von Ansätzen und Lebensweisen zu kämpfen, sondern mit dem Fehlen einer gemeinsamen Basis, von der die Reflexion über das, was der Mensch ist und was er daher soll, (4) ausgehen könnte. Es ist nicht mehr voraussetzbar, was für die traditionellen Begründungen der Ethik - von Aristoteles bis Kant - selbstverständlich galt: daß sich der Mensch in einer konkreten Gemeinschaft als verantwortliches Wesen erfährt.

Ethiken scheinen vor diesem Hintergrund nur noch als selbstreferentielle Bewertungssysteme denkbar, die wie die Reflexion der Gesellschaft selbst als "... freischwebend konsolidierte Realität, ein sich selbst gründendes Unternehmen ..." (5) erscheinen, unter Verzicht auf einen voraussetzbaren Naturbegriff ebenso wie auf Aprioris der Vernunft. Die Frage nach einem Guten auf das der Mensch, die Gesellschaft sich ausrichten soll und kann, muß in dieser Lage als hoffnungsloser Anachronismus erscheinen. Diese Grundproblematik läßt sich auf allen Ebenen unserer modernen Gesellschaft beobachten. Die aktuelle Diskussion um die schulische Ethikerziehung ist nur ein Beispiel dafür. (6)

Zahlreiche ethische Debatten unserer Gegenwart bleiben ohne Ergebnis. In der Frage der Abtreibung stehen beispielsweise das Recht der Mutter auf Selbstverwirklichung dem Recht des ungeborenen Kindes auf Leben gegenüber. Ganz ähnlich verhält sich die Sachlage in Fragen der politischen oder sozialen Gerechtigkeit, des gerechten Krieges, der Homosexualität, des Umgangs mit sterbenden Menschen ("Euthanasie") oder der Gentechnik. Endgültige Entscheidungen scheinen nicht möglich zu sein. Es scheint heute keine allgemein akzeptierte Rationalität mehr zu geben, um diese Fragen entscheiden zu können. Wir stehen einer Vielzahl nicht miteinander übereinstimmender ethischer Diskurse gegenüber, die zu verschiedenen Ergebnissen in diesen moralischen Debatten führen. Diese Heterogenität der Diskurse kennzeichnet den postmodernen und pluralen Charakter unserer Welt.

Besonders die amerikanische Diskussion um die Ethik hat begonnen, auf diese radikal veränderten Voraussetzungen zu reflektieren. Deshalb gehen wir zunächst auf diese Diskussion ein.

Christliche Ethik im Sinne der traditionellen Naturrechtslehre ist in unserer heutigen Welt in eine schwere Krise geraten. Es gibt nicht nur keine universal akzeptierten Grundprinzipien, um unsere moralischen Konflikte zu lösen. Auch die Erfahrungsgrundlagen, von denen her man argumentieren könnte, sind weitgehend umstritten. Kant konnte in seiner Ethik - vor dem Hintergrund einer langen christlichen Tradition - noch recht problemlos davon ausgehen, daß dem Menschen ein Selbstwert zukommt, und er daher nie zum bloßen Mittel gemacht werden darf. Heute jedoch wird im Menschen mitunter nur noch eine höhere Art von Computer oder ein komplexes Konglomerat von Zellen gesehen, in das weitgehende manipulative Eingriffe erlaubt sind. Gleichzeitig suggerieren die Medien den Menschen - selbst an deren unmittelbaren Bedürfnissen und Wünschen orientiert - sie seien rein auf Bedürfnisbefriedigung und Konsum ausgerichtete Wesen. (7)

Angesichts dieser fundamentalen Krise der naturrechtlichen Argumentation stellt sich aber umso stärker die Frage, ob wir nun umgekehrt zu einer relativistischen und letztlich nihilistischen Position verurteilt sind. Tendenzen in diese Richtung sind heute deutlich zu beobachten. Gegen die Möglichkeit rationaler Entscheidungen in moralischen Fragen wird vielfach behauptet, daß moralische Urteile rein subjektive Gefühlsentscheidungen seien. Diese als Emotivismus bezeichnete Position vertritt die These, daß "alle moralischen Urteile nur Ausdruck von Vorlieben, Einstellungen oder Gefühlen" seien. (8) Nach Alasdair MacIntyre war es Nietzsche der den zentralen Kern der emotivistischen Position einerseits als direkte Folge des Versuchs, Moral rein rational zu begründen, aufzeigte und ihr gleichzeitig jede moralische Harmlosigkeit nahm. Hinter allen moralischen Positionen steht nach Nietzsche der Wille zur Macht. Der autonome Mensch ist der Schöpfer seiner ganz subjektiven Moral. Nach Nietzsche soll an die Stelle allen traditionellen moralischen Geschwätzes der radikale Wille zur Selbstgesetzgebung treten: "Wir aber wollen Die werden, die wir sind, - die Neuen, die Einmaligen, die Unvergleichbaren, die Sich-selber-Gesetzgebenden, die Sich-selber-Schaffenden!" (9) und "Eine Tugend muß unsere Erfindung sein, unsere persönlichste Notwehr und Notdurft: in jedem andern Sinne ist sie bloß eine Gefahr." (10)

Max Weber, der von dieser Einsicht Nietzsches beeinflußt war, folgert daher die Unmöglichkeit einer wissenschaftlichen Entscheidung ethischer Fragen. Hinsichtlich der Werte sei unsere Zeit radikal "polytheistisch". Die einzelnen Werte stehen einander wie die alten Götter in einem "unlöslichen" und "ewigen Kampf" gegenüber. Wissenschaftlich lasse sich beispielsweise zwischen der "Ethik der Bergpredigt" und einer "Ethik der Manneswürde" nicht entscheiden. (11)

Nietzsche und Weber stehen stellvertretend für jenen relativistischen Nihilismus, der eine rationale Begründung ethischer Positionen für unmöglich hält und sich nur noch insofern als ethische Position legitimiert, als er vor den verschleierten Interessensansprüchen jener warnt, die ihre eigenen Machtansprüche bloß moralisch verkleiden. Selbst Kants kategorischer Imperativ, wonach jedes moralische Gesetz verallgemeinerbar sein müsse, ist für Nietzsche nur Ausdruck von Egoismus: "Selbstsucht ... ist es, sein Urtheil als Allgemeingesetz zu empfinden." (12) Als postmoderne Nachfolger Nietzsches vertreten heute viele Menschen eine zynische Position, die sie von allem moralischem Engagement abhält, weil sich hinter moralischen Appellen doch immer wieder nur die jeweiligen Interessen entlarven ließen. (13)

An Nietzsches Kritik des kategorischen Imperativs zeigt sich, daß sein ethischer Relativismus gerade auch vom Scheitern der liberalen, aufklärerischen Ethik gekennzeichnet ist. Was er als Selbstsucht kritisierte, wird heute als impliziter Imperialismus des aufklärerischen Universalismus erkennbar. (14) Kant gehört in die Tradition jenes aufklärerischen Versuchs, der nach dem Zusammenbruch der mittelalterlichen Welt einen Ausweg aus der radikalen Bedrohung durch die Religionskriege zu finden versuchte. An die Stelle der religiös bestimmten Traditionen, die sich in einer tödlichen, die ganze europäische Gesellschaft gefährdenden Konfrontation gegenüberstanden, soll eine allen partikulären Traditionen gegenüber neutrale und reine Vernunft treten. Das Stimmengewirr der Religionskriege, in dem die lebensweltliche lingua franca des Mittelalters untergegangen war, sollte vom Esperanto der Vernunft abgelöst werden. Bis heute versucht diese aufklärerische Tradition mittels einer rein vernunftmäßigen, angeblich von allen Kontexten abstrahierenden Moral - einem moralischen Esperanto - einen Ausweg aus dem babylonischen Wirrsal der modernen Welt zu finden. (15) Konkret können beispielsweise die Ethik Kants, der Utilitarismus (z. B. Bentham, Mill) und die Diskursethik (z. B. Apel, Habermas) als Formen der liberalen Esperanto-Moral verstanden werden.

Doch so wie das Esperanto nicht die konkreten Sprachen ersetzen konnte und keinen wirklich weiterführenden Beitrag zur Verständigung leistete, sind auch alle Versuche einer Esperanto-Moral zum Scheitern verurteilt. Es ist nicht möglich, allein nach einer abstrakten, kontextlosen Moral zu leben. Außerdem ist schon der Anspruch, daß es sich hier um eine gegenüber allen kulturellen Vorgaben neutrale Form von Ethik handeln würde, falsch. Moralische Neutralität ist nicht möglich, und wo sie dennoch behauptet wird, ist sie nichts anderes als eine Form der Verschleierung, die sowohl Nietzsches Verdacht gegen alle Moral als auch den heute akademisch vorherrschenden postmodernen Zynismus speist. Schon das Beispiel des Esperanto selbst zeigt, mit welcher Vorsicht die Behauptung der Neutralität zu betrachten ist. Das Esperanto ist natürlich keine wirklich allen Sprachen gegenüber neutrale Kunstsprache, sondern eine Sprache, die mehr oder weniger nur auf den europäischen Sprachen aufbaut. Die Gefährlichkeit der angeblichen Neutralität aller Esperanto-Moral kann sehr deutlich sowohl am Utilitarismus als auch an der Diskursethik illustriert werden. Weil für den Utilitarismus letztlich nur der Nutzen zählt, führt seine Form der Neutralität direkt zur Vorherrschaft der Sprache des Marktes. (16) Das ist aber keine Neutralität mehr, sondern eine Form von Ökonomismus, der eine ganz konkrete vor allem auf den materiellen Gewinn reduzierte Form von Ethik für das Leben insgesamt bestimmend macht. (17)

Ähnlich steht es um die Diskursethik, für die nur solche ethische Normen Gültigkeit besitzen sollen, die aus einem demokratischen Diskurs freier und gleicher Diskursteilnehmer hervorgegangen sind. Betrachtet man die Voraussetzungen für den Diskurs etwas genauer, zeigt sich, daß hier ein hohes ethisches Ideal bereits verwirklicht sein muß, damit das diskursethische Verfahren überhaupt angewandt werden kann. Ein ganz konkretes Lebensmodell - das eng mit der westlichen, jüdisch-christlich geprägten Tradition verbunden ist - bildet hier die Voraussetzung dieser scheinbar universalen, von konkreten kulturellen Kontexten unabhängigen Ethik. (18) Implizit kennzeichnen daher auch diese Ethik imperialistische Züge. Denn obwohl sie den Anspruch auf universale Gültigkeit erhebt, ist die Diskursethik letztlich doch nur Ausdruck einer ganz bestimmten partikulären Tradition. Michael Walzer vergleicht daher zu Recht die Diskursethik mit einer "Eiche, welche zwar die ganze Bandbreite der unterschiedlichen Bäume anerkennen würde, aber dann für das Abholzen all jener, nun illegitim genannten Bäume eintritt, die nicht als Eichel begannen" (19).

Das Scheitern aller Esperanto-Moral zwingt uns aber nicht, die Position des nihilistischen Relativismus zu übernehmen. In Absetzung von einem Liberalismus, demgemäß sich das einzelne Individuum ständig selbst entwerfen muß und soll, (20) hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten vor allem in den USA mit dem Kommunitarismus eine Bewegung gebildet, die einen Ausweg aus der babylonischen Verwirrung weisen will, ohne der Versuchung des moralischen Esperanto oder des nihilistischen Relativismus zu erliegen. Gegen Nietzsche und den modernen Emotivismus hat beispielsweise MacInytre die These abgelehnt, daß jede Moral notwendig und immer nur Ausdruck eines subjektiven Willens zur Macht sei. Nach MacIntyre führt nur der aufklärerische Versuch, Moral rein rational zu begründen, zu Nietzsche, Weber und dem Emotivismus. Als Alternative dazu verweist MacIntyre auf jene prämodernen Ethikkonzeptionen (z. B. Aristoteles), in denen Moral in einer konkreten Tradition verwurzelt ist und eine konkrete Gemeinschaft zur Voraussetzung hat. Er teilt die Meinung Vicos, daß es kein zeitloses Naturrecht gibt, sondern ethische Werte immer ein Ergebnis der Geschichte sind. Mit Vico interessiert er sich für die Mythen und Narrationen, die für diese konkreten Traditionen bestimmend sind. MacIntyres Skepsis gegenüber Moderne und Aufklärung geht dabei aber soweit, daß er sich als Ausweg nur noch den Rückzug in kleine Gemeinschaften vorstellen kann. Gegenwärtig brauche es "die Schaffung lokaler Formen von Gemeinschaft, in denen die Zivilisation und das intellektuelle und moralische Leben über das neue finstere Zeitalter hinaus aufrechterhalten werden können, das bereits über uns gekommen ist" (21). Diese Tendenz zur Abschottung gegenüber der modernen Welt mit ihrer Tendenz zum Sektiererischen ist wohl überzogen und zu pessimistisch. (22) Aus christlicher Sicht ist die moderne Welt kein bloß "finsteres Zeitalter", sondern wesentlich auch eine langfristige Folge der biblischen Botschaft, wie Welt insgesamt nicht nur Negativfolie des Heils, sondern Adressat der Erlösung ist.

Aber auch ohne MacIntyres radikale Skepsis gegen die Moderne zu teilen, können seine Einsichten in die Notwendigkeit einer narrativen Anbindung an die Tradition und eine Verankerung in einer konkreten Gemeinschaft für jede Ethik positiv aufgenommen werden. In eine solche Richtung weisen Autoren wie Jeffrey Stout und Michael Walzer, die über die sterile Entgegensetzung von Liberalismus und Kommunitarismus hinausgehen, wie MacIntyre die kontextuelle Einbettung einer jeden ethischen Konzeption betonen, gleichzeitig aber auch einen Weg zeigen, in welcher Weise eine solche kontextuelle Form von Ethik im größeren Rahmen der modernen Welt wirksam werden kann.

Stout lehnt wie MacIntyre die Möglichkeit einer Esperanto-Moral ab. Auch für ihn gibt es keine Möglichkeit, aus Geschichte und Kultur einfach "auszusteigen". MacIntyres Deutung der historischen Entwicklung als Verfallsgeschichte lehnt er aber ab. Zwischen Naturrecht und Relativismus schlägt er einen Mittelweg vor. (23) Gegenüber dem Relativismus betont er die Möglichkeit ethischer Wahrheiten ("truth"), die er aber von der konkreten historischen und kulturellen Rechtfertigung ("justificiation") ethischer Positionen unterscheidet. Es gibt nach Stout transkulturelle moralische Wahrheiten, deren Inhalt aber "dünn" ist, und die nur in Form eines kulturell und historisch eingebetteten Vokabulars zur Verfügung stehen. So ist beispielsweise die Ablehnung der Sklaverei heute als eine ethisch wahre Aussage zu erkennen, auch wenn es Zeiten gegeben hat, in denen die Sklaverei ethisch gerechtfertigt war. Der Dialog mit anderen ethischen Traditionen muß immer von einem geschichtlichen und kulturellen Standort aus aufgenommen werden. Der Weg der Esperanto-Moral ist damit ausgeschlossen. Aber der konkrete Ausgangspunkt macht ein Weitergehen möglich. Nach Stout ist die säkulare Rede von den Menschenrechten eine Frucht des Dialogs verschiedener moralischer Traditionen. (24) Im Sinne eines moralischen Pidgin können erste Brücken zwischen verschiedenen konkreten Traditionen geschlagen werden. (25) Wo sich dieser Dialog immer mehr verstärkt, kann daraus langsam eine neue, lebendige moralische Tradition entstehen. Sie entspricht sprachlich dem Kreolischen, das aus einer Pidgin-Sprache als eine neue, lebende Sprache hervorgegangen ist. (26) In der Menschenrechtsethik glaubt er eine solche Form einer moralischen Kreolsprache erkennen zu können.

Ähnlich wie Stout weist auch Walzer die Esperanto-Moral zugunsten maximaler und "dichter" Formen von Ethik zurück. (27) Narrative Traditionen und konkrete Gemeinschaften sind auch für Walzer wichtig. Von dieser maximalistischen Moral unterscheidet Walzer eine "dünne", minimalistische Moral, die dem Dialog zwischen den verschiedenen Traditionen, der gegenseitigen Kritik und der universalen Zusammenarbeit dient. Diese minimalistische Moral benötigt aber zu ihrem Funktionieren eine lebendige maximalistische Moral. Der umgekehrte - für alle Formen von Esperanto-Moral typische - Weg ist nach Walzer nicht möglich.

Für die christliche Ethik ergeben sich aus diesen Überlegungen folgende Konsequenzen: Im Sinne der kommunitaristischen Betonung der geschichtlichen und kulturellen Einbettung jeder Ethik geht es auch für die christliche Ethik heute wieder um eine stärkere Besinnung auf die eigenen Fundamente. Sowohl der eigenen narrativen Tradition als auch der Kirche als dem konkreten Ort christlicher Ethik muß wieder ein gewisser Vorrang eingeräumt werden. Das bedeutet einerseits eine stärkere Rückbesinnung auf die vielfältige biblische Darstellung der dramatischen Beziehungsgeschichte zwischen Gott und seinem Volk und deren innerkirchliche Wirkungsgeschichte und andererseits die Einsicht, daß die Kirche als erster Ort jeder christlichen Ethik angesehen werden muß. Nur eine klare eigene Identität ermöglicht den Dialog mit anderen Traditionen. Nur ein zumindest in Ansätzen gelebter Anspruch befähigt zur Mitarbeit an einer gerechteren und lebenswerteren Welt.

Die Rückbesinnung auf die eigene Tradition darf aber kein Abschotten und keinen Rückzug ins Getto bedeuten. Gerade die universale Dimension der christlichen Botschaft fordert zur weltweiten Zusammenarbeit auf. Eine solche Zusammenarbeit muß aber die eigene Tradition zum Ausgangspunkt nehmen, um von dieser "dichten" Moral ausgehend einen Beitrag auf der Ebene "dünner" Moralkonzeptionen leisten zu können (z. B.: Menschenrechtsfragen). (28) Im Unterschied zur alten Naturrechtstradition besitzen wir Christen heute keinen universalen Standpunkt mehr, sondern können nur ein universales Angebot an alle Menschen richten.





2. Mythos und Heilsgeschichte: Zum narrativen Charakter von Ethik



Als erste Konsequenz für eine christliche Ethik in der heutigen von Postmoderne und Pluralismus gekennzeichneten Welt ist eine stärkere Rückbesinnung auf die eigene Tradition festzuhalten. Jede Rückbindung an die Tradition bedeutet aber zuerst ein Eingebettetsein in eine narrative Tradition. (29) Vor allem durch das Weitererzählen von Geschichten wird eine Tradition konstituiert. Erzählungen, Narrationen oder Mythen im weitesten Sinne des Wortes binden uns an eine Tradition zurück. Thomas Mann hat diesen Zusammenhang pointiert angesprochen: "Was ist Mythos anders als Nachfolge und Erinnerung, die Formung und Prägung des Gegenwärtigen durch das Vergangene, die kindliche Identifikation mit einem bewunderten Vorbilde - kurz Tradition? Mythos ist Tradition, und in der Tradition leben heißt im Mythos leben." (30)

Der grundsätzliche Zusammenhang von Narrationen bzw. Mythen und Wertvorstellungen ist für jede Ethik von entscheidender Bedeutung. Ursprünglich war Ethik immer in einen narrativen Kontext eingebunden. (31) Geschichten und Erzählungen bestimmten zentral das praktische ethische Handeln der Menschen. Mythen und religiöse Erzählungen gehörten zum Grundbestandteil einer jeden Ethik. Das zeigt sich schon bei Homer, für den Ethik und das Erzählen von Geschichten untrennbar miteinander verbunden sind. (32) Selbst für Platon bleibt dieser Zusammenhang bestimmend. (33) Zwar ist er der erste große Philosoph, der die Dichter und damit die Literatur gerade aus ethischen Gründen aus seinem idealen Staat verbannen will; auch er muß aber in seiner "Politeia" selbst auf erzählerische Mittel wie z. B. sein Höhlengleichnis zurückgreifen, um seine rein philosophisch begründete Ethik zu formulieren. (34) Was für Platon gilt, trifft auf die ganze Tradition der Moralphilosophie zu. Niemand kann der Notwendigkeit von Erzählungen ausweichen. Der Zusammenhang von Ethik und narrativem Rahmen läßt sich nicht bestreiten, ohne widersprüchlich zu werden. Selbst die offene Formulierung des kategorischen Imperativs von Kant, die die Verallgemeinerbarkeit sittlicher Normen einfordert, bleibt moralisch fragwürdig, solange nicht jene vier Narrationen hinzugenommen werden, mit denen dieser näher bestimmt wird. (35) Ebenso ist Auguste Comte, der Begründer des Positivismus, ein deutliches Beispiel für den unaufgebbaren Zusammenhang von Narrationen und Ethik. Er glaubte, zu seiner Zeit den Beginn des Zeitalters der Wissenschaft erkannt zu haben, das keinen Bedarf mehr für Geschichten bzw. Mythen habe. Aber auch er mußte eine Geschichte erzählen, um zu zeigen, daß es keine Geschichten mehr brauche. (36)





2.1 Mythen: Zum narrativen Charakter der Ethik



Die sozialphilosophische Bewegung des Kommunitarismus hat unabhängig von der jeweiligen Positionierung ihrer Vertreter im politischen Spektrum die Bedeutung der narrativen Dimension von Ethik deutlich herausgestrichen. Für Richard Rorty, einen Vertreter des Pragmatismus und einem eindeutigen Befürworter der pluralistischen, liberalen Gesellschaft sind heute in der Moralphilosophie "historische Erzählungen und utopische Spekulationen" an die Stelle "allgemeiner Prinzipien" getreten. (37) Auch für Michael Walzer spielen Narrationen eine große Rolle. Die moderne, vor allem amerikanische Freiheitsidee wurzelt nach ihm in der judäochristlichen Verheißung. (38) Ausführlich hat sich Walzer aus diesem Grund mit der politischen Geschichte der immer noch bedeutsamen Exodus-Thematik auseinandergesetzt. (39) Am deutlichsten hat vielleicht Alasdais MacIntyre die systematische Bedeutung von Narrationen für die Ethik herausgearbeitet, wobei er besondere Aufmerksamkeit auf die Notwendigkeit von Narrationen für die Erziehung zur Tugend legte. Nach MacIntyre gibt es "keinen Weg zum Verständnis irgendeiner Gesellschaft einschließlich der eigenen, außer durch den Bestand an Geschichten, die ihre ursprünglichen dramatischen Wurzeln konstituieren. Mythologie - in der ursprünglichen Bedeutung - ist das Herz aller Dinge." (40) Der Mensch ist nach MacIntyre "im wesentlichen ein Geschichten erzählendes Tier". (41) Mythen - im weiten Sinne des Wortes - sind für alle Menschen und besonders für das ethische Handeln grundlegend und notwendig. Der weite Wortsinn von Mythos und Erzählung rückt sehr nahe an das heran, was Ludwig Wittgenstein ein "Nest von Sätzen", ein System von einander gegenseitig stützenden Prämissen und Folgerungen, nannte, das auf dem Grund eines Sprachspieles liegt und die Basis unserer Überzeugungen liefert. (42) Die Frage "Was soll ich tun?" läßt sich nach MacIntyre nur dann beantworten, wenn die vorgängige Frage "Als Teil welcher Geschichte oder welcher Geschichten sehe ich mich?" beantwortet ist, wobei diese Geschichten zunächst einfach vorgefunden werden.

MacIntyre gehört mit seiner Position zu den postmodernen Nachfolgern Nietzsches - auch wenn er mit seinem Versuch, die aristotelische Tradition wiederzubeleben, hinsichtlich einer Lösung der gegenwärtigen moralischen Krise dann einen ganz anderen Weg als Nietzsche und die Postmoderne geht. Mit Nietzsche behauptet er die Unmöglichkeit des aufklärerischen Versuchs, ein rationales, weltliches Fundament für die Ethik zu finden und Regeln ins Zentrum moralischer Überlegungen zu rücken. (43) Mit Nietzsche teilt er die Einsicht in die Notwendigkeit eines narrativen bzw. mythischen Rahmens für die Ethik. Nietzsche betonte bereits in seinem frühen Essay "Die Geburt der Tragödie" die Notwendigkeit von Mythen für das Zusammenleben der Menschen und hoffte auf eine Wiedergeburt des Mythos im Zeichen des kommenden Gottes Dionysos. (44)

Die Bedeutung des "mythischen Bedürfnisses" der Menschen kann auch von völlig anderen weltanschaulichen Grundlagen her betont werden. Der dem Habermasschen Diskursansatz verpflichtete deutsche Philosoph Manfred Frank etwa sieht mit Ernst Bloch eine wesentliche Ursache für den Erfolg des Nationalsozialismus in der Unfähigkeit der Weimarer Republik, den "Begründungsbedürfnissen der Menschen" zu genügen. (45) Alfred Rosenbergs "Mythus des 20. Jahrhunderts" wurde für viele Menschen zur ersehnten Antwort.

Das Beispiel Nietzsches, die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus sowie viele gegenwärtige Tendenzen einer Remythisierung zeigen allerdings die grundsätzliche Ambivalenz, die mit der Verwiesenheit der Menschen auf einen mythischen oder narrativen Rahmen für ihr Handeln und Zusammenleben einhergeht. (46) Als Kriterium zur Unterscheidung unterschiedlichster mythischer Hoffnungen nennt Frank die auf Habermas anspielende "Idee einer Kommunikationsgemeinschaft mit Universalitätsanspruch". (47) Zuwenig klar wird dabei allerdings, aus welcher Erzähltradition sich dieses Kriterium konkret ableitet und welche Erzählungen eine solche Idee am Leben erhalten könnten. Sein sich vielfach wiederholender - vor allem im Zusammenhang mit Hölderlin ausgesprochener - Hinweis auf die frühromantische Identifikation von Dionysos und Christus trägt hier eher zur Verwirrung als zur Klärung bei. (48) Etwas deutlicher wird hier Habermas selbst, der im Anschluß an Frank die Frage zu beantworten versucht, inwiefern sich Nietzsche im Hinblick auf die Erzähltraditionen von den Frühromantikern unterscheidet und dabei dessen Aufgabe der "romantischen Verbindung des Dionysischen mit dem Christlichen" als Schlüssel erkennt. (49) Doch auch Habermas entwickelt - was seine Kommunikationstheorie insgesamt betrifft - kein auf die Inhalte der verschiedenen Narrationen zentriertes Interpretationsmodell, um die verschiedenen Erzähltraditionen systematisch zu unterscheiden und seine eigene Theorie an eine bestimmte Tradition zurückzubinden. (50)

Die Einsicht in die Unausweichlichkeit von Mythen für das ethische Handeln allein, führt nicht weiter. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den jeweiligen Mythen oder Narrationen ist unabdingbar. (51) Von den jeweiligen Inhalten hängt nämlich ab, ob solche Mythen zu den am Beispiel des Nationalsozialismus feststellbaren politischen und ethischen Konsequenzen führen oder ob sie gerade umgekehrt die Würde jedes einzelnen Menschen ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken und das Bild einer Gemeinschaft zum Ausdruck bringen, die ohne Ausgrenzungen und Feindbilder auskommt. Dieser grundsätzlichen Problematik war sich auch Thomas Mann bewußt, als er im Anschluß an Ernst Bloch seine eigene Hinwendung zum Mythos klar von der Verwendung des Mythos im Nationalsozialismus unterschieden wissen wollte und seinen großen Josephs-Roman im Dienste einer "Um-Funktionierung des Mythos" sah: "Der Mythos wurde in diesem Buch dem Faschismus aus den Händen genommen und bis in den letzten Winkel der Sprache hinein humanisiert." (52) Mit Platon, der angesichts der moralisch bedenklichen Mythen Homers eine inhaltlich bestimmte Ausscheidung jener Erzählungen verlangte, die einer Ethik unzuträglich sind, und Thomas Manns Versuch einer Humanisierung des Mythos stehen wir auch heute vor dem Problem einer inhaltlichen Unterscheidung.





2.2 Dionysos gegen den Gekreuzigten: Zur inhaltlichen Differenz zwischen archaischen Mythen und biblischer Heilsgeschichte



Eine Analyse der Inhalte mythischer bzw. narrativer Rahmen entspricht nicht unbedingt dem vorherrschenden Trend in unserer gegenwärtigen Welt. Einhergehend mit der modernen Unentscheidbarkeit zwischen konkreten Inhalten verschiedenerTraditionen und der Beschränkung auf die Diskussion von Verfahrensfragen, die einen Ausweg aus dem Streit der Positionen ermöglichen sollen, ist die Frage nach den Inhalten eher an den Rand gedrängt worden. (53) Eine wichtige Ausnahme bildet hier die mimetische Theorie René Girards, die gerade die inhaltliche Seite in der Interpretation literarischer und mythischer Texte betont. (54) Girard ist in diesem Kontext auch deshalb von Bedeutung, weil er einerseits von der Tradition der aufklärung ausgeht, diese aber andererseits auf ihre Voraussetzungen hinterfragt, was ihn zur Tradition der biblischen Erzählungen zurückführt. In seinem Denken spielt auch das Bewußtsein einer Spannung zwischen universal gültigen Aussagen und partikulären Erzählungen eine Entscheidende Rolle.

Girards Mytheninterpretation (55) steht im Zusammenhang mit seiner These vom Sündenbockmechanismus, nach der archaische Gesellschaften innere, durch mimetische Rivalität hervorgerufene Konflikte dadurch gelöst haben, daß auf unbewußte und kollektive Weise einzelne Gruppenmitglieder von der Gruppe vertrieben oder getötet wurden. Der Sündenbockmechanismus stellt sich für die Gruppe dabei als ein quasi-religiöses Ereignis dar. Die Sündenböcke werden sowohl für die Krise vor ihrer Eliminierung als auch für den Frieden danach verantwortlich gemacht. Aus der verzerrten Perspektive des Lynchmobs erscheinen sie retrospektiv daher als Götter. Die archaischen Mythen sind Darstellungen dieser kollektiven Gewaltereignisse aus der Sicht der Lyncher. Diese Mythen erzählen Geschichten von Göttern oder Helden, die aufgrund ihrer Gefährlichkeit und Bösartigkeit getötet werden mußten, bevor sie sich in segenspendende Gottheiten der jeweiligen Gruppen verwandelten.

Aus dem Sündenbockmechanismus entspringt die menschliche Kultur, die mit einer ganz bestimmten Ethik verbunden ist. (56) Eng verknüpft mit den alten Mythen ist diese archaische Ethik vom Geschehen des Sündenbockmechanismus her bestimmt. Im Zentrum steht der geopferte Sündenbock, dessen angebliches - ihm mythisch zugeschriebene - Fehlverhalten zur Krise führte. Seine Verfehlungen sind die zentralen Verbote der Gemeinschaft. Um das Schicksal des mythischen Helden zu vermeiden, ist den einzelnen Individuen die Nachahmung des Helden verboten. Hingegen muß die Identifikation mit dem verfolgenden Mob hergestellt werden, der keine Schuld an der Krise trägt, das Böse aber - durch Ausgrenzung des "Schuldigen" - abwehren mußte. Auf ritueller Ebene erfolgt die Nachahmung des Mobs in Form bewußt vollzogener Opfer.

Noch in der Philosophie des Aristoteles zeigen sich deutliche Spuren dieser Ethik der archaischen Mythen. Aristoteles rückt das Beispiel von Ödipus - ein aus der Sicht Girards typischer Sündenbock - ins Zentrum seiner Überlegungen über die Katharsis. (57) Die Zuschauer der Tragödie sollen mit dem tragischen Helden mitleiden, um schließlich durch den negativen Ausgang der Tragödie von ihren eigenen Affekten gereinigt zu werden.

Kann die im Sündenbockmechanismus wurzelnde mythische Ethik eine Antwort auf die moralische Krise unserer Gegenwart sein? Auch wenn es immer wieder Versuche gegeben hat und gibt, eine solche Ethik einschließlich ihrer Verwiesenheit auf Sündenböcke wiederzubeleben (z. B. im Nationalsozialismus) (58), für das moderne Denken ist sie durch ihre offensichtliche Strukturierung durch das Opfer diskreditiert. Das läßt sich deutlich am Beispiel von MacIntyre zeigen, der trotz seines Versuchs, eine aristotelische Antwort auf die gegenwärtige moralische Krise zu geben, sich dort von Aristoteles eindeutig distanziert, wo dieser das Scheitern der tragischen Helden allein auf deren eigene Fehler zurückführt. Gegen Aristoteles ergreift MacIntyre für Sophokles Partei, der das Scheitern der Helden als notwendiges Resultat einer tragischen Lebenssituation darstellt, in der sich die Konflikte aus der Unvereinbarkeit einzelner Tugenden ergeben. (59) MacIntyres Parteinahme für die Tragödie deckt sich mit Girards Einsicht in den Unterschied zwischen tragischer und mythischer Sicht. (60) Die Tragödien haben zwar die ursprünglichen mythischen Stoffe zum Inhalt, aber sie präsentieren sie in einer Weise, die die mythische Darstellung unterminiert und auf die mimetische Ursache der Konflikte zurückverweist. Dennoch kommt es aber nach Girard in den Tragödien nicht zu einer endgültigen Überwindung des mythischen Denkens, da der mythische Rahmen in den Tragödien grundsätzlich aufrechterhalten bleibt. Auch wenn es zahlreiche, unübersehbare Hinweise gibt, die beispielsweise Ödipus als Opfer der mimetischen Rivalität erkennen lassen, die Anschuldigungen wegen Inzest und Vatermord werden nirgends direkt zurückgenommen. Die Tragödien verbleiben also in einer Mittelposition zwischen den ursprünglichen Mythen und einer vollkommenen Aufdeckung der mythischen Sündenbockstruktur. Diese Grenze trifft auch auf MacIntyres Moralphilosophie zu. Trotz seiner Zurückweisung der Sündenbocklogik des Aristoteles dringt er nicht ganz zu einer Aufdeckung der mythischen Struktur durch. Auch für ihn bleibt Ödipus z. B. hinsichtlich der Hybris - relativ zur Gemeinschaft gesehen - schuldig. (61)

Weil sich MacIntyre inhaltlich nicht genügend stark auf die biblische Perspektive einläßt, ist es ihm nicht möglich, die Begrenztheit der Tragödien zu überschreiten. (62) Trotz mancher kritischer Bemerkungen hinsichtlich des Verhältnisses von Aristoteles zur biblischen Sicht, bleibt er zu sehr seinem philosophischen Vorbild verhaftet. Aus der Sicht der Theorie Girards zeigt sich, daß die biblische Perspektive der tragischen Position überlegen ist und genau jenen Schritt über die Tragödie hinaus geht, der zur Aufdeckung des den archaischen Mythen zugrundeliegenden Gewaltmechanismus führt. (63) Diese von Girard herausgearbeitete Sonderstellung der biblischen Texte ist für eine Auseinandersetzung mit einer "christlichen" Ethik von entscheidender Bedeutung.

Worin besteht nun nach Girard die Besonderheit der "Mythen" der Christen? In welchem Verhältnis stehen sie zu jenen mythischen Texten, die Produkte des Sündenbockmechanismus sind? Oberflächlich und formal betrachtet bilden archaische Mythen und die biblischen Texte eine Einheit. Krisenphänomene, Gewalttaten und Sündenböcke, die zur Krisenlösung dienen, lassen sich in beiden Texten finden. Diese Parallelen erklären, warum viele moderne Denker des 19. und 20. Jahrhunderts die biblischen Texte den archaischen Mythen gleichgestellt haben. Girards Analyse hebt sich von dieser gängigen Sicht radikal ab. (64) Er verweist auf Nietzsches berühmte Entgegensetzung von Dionysos und dem Gekreuzigten, um auf die inhaltlichen Unterschiede zwischen den archaischen Mythen und den biblischen Texten hinzuweisen, die sich hinter den oberflächlich sichtbaren Parallelen erkennen lassen: "Dionysos gegen den 'Gekreuzigten': da habt ihr den Gegensatz. Es ist nicht eine Differenz hinsichtlich des Martyriums, - nur hat dasselbe einen anderen Sinn." (65) Mittels Girards mimetischer Theorie läßt sich dieser unterschiedliche Sinn präzise herausarbeiten. Ähnlich den archaischen Mythen beschreiben auch die biblischen Texte kollektive Gewalttaten gegen einzelne Menschen. Doch die Perspektive, die gegenüber diesen Gewalttaten eingenommen wird, ist der mythischen Sicht radikal entgegengesetzt. Während in mythischen Texten der Sündenbockmechanismus aus der Sicht der Verfolger dargestellt wird, geben die biblischen Texte das gewaltsame Geschehen aus der Sicht der Opfer wieder. (66) Natürlich finden sich auch im biblischen Kanon, der ja ein langes Ringen um das rechte Gottesvertändnis spiegelt, mythisch geprägte Texte. Die zentralen Texte der Schrift jedoch, wie die Schriften der Propheten (besonders die Lieder vom Leidenden Gottesknecht des Deuterojesaja), die Psalmen, das Buch Ijob oder die Evangelien des Neuen Testaments (besonders die Passionsgeschichte Jesu), sind wesentlich von dieser Perspektivenumkehr gekennzeichnet. Die Unschuld des Opfers (Jes 53,9; Joh 1,29; 15,25) wird hervorgehoben, während die Verfolger für die Gewalttat verantwortlich gemacht wird (Jes 53,4f; Mk 15,13; Lk 23, 10-12; Joh 11,50; Apg 4,25-27).





2.3 Jesus und die Jünger als Vorbilder einer christlichen Ethik



Dieser biblischen Perspektivenumkehr entspricht eine den archaischen Mythen völlig entgegengesetzte Ethik. Während der mythischen Sicht der Sündenbock als schuldig gewordenes, negatives Beispiel dient und die positive Identifikation den Verfolgern gilt, stellt die Bibel die verfolgten Opfer und die zur Einsicht gelangten Verfolger als beispielhaft und nachahmenswert dar. Das negative Beispiel aus der Sicht der Bibel sind jene Verfolger, die ihre eigene Gewalttat nicht erkennen wollen oder können und daher die Umkehr verweigern.

Das Modell Jesu ist den Menschen dabei nicht im Sinne einer abstrakten und damit letztlich gewalttätigen platonischen Lehre einfach als hohes Ideal vorgegeben, das in der Welt der Menschen durchgesetzt werden muß, sondern wird gerade aufgrund seines radikalen Einlassens auf die Menschen und ihre Welt im Sinne einer dramatischen Heilsgeschichte zum Vorbild jeder christlichen Ethik. (67) Das irdische Wirken Jesu ist durchgängig geprägt von einseitiger Vorleistung (vgl. Phil 2,6-8). Gott wurde Teil der menschlichen Geschichte, bot den Sündern in Jesus die Verzeihung ihrer Untaten an und forderte sie zur gegenseitigen Versöhnung auf. Aus dieser Botschaft entsprang die Aufforderung zur Feindesliebe und zur Gewaltfreiheit (Mt 5,44f). Ihre unmittelbare Wirkung war aber kontraproduktiv: Jesu Angebot stieß auf breite Ablehnung. Seine Worte über das drohende Gericht machten auf die Folgen dieser Haltung aufmerksam. Als aber dadurch die Ablehnung noch intensiver wurde und zur Gewalt führte, reagierte Jesus nicht mit Gegengewalt auf die Feindseligkeit der Menschen, sondern ging gemäß seiner eigenen Botschaft der Gewaltfreiheit den Weg bis ans Kreuz. Wie ein Sündenbock wurde er von den Menschen getötet. Aber selbst auf diese letzte und radikalste Ablehnung reagierte er nicht mit Vergeltung und Rache, sondern führte seine eigene Botschaft der Feindesliebe in die Praxis über und gab sich für jene hin, die ihn verfolgten. Nachdem er von Gott auferweckt worden war, machte er den Jüngern ihr Versagen nicht zum Vorwurf, sondern schenkte ihnen mit dem österlichen Gruß die Verzeihung für ihre Untreue: (Lk 24,36: "Friede sei mit euch!"; vgl. Joh 20,19.26). Diese durch alle Ablehnung und Gewalt hindurch festgehaltene Botschaft und Praxis der Gewaltfreiheit und des Verzeihens öffnete einer kleinen Gruppe seiner früheren Bewunderer die Augen und ließ sie den tieferen Sinn der Reich Gottes Botschaft erkennen. Die konsequent gelebte Gewaltfreiheit Jesus und die Erfahrung der göttlichen Verzeihung in der Begegnung mit dem Auferweckten ermöglichte ihnen eine Umkehr. (68)

Über die allgemeine Grundrichtung hinaus bestand das konkrete vorösterliche Handeln Jesu immer wieder darin, den Menschen ihre Verstrickung in kollektiven Gewaltzusammenhängen bewußt zu machen und sie zu einer Umkehr anzustoßen. Ein anschauliches Beispiel dafür ist die Geschichte der Ehebrecherin (Joh 8,1-11), die mit der Absicht sie zu steinigen vor Jesus hin geführt wird. (69) Die Aufforderung, wer ohne Sünde sei, möge den ersten Stein werfen, wird zur kreativen Unterbrechung der kollektiven Zusammenrottung. Vereinzelt verlassen die Verfolger nacheinander den Platz, ohne die Frau weiter zu behelligen.

Jesu Vorbild ist sowohl in seinem ganzen dramatischen Weg als auch in den vielen kreativen Anstößen zur Umkehr von entscheidender Bedeutung für eine christliche Ethik. Es geht nicht um das bloße Verkünden hoher Ideale, sondern um das Gehen eines gemeinsamen Weges, der bei den Menschen immer wieder durch Rückfälle und kontraproduktive Folgen gekennzeichnet ist. Erst das geduldige Durchtragen der negativen Konsequenzen, die die Verkündigung der christlichen Botschaft stets von neuem mit sich bringt, und das 'Umschmelzen' des Bösen in Gutes ermöglichen langfristig einen Weg aus der Gewalt. Dabei ist es wichtig zu sehen, daß wir Christen diesen Weg nicht aus eigener Kraft gehen können und müssen, sondern von Anfang an als Beschenkte handeln dürfen. Bereits der Aufforderung Jesu zur Feindesliebe und Gewaltfreiheit ging die Heilung "aller" Kranken und Leidenden (Mt 4,24) voraus. (70) Vor allem aber das Pfingstereignis macht deutlich, daß wir auf die Ausgießung des Heiligen Geistes (Apg 1,1-13) hoffen dürfen. Nur in seiner Kraft und im Blick auf den auferweckten Jesus ist es uns überhaupt möglich, den Weg der Gewaltfreiheit auch dann zu gehen, wenn unsere eigene Existenz bedroht wird.

Neben dem Weg Jesus ist aber auch die Gruppe der umgekehrten Verfolger für eine christliche Ethik wichtig. Hier sind vor allem die Jünger als herausragendes Beispiel zu nennen. Im Neuen Testament wird ihr Schuldigwerden beim Tod Jesu hervorgehoben. Sie haben zwar, mit Ausnahme von Judas, nicht offen gegen ihren Meister Stellung bezogen, ihn aber im entscheidenden Augenblick in Untreue verlassen (Mk 14,50). Nur Petrus, der von sich selbst meinte, daß er sich der allgemeinen Zusammenrottung gegen Jesus entziehen könne, folgte dem Gefangengenommenen in einigem Abstand in den hohepriesterlichen Palast (Mk 14,54). Doch auch er blieb nicht treu und verleugnete sogar dreimal seinen Herrn (Mk 14,66-72). Texte wie die Verleugnung des Petrus sind ein wesentlicher Bestandteil der neuen Ethik des Christentums. Sie schieben nicht wie die mythischen Texte alle Schuld auf ein Opfer ab, sondern bringen die eigene Verfangenheit in menschliche Konflikte und das eigene Versagen zum Ausdruck. Ein ähnlich wichtiges Beispiel findet sich in der Apostelgeschichte (Apg 9,1-22) und den Paulinischen Briefen (1 Kor 15,9; Gal 1,13-16), wo gezeigt wird, wie Saulus, ein Verfolger der jungen christlichen Gemeinde, sich bekehrt und zu einem Apostel Christi wird.

Wir haben uns sowohl vom Weg Jesu wie von der Erfahrung der Jünger, in denen das menschliche Versagen sichtbar wird, leiten zu lassen. "Beide Wege zusammen - das Vorbild Jesu und das Bild unserer Schwäche - können uns zeigen, wie in der Kraft des göttlichen Geistes die abgründige Welt der Gewalt mit ihrer sowohl erschreckenden als auch faszinierenden und überwältigenden Macht schrittweise erhellt und überwunden werden kann." (71) Jesus ist einen Weg gegangen, dem wir in eigener Kraft nicht folgen können. (72) Eine abstrakte und absolute Ethik der Gewaltfreiheit überfordert die Menschen, wie die Erfahrung der Jünger lehrt, über die wir uns nicht stellen dürfen. Eine abstrakte Ethik müßte früher oder später in ihr Gegenteil umkippen. In kritischen Situationen bedarf es immer eines Abwägens, bei dem wir einerseits auf das Beispiel Jesu schauen und anderseits die menschliche Schwäche nicht überspielen, um so durch ein Erspüren im Geist das zu finden, was im Augenblick möglich ist. Die christliche Ethik ist deshalb wesentlich eine Ethik des Wegs, und diesen Weg haben wir in der Gemeinschaft derer zu gehen, "die ein ähnliches Ziel verfolgen und durch deren Liebe und Verzeihen wir die göttliche Liebe auch konkret erfahren können" (73).





2.4 Christliche gegen platonische Ethik



Durch einen Vergleich mit Platons idealistischer Ethik kann die Eigenart der christlichen Ethik des Weges, die den dramatischen Charakter des Heilsgeschehens in sich aufgenommen hat, deutlich herausgearbeitet werden. Platon teilt mit der christlichen Ethik die Ablehnung der Gewalttätigkeit der archaischen Mythen. Gerade aus diesem Grund will er rigoros alle Dichtung und Kunst beaufsichtigen und regulieren. (74) Auch Platons Ideal zielt auf Gewaltfreiheit. (75) Bei ihm findet sich sogar eine Parallele zur biblischen Aufdeckung des Sündenbockmechanismus, wo er auf das gewalttätige Schicksal von Sokrates anspielend in seinem Höhlengleichnis von der tödlichen Gefahr spricht, die jenem droht, der aus dem Reich der Ideen in die Höhle zurückkehren würde. (76) Doch alle diese Gemeinsamkeiten dürfen nicht darüber hinweg täuschen, wie groß dennoch der Unterschied zwischen Platons Ethik und einer christlichen Ethik bleibt. Platons Ideenwelt bleibt der Welt gegenüber abgehoben und abstrakt. Er will sich auf die menschliche Realität nicht einlassen, sondern die Welt soll vielmehr in Richtung der Ideale gezwungen werden. (77) Während Jesus seine Botschaft der Gewaltfreiheit im Zusammenleben mit den Menschen praktisch lebendig werden läßt und erst sein Weg der Gewaltfreiheit diese Haltung wirklich verständlich macht, steht Platon für den Versuch, mittels Zwang und Gewalt zu seinem Ideal von Gewaltfreiheit zu gelangen. Platons idealer Staat bleibt im "Himmel". (78) Es gibt keine Inkarnation und kein Einlassen Gottes auf die Wege der Menschen. Während Jesus als Sohn Gottes in Knechtsgestalt das Leben der Menschen teilte und uns so erlöste, ist die Befreiung aus der Höhle bei Platon nur mittels Zwang und Gewalt möglich. (79) Überall ist diese Zwangsgewalt in Platons Staat anwesend. So müssen die Dichter beispielsweise aus seinem Staat ausgeschlossen werden, weil die Brüchigkeit, Leidenschaftlichkeit und Gewalttätigkeit der Menschen verborgen bleiben muß. Platons "ideale" Ethik ist eine idealistische Prinzipienethik, die unauflöslich mit der Form gewalttätiger Durchsetzung verbunden bleibt. (80)

Die Versuchung des platonischen Idealismus bzw. einer reinen Prinzipienethik muß gerade deshalb deutlich angesprochen werden, weil sie bis heute eine der großen Versuchungen für die Kirche geblieben ist. (81) Eine christliche Ethik darf nicht mit der Durchsetzung "christlicher" Grundsätze verwechselt werden, sondern muß in der Nachfolge des Heilsdramas Jesu wesentlich eine Ethik des Weges und gemeinsamen Gehens bleiben, die die bestehenden Bedingungen zum Ausgangspunkt nimmt, ohne sich mit ihnen abzufinden. Konkret kann dies in Form einer "komponierende Ethik" geschehen. (82)

Eine dem Idealismus entsagende, narrativ konzipierte Ethik entzieht sich der Forderung nach ihrer Letztbegründung jenseits spezifisch gefärbter Traditionen und Weltbilder. Sie stellt sich damit dem Vergleich mit anderen Ethikentwürfen und bekommt hypothetischen Charakter; d.h. ihre Gültigkeit erweist sich erst in ihrer transformierenden Kraft und in einer langfristigen geschichtlichen Praxis. Damit entspricht narrative Ethik dem hypothetischen Element dramatischer Theologie. (83) So wie diese ihre Hypothesen an ihrer Erklärungskraft hinsichtlich der vielschichtigen Phänomene der modernen Welt messen lassen muß, muß jene sich hinsichtlich ihrer Problemlösungskapazität hinsichtlich ethischer und sozialer Problemfelder und an der Fähigkeit, neue Erfahrungen zu inkorporieren, prüfen lassen. Ebenso freilich, wie dramatische Theologie ihre Inhalte nur im wissenschaftlichen Feld als Hypothesen einführt, sehr wohl aber von der Glaubensgewißheit ihrer Vertreter ausgeht, fordert narrative Ethik die entschiedene, wenn auch lernbereite Orientierung der Lebenspraxis an einem konkreten Modell, das eine Zielrichtung vorgibt, aber nicht als Präjudiz über alle künftig zu fällenden Entscheidungen mißverstanden werden darf.





2.5 Die Bewährung christlicher Ethik



Die christliche Ethik hat sich in ihrer bisherigen Geschichte nicht dadurch bewährt, daß Christen sich im Vergleich zu Nichtchristen als die eindeutig besseren Menschen erwiesen hätten. Wohl aber ist zu beobachten, daß ihre zentralen Wertgehalte durch lange Entwicklungsprozesse hindurch auch im nichtchristlichen Raum Aufnahme fanden. Selbst die heutige Kritik am Christentum bedient sich in einem hohen Grad jener Maßstäbe, die sie vom Christentum entliehen hat. So entspringt die moderne Betonung der individuellen Menschenwürde und die ethische Sensibilität gegenüber allen Opfern letztlich dem biblischen Denken. Die biblische Sicht des Menschen und der sozialen Beziehungen resultiert aus der uneingeschränkten Identifikation mit den von der Gemeinschaft verfolgten und ausgestoßenen Opfern und Sündenböcken, ohne daß damit eine bloße Vertauschung der Rollen sanktioniert würde. Der verfolgte und bedrängte Mensch - das ausgestoßene und verfolgte Opfer - ist für die Bibel der Mensch schlechthin. So heißt es in Joh 19,5 "Ecce homo" ("Seht, da ist der Mensch") und damit ist der gegeißelte, mit Dornen gekrönte und als Judenkönig verspottete Sündenbock Jesus gemeint. Dieses Bild des Schmerzensmannes wurde zum Vorbild für die Verfolgten und Verspotteten auf dieser Erde, zu deren Rettung und Rehabilitation das biblische Menschenbild aufruft. Die Identifikation mit den ausgestoßenen und geringgeachteten Opfern kommt auch in der bekannten Gerichtsrede Jesu zum Ausdruck, in der er das Kriterium nennt, nach dem beim Weltgericht Schafe und Böcke unterschieden werden (Mt 25). Nach Jesus geht es darum, wie sich die Menschen jenen gegenüber verhalten haben, die ausgestoßen und an den Rand geschoben wurden. In den Hungrigen, Dürstenden, Fremden, Obdachlosen, Nackten, Kranken, oder Gefangenen begegnen wir Jesus selbst. Gerade mit diesen Opfern jeder Gesellschaft hat sich Jesus identifiziert. Jesus von Nazareth, der als Opfer den Schandtod am Kreuz sterben mußte, steht auf der Seite all jener, die aus der Gemeinschaft vertrieben oder in den Tod gedrängt werden. "Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan." (Mt 25,40) Nietzsche erkannte klar, daß aus der christlichen Identifikation mit den Opfern die grundsätzliche Überwindung der Sündenbockkultur folgt: "Der Einzelne wurde durch das Christenthum so wichtig genommen, so absolut gesetzt, daß man ihn nicht mehr opfern konnte: aber die Gattung besteht nur durch Menschenopfer ... Die ächte Menschenliebe verlangt das Opfer zum Besten der Gattung - sie ist hart, sie ist voll Selbstüberwindung, weil sie das Menschenopfer braucht. Und diese Pseudo-Humanität, die Christenthum heißt, will gerade durchsetzen, daß Niemand geopfert wird ..." (84)

Ähnlich verändert das Christentum die für das mythische Weltbild typischen sozialen Differenzen. Die Unterscheidung zwischen Sklaven und Freien und die Unterschiede zwischen Griechen und Barbaren wurden hinfällig. Eine grundsätzliche Gleichheit zwischen allen Menschen folgt aus der christlichen Aufhebung der mythischen Differenzen: "Ihr seid alle durch den Glauben Söhne Gottes in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus (als Gewand) angelegt. Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid 'einer' in Christus Jesus." (Gal 3,26-28) Langfristig hat sich aus dieser neuen Sicht der menschlichen Beziehungen jene Gleichheitsauffassung herauskristallisiert, die zum Fundament der modernen Demokratie geworden ist und eine Triebkraft zu einer universalen, grenzensprengenden Solidarität der Völker darstellt. (85) Wiederum läßt sich auf Nietzsche verweisen, der auch diese Konsequenz des Christentums in seiner zugespitzten Polemik zum Ausdruck brachte. Im "Begriff von der Gleichheit der Seelen vor Gott [...] ist das Prototyp aller Theorien der gleichen Rechte gegeben: man hat die Menschheit den Satz von der Gleichheit erst religiös stammeln gelehrt, man hat ihr später eine Moral daraus gemacht: und was Wunder, daß der Mensch damit endet, ihn ernst zu nehmen, ihn praktisch zu nehmen! will sagen politisch, demokratisch, socialistisch, entrüstungs-pessimistisch." (86)





3. Die Kirche als primärer Ort christlicher Ethik



Als zweite Konsequenz für eine christliche Ethik in unserer vom Pluralismus gekennzeichneten Welt wurde die Forderung erhoben, die Kirche als ersten Ort einer christlichen Ethik anzusehen. Dies ist eine Folgerung aus der Abhängigkeit jeder Ethik von einer entsprechenden Gemeinschaft, in der diese auch praktisch gelebt wird. Daher ist sie nicht nur mit dem Erzählen von Geschichten unauflöslich verknüpft, sondern immer auch an einen konkreten Ort gebunden. (87) Ethik war ursprünglich immer lokal verwurzelt. Dies zeigt sich schon anhand des etymologischen Ursprungs des Wortes "Ethik". Ethik leitet sich von "Ethos" ab, das zunächst einen gewohnten Ort - für Tiere beispielsweise die vertraute Weide - meint, der den Charakter seiner Einwohner prägt. Wiederum läßt sich auf Homer als deutlichstes Beispiel verweisen.Die Ethik des Aristoteles baut direkt auf diese konkrete Verortung der Ethik bei Homer auf. (88) Für Aristoteles gibt es keine Möglichkeit eines tugendhaften Lebens außerhalb der Polis. Die konkrete Polis ist für die Ethik konstitutiv. Ein isoliertes Individuum kann demnach keine tragfähige ethische Lebenshaltung einnehmen.

Während einer langen Periode in unserer christlich-abendländischen Kultur war die Kirche der gesellschaftliche Ort der christlichen Ethik. Dieser Zusammenhang zerbrach mit den Religionskriegen. Als gesellschaftlicher Ort der Ethik löste der neuzeitliche Nationalstaat die mittelalterliche Kirche ab. Seine fast mechanische Neigung zu kriegerischen Auseinandersetzungen hat aber auch ihn als ethische Gemeinschaft fragwürdig gemacht. Heute scheint Ethik im Sinne eines abstrakten Universalismus jeden konkreten gesellschaftlichen Ort verloren zu haben. Einer Welt von zunehmend atomisierten Individuen drohen jene konkreten Gemeinschaften abhanden zu kommen, die es dem einzelnen Menschen allein ermöglichen, einem ethischen Anspruch gerecht werden zu können. (89) Alleingelassen und isoliert ist für das einzelne Individuum der Druck der Massengesellschaft viel zu groß, um dann Widerstand leisten zu können, wenn dies ethisch geboten erscheint.





3.1 Der kommunitaristische Ruf nach konkreten Gemeinschaften



Die moderne universalistische Ortlosigkeit wird heute vor allem von den Vertreter des Kommunitarismus kritisiert. Aber genauso wie der narrative Charakter der Ethik als solcher ambivalent ist und einer inhaltlichen Unterscheidung bedarf, ist auch der Ruf nach einer Verortung der Ethik in konkreten Gemeinschaften ambivalent. Sowohl die lokal verwurzelte Ethik archaischer Gemeinschaften als auch die griechische Koppelung der Ethik an die Polis sind von jener in den entsprechenden Texten zum Ausdruck kommenden Sündenbocklogik gekennzeichnet. Die griechische Polis gründet notwendig auf der nach außen gerichteten Feindschaft gegen die Barbaren. Am besten illustrieren diesen Zusammenhang die "Eumeniden" des Aischylos. (90) Aischylos beschreibt im dritten Teil der "Orestie", wie sich mit der Entstehung der griechischen Polis die traditionelle Blutrache in staatliches Recht verwandelte. Aus den gewalttätigen Erinnyen, den Rachegöttinnen, werden die sanften und segensreichen Eumeniden. Scheinbar ist dadurch alle Gewalttätigkeit aus der Stadt verschwunden. Aber das gilt nur für einen oberflächlichen Befund. Strukturell hat sich die individuelle Gewalt in die kollektive Gewalt gewandelt, die zwar im Binnenbereich der Polis Frieden erzeugt, sich aber gegen äußere Feinde und innere Abweichler jederzeit entladen kann. Der Chor der befriedeten Eumeniden beschreibt, wie nach dem Ende der Blutrache und der Etablierung des staatlichen Rechts sowohl die allumfassende Liebe als auch der einmütige, kollektive Haß gegen dritte den Bürgerkrieg überwinden helfen. (91) Dieser kollektive Haß gilt einerseits den Feinden vor den Toren der Stadt und andererseits den inneren Feinden, die ausgestoßen werden müssen, wenn sie die Gesetze der Polis mißachten. (92) Auch bei Platon und Aristoteles ist diese Freund-Feind-Struktur der griechischen Polis deutlich ausgesprochen. (93)

Wenn heute manche Kommunitaristen lokale und konkrete Gemeinschaften gegen den abstrakten Universalismus stellen, so zeigt sich die Problematik der antiken Polis mitunter in Gestalt eines bedenklichen mit dem modernen Nationalstaat verbundenen Patriotismus. (94) MacIntyre neigt beispielsweise in diese Richtung. (95) Ein Ernstnehmen der kommunitaristischen Betonung konkreter Gemeinschaften muß daher mit jener inhaltlichen Überwindung der archaischen Sündenbocklogik einhergehen, wie sie für die zentralen Texte der Bibel oben herausgearbeitet wurde. Es stellt sich also im Hinblick auf eine christliche Ethik die Frage, inwiefern die Kirche, die als konkrete Gemeinschaft mit der biblischen Erzählung so verbunden ist wie Aischylos' "Eumeniden" oder Aristoteles' Philosophie mit der griechischen Polis, auch als gelebte Gemeinschaft die antike Sündenbocklogik überwinden konnte.

Wie schon im Gegensatz zur idealistischen Ethik Platons festgehalten wurde, verdanken sich die biblischen Erzählungen der realen Erfahrung konkreter Gemeinschaften. Für die Texte des Alten Testaments sind die Erfahrungen des Volkes Israel, für die Erzählungen des Neuen Testaments ist das neue Volk Gottes, die Kirche, konstitutiv. Die enge Verbundenheit der christlichen Ethik mit der konkreten Kirche ist dabei schon in der Verkündigung Jesu grundgelegt. Seine Bergpredigt richtete sich beispielsweise nicht abstrakt an die Welt als solche, sondern an das Volk Gottes. (96) Jesus verstand seine eigene Botschaft wesentlich als Sammlung eines neuen Gottesvolkes. (97) Die frühe Kirche, die aus der Bekehrung einer kleinen Gruppe von Menschen entstand, die selbst der Zusammenrottung gegen Jesus nicht wirklich widerstehen konnten, setzte - im Glauben an die Auferweckung Jesu und getragen von der Ausgießung des Heiligen Geistes - diese Sammlung fort, (98) die sich geradezu als Kriterium für das Handeln Gottes in der Geschichte erweist. (99) In der liturgischen Feier der Eucharistie wurde in der frühen Kirche das Gegenkonzept zur Sündenbockstruktur auf ganz lokaler Ebene lebendige Wirklichkeit. Das Drama des Lebens Jesu wurde im liturgischen Drama vergegenwärtigt und bildete den ersten Ort einer neuen Ethik der Christen. (100)

Insofern es diesen frühen kirchlichen Gemeinschaften gelang, gemäß der biblischen Überwindung der Sündenbocklogik Einheit ohne äußere Feinde als negative Projektionsfläche herzustellen, bildeten diese Gemeinschaften "Kontrastgesellschaften" zu ihrer vom Sündenbockdenken strukturierten heidnischen Umgebung. Für die Kirche als neue Polis war nicht mehr die Feindschaft nach außen konstitutiv, sondern die Einheit wurzelte in einer neuen Form des Zusammenlebens, die unabhängig von den gängigen kulturellen Unterscheidungen war (Apg 2,42-47; 4,32-35; Gal 3,28). Die Kirche bestand aus kleinen lokalen Gemeinschaften und war gleichzeitig - weil sie nicht gezwungen war, durch äußere Feinde innere Einheit herzustellen - auf eine neue Form des Universalismus ausgerichtet, der in der Verbindung aller kirchlichen Gemeinschaft im Bekenntnis zu ihrem einen Haupt Jesus Christus bestand. Hier zeigt sich das Grundmodell eines Universalismus, der den Ansprüchen der modernen kommunitaristischen Kritik am abstrakten - platonischen- Universalismus gerecht wird, ohne auf die Ebene einer Ausschließungslogik zurückzufallen.





3.2 Das 'sakrifizielle Christentum'



Der Charakter der Kontrastgesellschaft war allerdings von Anfang an gefährdet. In der Auseinandersetzung mit der Gnosis lehnte die werdende bischöfliche Kirche es zwar ab, sich ganz in Opposition zum alttestamentlichen Juden-Gott zu definieren, dennoch kam es zu einer systematischen antijüdischen Haltung und im eigenen Raum zu einer stärkeren Betonung des Hierarchischen. Durch eine weitgehende Rezeption der mittelplatonischen Logoslehre und der platonisch-stoischen Ethik begann die Kirche ferner, sich in einen ihr fremden Denk- und Lebensrahmen einzufügen. Dieser Prozeß stellte zwar eine Fortführung des Weges Israels dar, der immer auch in der Auseinandersetzung mit differenten Sinnentwürfen und der Konfrontation der bisherigen Gotteserfahrung mit diesen bestand, stand damit aber auch in der Gefahr der Entfremdung von zentralen Offenbarungsgehalten. (101)

Mit der konstantinischen Wende wurden die Dinge noch komplexer. Der durch die Kaiser geförderte Prozeß der Dogmenbildung führte zwar zu einer grundlegenden Kritik der von den Apologeten rezipierten Logoslehre. Dafür setzte man - ähnlich wie in heidnischen Gesellschaften - die staatlichen Gewaltmittel systematisch bei religiösen Auseinandersetzungen und für kirchliche Interessen ein. (102) Die menschliche Verantwortung für die Gewalt wurde zunehmend verschleiert, während Gott erneut jene für die heidnische Welt typischen gewalttätigen Züge erhielt. Aus der veränderten soziologischen und geistesgeschichtlichen Stellung der Kirche ergab sich folglich eine Interpretation der biblischen Texte, die unter gewissen Rücksichten heidnischen Mythen ähnlich war. Girard spricht in diesem Zusammenhang von einem 'sakrifiziellen Christentum' (103).

Zusammen mit der Entlastung der Menschheit von der - für alle gleichermaßen bestehenden - Verantwortung für die Gewalt, begann erneut die Jagd auf Sündenböcke. Juden-, Ketzer- und Hexenverfolgungen, Kreuzzüge und Religionskriege gingen mit der sakrifiziellen Deutung der biblischen Schriften einher. Politisch benötigte diese Form des Christentums genauso wie die archaische Welt ihre äußeren Feinde. (104) Die mit der konstantinischen Wende begonnene machtmäßige Verknüpfung von Staat und Kirche, die teilweise bis in unser Jahrhundert andauerte, begründete folglich eine Art christlicher Kultur, die der Welt der archaischen Mythen in manchen Zügen näher stand als den biblischen Erzählungen. Vor allem im Element des Staates und in der Auseinandersetzung mit Feinden wirkte unter der christlichen Oberfläche ein nicht überwundenes Heidentum fort. (105)





3.3 Zur katholischen Neubesinnung auf Evangelium und Kirche



In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts drängte dieses Heidentum wieder an die Oberfläche. Die Nationalsozialisten versuchten tatsächlich, den Staat im Sinne seiner heidnischen Ursprünge Wirklichkeit werden zu lassen. Nietzsches Option für Dionysos wurde grausame politische Realität. Diese einschneidende Erfahrung stellte endgültig viele über Jahrhunderte vorherrschende Konzepte innerhalb der katholischen Kirche in Frage. Das Ende des zweiten Weltkriegs und die Überwindung des Nationalsozialismus führten nach einem langen Prozeß der Auseinandersetzung mit der modernen Welt zu einem radikalen Umdenken und einer Neupositionierung der Kirche. Entscheidende Bedeutung kommt dabei dem II. Vatikanischen Konzil zu. Die Konzilsväter verabschiedeten sich von der engen Verklammerung mit dem Staat und stellten die Kirche selbst als beispielgebende Gemeinschaft in das Zentrum ihrer politischen und ethischen Überlegungen. Im Konzilsdokument "Lumen gentium" bezeichnete sich die Kirche als Sakrament der Einheit und als unzerstörbare Keimzelle des Friedens und der Versöhnung aller Menschen. (106) Das Dokument über die Religionsfreiheit brachte den Bruch mit dem bisher vorherrschenden Konstantinismus zum Ausdruck. (107) Dem früheren Ideal des katholischen Staates wurde eine klare Absage erteilt. So wie mit der Konstantinischen Wende ein Verdrängen der biblischen Botschaft aus dem Zentrum des gesellschaftlichen Lebens der christlich-abendländischen Kultur einherging, läßt sich parallel mit der Absage des Konzils an den Konstantinismus eine stärkere Rückbesinnung auf die biblische Heilsgeschichte feststellen. (108) Ausdrücklich wurde ein verstärkte Konzentration auf die Schrift für die einzelnen theologischen Disziplinen gefordert, wobei auch die Moraltheologie eigens genannt wurde. (109) Ganz konkret zeigt sich die Hinwendung zur biblischen Offenbarung im Bereich der Ethik am Beispiel der verstärkten Betonung der Gewaltfreiheit in der lehramtlichen kirchlichen Verkündigung.

Die jüngste Sozialenzyklika "Centesimus annus" von Johannes Pauls II. aus dem Jahre 1991 kann als lehramtliches Beispiel für dieses neue Selbstverständnis der Kirche im Bereich der Ethik herangezogen werden. Die für Johannes Paul II. typische stärkere Hinwendung zu den biblischen Quellen im Vergleich zur früher stark vorherrschenden naturrechtlichen Tradition (110) kommt gleich zu Beginn des Textes zum Ausdruck, wenn er betont, daß es "keine echte Lösung der 'sozialen Frage' außerhalb des Evangeliums" gebe. (111) Verbunden mit dieser Hinwendung zum biblischen Text kommt auch der Gewaltfreiheit geradezu die Rolle eines interpretatorischen Schlüssels in der Analyse der herrschenden Ideologien und gesellschaftlichen Entwicklungen zu. (112) Vor diesem Hintergrund sind auch die kritischen Stellungnahmen des Papstes zum Golfkrieg von 1991 zu verstehen. (113)

Das Ende des Konstantinismus, d. h. auch der Welt der abendländischen Christenheit, zwingt die Kirche, sich selbst stärker in den Mittelpunkt ihrer eigenen ethischen Forderungen zu stellen. Die mittelalterliche Welt oder der neuzeitliche Nationalstaat haben als primärer Ort des ethischen Handelns der Kirche endgültig ausgedient. Zwar gibt es heute und für die Zukunft durchaus auch neue Formen einer konstantinischen Versuchung, insofern es Tendenzen im Christentum allgemein gibt, die moderne Demokratie und die pluralistische Gesellschaft als genuine und primäre Orte christlicher Ethik anzusehen. (114) Aber solche Tendenzen verkennen einerseits die Tatsache, daß die Kirche ihre traditionelle gesellschaftliche Bedeutung verloren hat, und überschätzen die eigenen Möglichkeiten der Kirche. Wenn für die christliche Ethik die narrativen Traditionen der Bibel und die für die ethische Verwirklichung der biblischen Inhalte notwendig damit verbundenen liturgischen Praktiken in Zukunft mehr an Bedeutung gewinnen werden, wird es gleichzeitig schwieriger werden, christliche Ethik als direkten Appell auch an jene Menschen zu richten, die außerhalb der christlichen Tradition stehen. Hier braucht es sehr viel mehr Bescheidenheit von seiten der Kirche. Die Kirche wird sich stärker als neue Polis sehen müssen, deren sozialethische Dimension sich vor allem in ihrem eigenen konkreten Leben zeigen muß, um dadurch der Welt als Beispiel und Vorbild zu dienen. Der ethische und politische Appell an die Welt als solche folgt als notwendiger, aber zweiter Schritt. Gerade auch gegenüber gegenüber der modernen demokratischen Gesellschaft gilt, daß zuerst die christliche Ethik in der Kirche selbst gelebt werden muß. (115)

Gegenwärtig befindet sich die katholische Kirche bezüglich dieser neuen Problemstellungen in einer Art Übergangsstadium. Einerseits finden wir immer noch Überbleibsel des alten Konstantinismus, im Selbstverständnis einer Kirche, die sich direkt für die politischen Belange der Welt verantwortlich fühlt und daher auch glaubt, ganz konkrete ethische Appelle an die Welt richten zu müssen. Wo aber in solchen Fällen kirchlicherseits das vorgelebte Beispiel fehlt, unterminiert das die ethische Glaubwürdigkeit. Kirchliche Aufrufe zur Demokratisierung der Gesellschaft beispielsweise machen eine Diskrepanz von Wort und Tat sichtbar, die dem ethischen Appell die Wirksamkeit entzieht und kontraproduktive Folgen mit sich bringt. (116) Die Kirche kann nicht Lehrmeisterin der weltlichen Demokratie sein. Dazu fehlt ihr nicht nur die nötige praktische Erfahrung mit der modernen Demokratie, sondern darin verfehlt sie auch ihre eigentliche Aufgabe. Die Kirche müßte der Welt im Sinne von Lk 22,24-30 ein Modell des Zusammenlebens der Menschen als einer Gemeinschaft von Dienenden vorleben, das der weltlichen Demokratie in seiner konkreten Verwirklichung des biblischen Gleichheitsimpulses als ein noch einzuholendes Vorbild dienen könnte. (117) Ein Abgehen von konstantinischen Modellen zeichnet sich dort ab, wo die Kirche in der ethischen Verkündigung ihre eigentliche Aufgabe wieder in den Vordergrund stellt. In der Sozialenzyklika "Centesimus annus" lassen sich auch in dieser Richtung neue Ansätze erkennen. Bescheiden bekennt die Kirche, daß sie "keine eigenen Modelle vorzulegen hat", sondern ihre Soziallehre nur als "unerläßliche und entsprechende Orientierung" anbietet. (118) Die theologische Dimension der Soziallehre wird herausgestrichen und ausdrücklich betont, daß "Gott und das Heilsmysterium in Christus" das Licht sind, in dem die konkreten sozialen Fragen zu behandeln sind. (119) Ebenso wird die nötige Vorbildwirkung der Kirche hervorgehoben, denn "für die Kirche darf die soziale Botschaft des Evangeliums nicht als eine Theorie, sondern vor allem als eine Grundlage und eine Motivierung zum Handeln angesehen werden. ... Die Kirche ist sich heute mehr den je dessen bewußt, daß ihre soziale Botschaft mehr im Zeugnis der Werke als in ihrer Folgerichtigkeit und inneren Logik Glaubwürdigkeit finden wird." (120)





3.4 Der christliche Beitrag zum Weltethos



Die Forderung, die Kirche als ersten Ort einer christlichen Ethik anzusehen, darf aber nicht zu einer sektiererischen Abschottung von der Welt führen. Die Kirche ist nur der erste Ort im Sinne einer maximalistischen, "dichten" Moral, die uns für jede ethische Konzeption unerläßlich zu sein scheint. Der Beitrag der Kirche zu einer Welt der Gerechtigkeit, des Friedens und der Bewahrung der Schöpfung darf deshalb nicht unterbleiben. Er ist aber auf der Ebene einer minimalistischen, "dünnen" Moral anzusiedeln, wo die Kirche mit Vertretern verschiedenster ethischer Konzeptionen in einen Dialog tritt.

Dieses grundsätzliche Verhältnis zwischen dem ersten Ort christlicher Ethik und dem christlichen Beitrag zu einem Weltethos mit seinen daraus folgenden Konsequenzen kann am Beispiel zweier protestantischer Theologen näher dargestellt werden. Der schwedische Theologe Arne Rasmusson hat in einer umfassenden Studie die "Politische Theologie" Jürgen Moltmanns mit der "Theologischen Politik" von Stanley Hauerwas verglichen. (121) Am Beispiel des Themas Menschenrechte läßt sich dabei zeigen, daß Moltmann eher im Sinne der eingangs kritisierten liberalen Esperanto-Moral argumentiert, während Hauerwas als Beispiel für die These von der Kirche als dem ersten Ort christlicher Ethik angesehen werden kann. (122)

In einem Artikel aus dem Jahre 1990 plädierte Moltmann für eine stärkere Betonung der Menschen-, Menschheits- und Naturrechte. (123) Zur Sicherung des Überlebens der Menschheit müssen sich nach Moltmann alle Religionen der universalen Rechts-Ethik unterordnen. (124) Eine spezielle theologische Begründung der Menschenrechte scheint dabei nicht mehr notwendig zu sein. Menschenrechte sind nach Moltmann etwas Selbstverständliches und würden allen Menschen unmittelbar einleuchten. (125) Moltmanns Position, die auf den ersten Blick durchaus plausibel erscheint, ist aber nicht unproblematisch. Seine Unterordnung aller partikulären religiösen Traditionen unter die universale Rechts-Ethik führt faktisch zu einer generellen Privatisierung von Religion. Unhinterfragt akzeptiert er damit die Logik der säkularen Welt und widerspricht seinem Grundanliegen einer politischen Theologie, mit der er gerade gegen diese Privatisierungstendenz der Moderne ankämpfen wollte. Auch über Pflichten spricht Moltmann in seinem Plädoyer für die Menschenrechte praktisch nicht. Zu sehr scheint seine Argumentation - in Übereinstimmung mit dem modernen Liberalismus - allein von der Idee der individuellen Selbstverwirklichung geprägt zu sein. Als direkte Adressaten für Moltmanns moralischen Appell drängen sich der Staat oder ein möglicher Weltstaat auf, während die Kirche nicht in den Blick kommt. Auch die Neigung der Esperanto-Moral zum Imperialismus läßt sich in Moltmanns Artikel erkennen, wo er jene Religionen, die sich nicht der universalen Rechtsethik unterordnen wollen, als "Feinde des Menschengeschlechtes" bezeichnet.

Der methodistische Theologe Stanley Hauerwas nimmt im Gegensatz zu Moltmann eine völlige andere Haltung zum Thema Menschenrechte ein. (126) Er kritisiert zuerst die zunehmende Einforderung von Rechten in der heutigen politischen Debatte. Schon die Verwendung des Wortes "Gerechtigkeit" sei zumindest fragwürdig. Da nach Hauerwas in der liberalen Demokratie nicht mehr länger bekannt ist, was mit "Gerechtigkeit" überhaupt gemeint sei, wäre darunter nur noch ein Name für eine Verfahrensregel zu verstehen, um dem privaten Guten nachgehen zu können. Ohne substantielle Konzepte von Gerechtigkeit erscheine dann jede Begierde als legitim. Der Streit Recht gegen Recht, wie wir ihn heute beispielsweise aus der Abtreibungsdebatte kennen, ist ein typisches Ergebnis eines solchen bloßen Einforderns von Rechten. Im Hintergrund der modernen Rede von Gerechtigkeit steht nach Hauerwas das Konzept einer Gesellschaft autonomer Individuen. Das alleinige Einklagen von Rechten in einer derart atomisierten individualistischen Gesellschaft führe aber paradoxerweise nicht zu mehr Freiheit, sondern zum Aufbau großer nationalstaatlich organisierter Bürokratien, die automatisch zum Imperialismus neigen.

Nach Hauerwas sollten Christen diese Logik des "bürokratischen Individualismus" nicht akzeptieren. (127) Deshalb tritt er dafür ein, die Kirche zum Ausgangspunkt ethischer Überlegungen zu machen. Die Kirche biete eine Alternative zu dieser Logik, da sie eine von Tugenden und einer gemeinsamen Vision getragene Gemeinschaft sei. Damit will Hauerwas aber keinen sektiererischen Rückzug in die Sakristei oder ein hochmütiges Schwelgen in kirchlicher Selbstgerechtigkeit unterstützen. Ausdrücklich fordert er nämlich zum kirchlichen Zeugnis in und für die Welt auf. Trotz seiner Kritik an der Kontraproduktivität der Einforderung von Rechten ist Hauerwas nämlich nicht prinzipiell gegen eine christliches Engagement für Gerechtigkeit und Menschenrechte. Was er jedoch mit großem Nachdruck betont, ist die Tatsache, daß das Sprechen von Rechten nur sinnvoll ist, wo es von einer substantiellen moralischen Sprache abhängig bleibt. Im Vordergrund müsse immer die Frage stehen, welche Menschen wir eigentlich sein wollen. Zur Beantwortung dieser Frage bleibe aber für Christen die biblische Vision vom Menschen wesentlich. (128)

 

 

Anmerkungen:



1. Dieser Beitrag ist Teil des Forschungsprojektes "Religion - Gewalt - Kommunikation - Weltordnung" der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Innsbruck und schließt an den Artikel R. Schwager/J. Niewiadomski u.a., Dramatische Theologie als Forschungsprogramm. In: Zeitschrift für Katholische Theologie 118 (1996) 317-344. (Die englische Fassung dieses Textes ist unter der Internetadresse http://info.uibk.ac.at/c/c2/c204/volltext/frsen0.html abrufbar.) Der vorliegende Text wird von folgenden Personen mitgetragen: Prof. Herwig Büchele (christliche Gesellschaftslehre), Prof. Józef Niewiadomski, Dr. Dietmar Regensburger (Dogmatik / Politologie), Dr. Willibald Sandler (Dogmatik), Prof. Matthias Scharer (Katechetik), Mag. Walter Schmolly (Fundamentaltheologie), Prof. Raymund Schwager (Dogmatik). An den Diskussionen haben sich ferner beteiligt: Prof. Martin Hasitschka (neutestamentliche Bibelwissenschaft) Mag. Elmar Koziel (Dogmatik), Prof. Otto Muck (Philosophie), Dr. Roman Siebenrock (Fundamentaltheologie), DDr. Peter Tschuggnall (Dogmatik / Literaturwissenschaft), Mag. Nikolaus Wandinger, Prof. Franz Weber (Pastoraltheologie).

2. W. Reese-Schäfer, Grenzgötter der Moral. Der neuere europäisch-amerikanische Diskurs zur politischen Ethik. Frankfurt a.M. 1997, 29. N. Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 3, Frankfurt a.M. 1989, 151.

3. So lautet die Diagnose Luhmanns in Beobachtungen der Moderne. Opladen 1992, 42.

4. Zum traditionellen Verständnis einer untrennbaren Einheit von bejahbarem Selbstbild und Ethos siehe z.B. die Darstellung L. Wingerts in Gemeinsinn und Moral. Grundzüge einer intersubjektivistischen Moralkonzeption. Frankfurt a.M. 1993.

5. N. Luhmann, Soziale Systeme. Frankfurt a.M. 51994, 173.

6. Vgl. M. Scharer, Wieviel Religion braucht die Schule? Zur gesellschaftlichen Plausibilität von Religions- und Ethikunterricht. In: Theologisch-praktische Quartalschrift 145 (1997) 376-383.

7. Vgl. die Ausführungen in N. Bolz, Die Sinngesellschaft. Düsseldorf 1997.

8. A. MacIntyre, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart. Aus dem Englischen von W. Rhiel. Frankfurt am Main 1995, 26.

9. F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft Nr. 335. In: Ders., Kritische Studienausgabe. Hrsg. von G. Colli und M. Montinari. München 21988. Bd. 3, 563. Vgl. MacIntyre, Verlust 154f.

10. Ders., Der Antichrist Nr. 11. In: Ders., Kritische Studienausgabe. Hrsg. von G. Colli und M. Montinari. München 21988. Bd. 6, 177.

11. M. Weber, Wissenschaft als Beruf. Nachwort von F. Tenbruck. Stuttgart 1995, 34.

12. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft (s. Anm. 9) Nr. 335.

13. Vgl. die Doppelnummer der Zeitschrift "Merkur" (50, Heft 9/10 [1996]) mit dem Titel "Moral. Und Macht".

14. Vgl. M. Walzer, Lokale Kritik - globale Standards. Zwei Formen moralischer Auseinandersetzung. Aus dem Amerikanischen von Ch. Goldmann. Mit einem Nachwort von O. Kallscheuer. Berlin 1996, 177f, 183.

15. J. Stout, Ethics After Babel: The Languages of Morals and Their Discontents. Boston: Beacon Press, 1988, 294, versteht unter "moralischem Esperanto" jene moralische Sprache, nach der optimistische Vertreter der Moderne streben. Sie ist eine moralische Sprache, die in der (unrealistischen) Hoffnung erfunden wurde, daß alle Menschen sie sprechen wollen.

16. Vgl. ebd. 286.

17. Besonders deutlich wird diese Position in Karl Homanns ökonomischem Imperialismus, der davon ausgeht, daß nicht nur das wirtschaftliche Agieren des Menschen im engeren Sinne, sondern sein gesamtes Verhalten eines ist, das unter der Bedingung der Knappheit steht und sich an der Maxime von Kosten und Nutzen orientiet. "Die Moderne Ökonomik verläßt ihren Status als 'Wirtschaftswissenschaft' und wird zu einer allgemeinen Theorie menschlichen Verhaltens." K. Homann, Die Funktion der Moral in der modernen Wirtschaft. In: Wirtschaftsethik und Theorie der Gesellschaft. Hrsg. von J. Wieland. Frankfurt a.M.1993, 32-53, hier 44.

18. In J. Habermas, Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze. Frankfurt a.M. 1988, 23 formuliert der Autor selbst die Abhängigkeit zentraler abendländischer Werte von der jüdisch-christlichen Tradition und betont die Notwendigkeit deren substanzieller Aneignung.

19. M. Walzer, Lokale Kritik (s. Anm. 14) 28f. Zu verweisen ist hier auch auf die problematische Einengung der Subjekte der Ethik auf jene, die rational diskursfähig sind, was zu den Möglichkeitsbedingungen dieses Ansatzes gehört. Vgl. in Anlehnung an Helmut Peukert H.J. Höhn, Die Vernunft, der Glaube und das Nichts. Zur Rationalität christlicher Existenzhermeneutik. In: Theologie, die an der Zeit ist. Entwicklung, Positionen, Konsequenzen. Hrsg. von H.-J. Höhn. Paderborn 1992, 139-172, hier bes. 167. Der gleiche Autor verweist auf die Notwendigkeit einer unterhalb der diskursiven Eben liegenden Gleichheit, soll eine Aporie zwischen Rationalität und Humanität vermieden werden. In: Soziale Differenzierung und plurale Vernunft. Komprehensive Rationalität als Basis einer christlichen Sozialethik. In:, Christliche Sozialethik zwischen Moderne und Postmoderne. Hrsg. von Th. Hausmanninger. Paderborn 1993, 91-110, hier 106.

20. Vgl. M. Walzer, Die kommunitaristische Kritik am Liberalismus. In: Kommunitarismus. Eine Debatte um die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften. Hrsg. von A. Honneth. Frankfurt a.M. 1993, 157-180, bes. 179.

21. A. MacIntyre, Verlust (s. Anm. 8) 350.

22. Vgl. J. Stout, Ethics (s. Anm. 15) 219, 222-224.

23. Ebd. 13-32.

24. Ebd. 80f.

25. Nach J. Stout ebd. 294, ist das "moralische Pidgin" eine vereinfachte moralische Sprache, die dazu entwickelt wurde, um als Brücken-Dialekt die Kommunikation zwischen Gemeinschaften zu ermöglichen, die sonst durch keine moralische Sprache miteinander verbunden sind. Vgl. M. Walzer, Kritik und Gemeinsinn. Drei Wege der Gesellschaftskritik. Frankfurt am Main 1993, 22.

26. Nach J. Stout (s. Anm. 15) 294, ist eine "moralische Kreolsprache" eine moralische Sprache, die als moralisches Pidgin beginnt und eventuell immer reichhaltiger wird, bis sie als Sprache zur moralischen Reflexion gebraucht werden kann (z. B. Sprache der Menschenrechte).

27. M. Walzer, Lokale Kritik (s. Anm. 14) 13-36.

28. Hans Küngs Weltethikprojekt geht in diese Richtung. Die Problematik seines Ansatzes liegt einerseits darin, daß zu sehr die Repräsentanten von Lehren, d.h. professionelle Ethiker und sog. moralische Ikonen als Subjekte des interreligiösen Dialogs verstanden werden, nicht primär lebendige religiöse Gemeinschaften (vgl. die Kritik von R. Spaemann, Weltethos als 'Projekt'. In: Merkur 50 (1996) 893-904, hier bes. 900), und daß die verschiedenen religösen Traditionen nochmals aus einer gleichsam neutralen Position der Humanität auf wertvolle und wertlose Bestandteile hin geprüft werden (H. Küng, Projekt Weltethos. München 1990,114-122). Letzteres entspricht der Darstellung Luhmanns, wonach sich das traditionelle Verhältnis zwischen Theologie und Ethik völlig verkehrt hat und nun nur noch jene Religion als akzeptabel erscheint, die die Examina der Moral zu bestehen vermag (Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1997, 1039).

29. Vgl. A. MacIntyre, Verlust (s. Anm. 8) 297.

30. Th. Mann, Essays. Bd. 5: Deutschland und die Deutschen 1938-1945. Hrsg. von H. Kurzke und S. Stachorski. Frankfurt am Main 1996, 389. Diese Aussage steht zeitlich am Beginn seiner Arbeit an der Roman-Tetralogie "Joseph und seine Brüder", mit der er sich angesichts der Brüchigkeit der individualistisch geprägten, bürgerlichen Welt während der Weimarer Republik verstärkt auf die biblische Tradition zurückzubesinnen begann.

31. Wenn hier von Ursprüngen die Rede ist, so sind diese universal- wie individualgeschichtlich zu verstehen. Auch das Kind lernt moralische Maßstäbe nicht in der Form ausformulierter Normen, sondern anhand von Beispielen, die einer gemeinsamen Lebensform und damit aus Geschichte und Geschichten entspringen. So Y.-Y. Han/A. W. Müller, Moralische Erziehung ohne Fundament. In: Pädagogik und Ethik. Beiträge zu einer zweiten Reflexion. Hrsg. von K. Meyer-Drawe/H. Peukert/J. Ruhloff. Weinheim 21996, 29-62, hier 45-47.

32. Vgl. A. MacIntyre, Verlust (s. Anm. 8) 163-175; T. Siebers, Morals & Stories. New York 1992, 61-76.

33. Platon, Staat 376e-377a. Vgl. T. Siebers, Morals (s. Anm. 32) 77-87.

34. Vgl. H. Blumenberg, Höhlenausgänge. Frankfurt am Main 1996, 83-181.

35. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung der Metaphysik der Sitten. Hrsg. von W. Weischedel. Frankfurt am Main 1995, 51-54. Vgl. A.MacIntyre, Verlust (s. Anm. 8) 68f; T. Siebers, Morals (s. Anm. 32) 109-112.

36. Vgl. S. Hauerwas, Selig sind die Friedfertigen. Eine Einführung in die christliche Ethik. Hrsg. und eingeleitet von R. Hütter. Aus dem amerikanischen Englisch von G. M. Clicqué. Neukirchen-Vluyn 1995, 70. Wie J. Milbank, Theology and Social Theory: Beyond Secular Reason. Oxford 1990, 263-276, im Anschluß an Paul Ricoeur zeigt, gehören Narrationen überhaupt wesentlich zur menschlichen Kultur. Auch Sozial- und Naturwissenschaften können ihren narrativen Charakter nicht ablegen und verbleiben innerhalb eines narrativen Rahmens. Vgl. P. Ricoeur, What Is a Text? Explanation and Understanding. In: A Ricoeur Reader: Reflection and Imagination. Edited by M. J. Valdés. New York 1991, 43-64.

37. R. Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität. Übersetzt von C. Krüger. Frankfurt am Main 1992, 108. Selbst setzt er sich beispielsweise mit Vladimir Nabokovs Roman "Lolita" oder George Orwells literarischem Werk auseinander. Vgl. ebd. 229-304.

38. Vgl. O. Kallscheuer, Ein amerikanischer Gesellschaftskritiker. Michael Walzers kommunitärer Liberalismus. In: M. Walzer, Kritik und Gemeinsinn (s. Anm. 25) 148.

39. M. Walzer, Exodus und Revolution. Aus dem Amerikanischen von B. Rullkötter. Berlin 1988.

40. A. MacIntyre, Verlust (s. Anm. 8) 289.

41. Ebd. 288.

42. L. Wittgenstein, Über Gewißheit. Hrsg. von G.E.M. Ascombe/G.H. Wright. Oxford 1969, §§ 141, 204, 225. Han/Müller, Moralische Erziehung (s. Anm. 31) wenden die Ausführungen Wittgensteins, die sich auf Erkenntnis im allgemeinen beziehen, auf die Grundlegung moralischer Urteile an. "Auch bei moralischen Überzeugungen ist also - wie bei Tatsachenurteilen - Unbezweifelbarkeit nicht 'Klarheit und Deutlichkeit' des Geschauten, sondern Fraglosigkeit des Handelns" (ebd. 45). Damit soll nicht aus Faktischem Normatives abgeleitet, wohl aber darauf hingewiesen werden, daß unser Handeln immer auf einem unhinterfragten Fundament an Grundüberzeugungen aufruht, das wir mit einzelnen Urteilen und Entscheidungen gleichsam mitschlucken, ohne es nochmals begründen zu können.

43. Vgl. A. MacIntyre, Verlust (s. Anm. 8) 154-162, 341-345.

44. F. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie Nr. 23. In: Studienausgabe (s. Anm. 9) Bd. 1, 145-149. Vgl. M. Frank, Gott im Exil. Vorlesungen über die Neue Mythologie. II. Teil. Frankfurt am Main 1988, 18-71. Frank hat aufgezeigt, daß Nietzsches Position in diesem Punkt keineswegs originell ist, sondern an jene deutschen Frühromantiker (Hölderlin, Schelling, Schlegel etc.) anschließt, die angesichts der Bedrohung des gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen durch die zersetzenden Kräfte der aufklärerischen analytischen Vernunft eine neue Mythologie forderten. Nietzsche geht nach Frank aber dort einen eigenen Weg, wo er in seiner Hoffnung auf einen künftigen Mythos die universalistische Ausrichtung der Romantiker zugunsten einer partikular-nationalistischen Option verengt.

45. Ebd. 28-41; M. Frank, Kaltes Herz - Unendliche Fahrt - Neue Mythologie. Motiv-Untersuchungen zur Pathogenese der Moderne. Frankfurt am Main 1989, 111f. Vgl. E. Bloch, Erbschaft dieser Zeit. Erweiterte Ausgabe. Frankfurt am Main 1962; Über Ungleichzeitigkeit, Provinz und Propaganda. Ein Gespräch mit R. Traub und H. Wieser (1974). In: Gespräche mit Ernst Bloch. Hrsg. v. R. Traub und H. Wieser. Frankfurt am Main 1975, 196-207.

46. Frank verneint daher die Frage, ob wir einen neuen Mythos bräuchten, um seine von den Frühromantikern übernommene Hoffnung auf einen neuen Mythos der Vernunft, den er in der Nähe der Kommunikationstheorie von Habermas ansiedelt, von den irrationalistischen Hoffnungen Nietzsches, Alfred Rosenbergs, Alfred Baeumlers und deren gegenwärtigen Nachfolgern abzugrenzen. Frank, Herz (s. Anm. 45) 111.

47. Ebd. 110.

48. Das trifft auch auch auf Ernst Blochs revolutionär gestimmte Identifizierung von Dionysos und Christus zu. Siehe Bloch, Erbschaft (s. Anm. 45) 358-366.

49. J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt am Main 21985, 114f.

50. Vgl. W. Palaver, Macht und Gewalt. Eine kritische Auseinandersetzung mit Hannah Arendt und Jürgen Habermas. In: Theologische Ethik im Diskurs. Eine Einführung. Hrsg. von W. Lesch und A. Bondolfi. Tübingen 1995, 205-207.

51. Vgl. P. Ricoeur, Myth as the Bearer of Possible Worlds. In: Ricoeur Reader (s. Anm. 36) 482-490, hier 485.

52. Th. Mann, Essays (s. Anm. 30) 189. Vgl. Manfred Dierks, Studien zu Mythos und Psychologie bei Thomas Mann. Aus seinem Nachlaß orientierte Untersuchungen zum "Tod in Venedig", zum "Zauberberg" und zur "Joseph"-Tetralogie. Bern 1972, 260.

53. Zur Wichtigkeit der Beachtung der inhaltlichen Dimension P. Rottländer, Ethik in der Politischen Theologie. Johann Baptist Metz zum 65. Geburtstag. In: Orientierung 57 (1993) 152-158. Im deutschsprachigen Raum ist der Begriff der narrativen Theologie unlösbar mit dem Namen Metz verbunden. Gerade der Metzsche Ansatz der Ethik bei Leidenserinnerung macht deutlich, daß das gegen narrative Ethik gewandte Argument, sie sei grundsätzlich konservativ, weil notwendig an einem bestehenden, vorgefundenen Ethos orientiert, nicht treffen muß. Gerade der Bezug auf eine Leidensgeschichte als Grunderzählung - so sinngemäß Rottländer - verunmöglicht jede billige Versöhnung mit der Realität, wodurch auch und gerade eine narrativ ansetzende Ethos-Ethik enorme gesellschaftliche Sprengkraft enthalten kann.

54. R. Girard, Das Heilige und die Gewalt. Aus dem Französischen von E. Mainberger-Ruh. Zürich 1987; Das Ende der Gewalt. Analyse des Menschheitsverhängnisses. Übersetzung aus dem Französischen von A. Berz. Freiburg 1983; Der Sündenbock. Aus dem Französischen von E. Mainberger-Ruh. Zürich 1988; Hiob - ein Weg aus der Gewalt. Aus dem Französischen von E. Mainberger-Ruh. Zürich 1990. Neben Girard sind unter anderem auch Paul Ricoeur und Emmanuel Lévinas zu nennen, die ausdrücklich die Frage der Inhaltlichkeit in den Vordergrund stellen. Vgl. E. Lévinas, Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen. Aus dem Französischen von F. Miething. München 1995, 141.

55. Die Kriteriologie, die Girard aus dieser Interpretation entwickelt, liefert unserer Forschungsgruppe zugleich das Instrumentarium zur Deutung und Einordnung von religiösen, politischen und psychischen Erfahrungen rund um die Problematik menschlichen Zusammenlebens in echtem Frieden auf der Ebene einer Hilfshypothese . Vgl. R. Schwager/J. Niewiadomski u.a., Dramatische Theologie (s.Anm. 1) 335f.

56. Vgl. R. Girard, Die Einheit von Ethik und Ästhetik im Ritual. In: Ethik der Ästhetik. Hrsg. von C. Wulf, D. Kamper und H. U. Gumbrecht. Berlin 1994, 71f.

57. Aristoteles, Poetik 1449b, 1452a, 1453a. Vgl. R. Girard, Heilige (s. Anm. 52) 427-430.

58. Nach R. Girard, Wenn all das beginnt ... Dialog mit Michel Treguer. Aus dem Französischen von P. Veldboer. Thaur, Münster 1997, 19, war der Nationalsozialismus ein neuheidnischer Versuch, mittels der Opferung der Juden die alten Mythen wiederherzustellen.

59. MacIntyre, Verlust (s. Anm. 8) 190-195, 211f, 219, 239.

60. Girard, Heilige (s. Anm. 54) 107-112, 118, 191, 195, 201-205.

61. A. MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality? Notre Dame 1988, 58.

62. Vgl. Milbank, Theology (s. Anm. 36) 327-332; Reinhard Hütter, Evangelische Ethik als kirchliches Zeugnis. Interpretationen zu Schlüsselfragen theologischer Ethik in der Gegenwart. Neukirchen-Vluyn 1993, 5f.

63. Girard, Sündenbock (s. Anm. 54) 179f.

64. R. Girard, Mimetische Theorie und Theologie. In: Vom Fluch und Segen der Sündenböcke. Raymund Schwager zum 60. Geburtstag. Hrsg. von J. Niewiadomski und W. Palaver. Thaur 1995, 15-29.

65. Nietzsche, Studienausgabe (s. Anm. 9) Bd. 13, 266 (Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1888, 14[89]).

66. Im ersten, wissenschaftstheoretisch orientierten Artikel unseres Forschungsprogramms wurde dieser Perspektivenwechsel in die Kernhypothesen dramatischer Theologie eingearbeitet, vgl. Schwager/Niewiadomski u.a., Dramatische Theologie (s. Anm. 1) 334.

67. Vgl. H. Büchele, Christlicher Glaube und politische Vernunft. Für eine Neukonzeption der katholischen Soziallehre. Wien 1987, 132-169; R. Schwager, Jesus im Heilsdrama: Entwurf einer biblischen Erlösungslehre. Innsbruck 1990; Schwager/Niewiadomski u.a., Dramatische Theologie (s. Anm. 1).

68. Vgl. Schwager/Niewiadomski u.a., Dramatische Theologie (s. Anm. 1) 334f.

69. Vgl. R. Girard, Wenn (s. Anm. 58) 169-175.

70. Vgl. G. Lohfink, Wem gilt die Bergpredigt? Beiträge zu einer christlichen Ethik. Freiburg 1988, 29-31.

71. R. Schwager, Religion als Begründung einer Ethik der Gewaltüberwindung. In: Concilium 33 (1997) 555 - 564, hier 561.

72. Die Verwiesenheit auf das Wirken Gottes zur Erreichung einer menschlichen Gemeinschaft, die niemanden opfert, zählt zum harten Kern unseres Forschungsprogrammes. Vgl. Schwager/Niewiadomski u.a., Dramatische Theologie (s. Anm. 1) 334. Am konkreten Beispiel der Unauflöslichkeit der Ehe zeigt E. Drewermann in Psychoanalyse und Moraltheologie. Bd. 2. Wege und Umwege der Liebe. Mainz 1983, 69-76 wie sehr die Einsicht in die Geschenkhaftigkeit einer gelingenden Jesusnachfolge den generellen Umgang mit Normen beeinflussen und verändern muß. Wenn das moralisch und rechtlich Verordenbare in diesen Fragen immer zu spät kommt, wie Drewermann feststellt, so wird das Heilsereignis in Jesus zum kritischen Maßstab jeder Moraltheologie, nicht aber zur Rechtfertigung einer Abkopplung der christlichen Ethik von ihren Wurzeln. Zum einen ist auch die inhaltliche Bestimmung des Guten massiv beeinflußt vom Gnadencharakter des Erlösungsereignisses, zum anderen entscheidet sich die Christlichkeit einer Moraltheologie wesentlich am Umgang mit menschlichem Scheitern auf dem Weg hin zu diesem Guten.

73. Schwager, Religion (s. Anm. 71) 561.

74. Platon, Staat 401b-c.

75. Vgl. G. Baudler, Töten oder Lieben. Gewalt und Gewaltlosigkeit in Religion und Christentum. München 1994, 159-164.

76. Platon, Staat 517a. Vgl. Ch. Gotthardt, Besuch in Platons Höhle. Ein Unterrichtsmodell ab Klasse 9. In: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 19 (1997) 157-163, hier 162f.

77. Der Religionsphilosoph Klaus Heinrich sieht darin nicht ein reines Spezifikum Platons, sondern eine Tendenz der gesamten griechischen Philosophie beginnend mit Parmenides. Vgl. K. Heinrich, Parmenides und Jona. Vier Studien über das Verhältnis von Philosophie und Mythologie. Frankfurt a.M. 1992. Der Autor erkennt in der Theologie das alttestamentlichen Jonabuches eine deutliche Ablehnung jeglichen Denkens, das der Zweideutigkeit und Bedrohtheit der Wirklichkeit durch deren Ausschluß - bei Parmenides ist dies die Forderung der Ausgrenzung des Nichts aus dem Denken - beizukommen versucht. Der biblische Gott rechtfertigt die Wirklichkeit trotz ihrer Zweideutigkeit, hält den Bund auch mit den Schwankenden und denen, die sich in ihrer Schuld dem Bund entziehen. Dies führt letztlich zum Heilsdrama, wie es im Aansatz Schwagers verstanden wird (vgl. R. Schwager, Jesus (s. Anm. 67)), und widerspricht der parmenideischen Forderung der Figur des Jona nach einer Realisierung des eindeutigen Wortes, "... und sei es um den Preis einer Zerstörung der Wirklichkeit einschließlich der eigenen Zerstörung" (ebd. 120). Auch angesichts der Bedrohungen der modernen Gesellschaft ist es für Heinrich entscheidend, ob wir mit Parmenides nach einem von diesen Bedrohungen unberührten Sein suchen, oder uns mit dem Verfasser des Jonabuches fragen: "... wie halten wir den Bund mit allem, was bedroht von Identitätslosigkeit und Sprachlosigkeit in Selbstzerstörung treibt?" (Ebd 126f).

78. Platon, Staat 592a.

79.Platon, Staat 515c. Vgl. T. Siebers, Morals (s. Anm. 32) 93f; H. Blumenberg, Höhlenausgänge (s. Anm. 34) 113.

80.Vgl. H. Arendt, Vita activa oder vom tätigen Leben. München 71992, 216-222.

81.Vgl. B. Wannenwetsch, Gottesdienst als Lebensform - Ethik für Christenbürger. Stuttgart 1997, 114-118.

82. Büchele, Glaube (s. Anm. 68) 85-113; Zu einer Ethik des Weges und Gehens. In: Centesimo anno. 100 Jahre katholische Soziallehre. Bilanz und Ausblick. Hrsg. von W. Palaver. Thaur 21991, 277-295.

83. Vgl. Schwager/Niewiadomski u.a., Dramatische Theologie (s. Anm. 1) 342; H. F. Perry-Trauthig, Story und Ethik. Eine Untersuchung aus christlich-theologischer Perspektive. Frankfurt a.M. 1997, 290f.

84. F. Nietzsche, Studienausgabe (s. Anm. 9) Bd. 13, 470f (Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1888, 15[110]).

85. W. Palaver, Gleichheit als Sprengkraft? Zum Einfluß des Christentums auf die Entwicklung der Demokratie. In: Verweigerte Mündigkeit? Politische Kultur und Kirche. Hrsg. von J. Niewiadomski. Thaur 1989, 195-217. H. Büchele, Eine Welt oder Keine. Sozialethische Grundfragen angesichts einer ausbleibenden Weltordnungspolitik. Innsbruck/Mainz 1996, 90-97

86. F. Nietzsche, Studienausgabe (s. Anm. 9) Bd. 13, 424 (Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1888, 15 [30]).

87. Vgl. A. MacIntyre, Verlust (s. Anm. 8) 170; T. Siebers, Morals (s. Anm. 32) 61-76.

88. Aristoteles, Politik 1252b28-1253a39. Vgl. A. MacIntyre, Justice (s. Anm. 61) 96-98.

89. In gewissem Maße scheinen Protestbewegungen diese Leerstelle in der Gesellschaft aufzufüllen. Luhmann, an den sich dieser Gedanke anschließt, verweist jedoch darauf, daß das Paradox solcher Bewegungen darin besteht, innerhalb der Gesellschaft so zu agieren, als stünden sie draußen (N. Luhmann, Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? Opladen 1986, 236; Die Gesellschaft der Gesellschaft (s. Anm. 28) 853.) Daraus ergibt sich eine problematische polarisierend-parasitäre Existenzweise, die in der Zuschreibung von Schuld und der Abschiebung der Verantwortung für veränderndes Handeln auf andere besteht. Damit neigt die Struktur von Protestbewegungen dazu, eine neuerliche Variante platonischer Ethik zu werden.

90. Vgl. Ch. Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen. Frankfurt am Main 31995, 144-246; R. Girard, Hiob (s. Anm. 52) 185-193.

91. Aischylos, Die Eumeniden V. 977-987.

92. Ebd., V. 862-65, 909f.

93. Platon, Staat 469b-471c; Aristoteles, Politik 1252b, 1327b. Vgl. R. Koselleck, Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe. In: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main 31995, 219f; Ch. Meier, Gleichheit und Grenzen. Aristoteles, die Griechen, die Barbaren, die Sklaven. In: Merkur 49 (1995) 825-835.

94. Vgl. W. Palaver, Schmitt's Critique of Liberalism. In: Telos No. 102 (Winter 1995) 50f, 69; W. Reese-Schäfer, Was ist Kommunitarismus? Frankfurt/New York 1994, 39f, 69-74.

95. A. MacInytre, Verlust (s. Anm. 8) 338; Ist Patriotismus eine Tugend? In: Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaft. Hrsg. von A. Honneth. Frankfurt/New York 1993, 84-102. Für ein sehr bedenkliches kommunitaristisches Plädoyer im deutschsprachigen Raum siehe T. Mayer, Kommunitarismus, Patriotismus und das nationale Projekt. In: Das Prinzip Nation in modernen Gesellschaften. Hrsg. von B. Estel und T. Mayer. Opladen 1994, 115-128.

96. G: Lohfink, Bergpredigt (s. Anm. 68). Vgl. R. Hütter, Ethik (s. Anm. 60) 153-185.

97. Vgl. R. Schwager, Brauchen wir einen Sündenbock? Gewalt und Erlösung in den biblischen Schriften. Thaur 31994 172-188.

98. Ebd. 225-231.

99. Vgl. Schwager/Niewiadomski u.a., Dramatische Theologie (s. Anm. 1) 335.

100. Vgl. Schwager, Jesus (s. Anm. 67) 279-287.

101. Vgl. Schwager/Niewiadonski u.a., Dramatische Theologie (s. Anm. 1) 330f.

102. Ausführlicher in einer kommenden Arbeit von R. Schwager zum Thema 'Dogma und Drama'

103. Girard, Ende (s. Anm. 54) 232-274.

104. Vgl. Koselleck, Semantik (s. Anm. 93) 229-244.

105. Vgl. E. Michel, Politik aus dem Glauben. Jena 1926, 12.

106. Lumen gentium Nr. 1, 9, 13. In: K. Rahner/H. Vorgrimler, Kleiner Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanums. Freiburg 141980.

107. Dignitatis Humane. In: K. Rahner/H. Vorgrimler, Konzilskompendium.

108. Vgl. dazu das Konzilsdokument "Die verbum" über die göttliche Offenbarung.

109. Optatam totius (Dekret über die Ausbildung der Priester) Nr. 16. In: K. Rahner/H. Vorgrimler, Konzilskompendium. Bezüglich einer verstärkten Betonung der heilsgeschichtlichen Perspektive für die Moraltheologie vgl. H. Rotter (Hrsg.), Heilsgeschichte und ethische Normen. Freiburg 1984.

110. Vgl. U. Nothelle-Wildfeuer, Vom Naturrecht zum Evangelium? Ein Beitrag zur neueren Diskussion um die Erkenntnistheorie der Katholischen Soziallehre im Ausgang von Johannes Paul II. In: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften 32 (1991) 43-63.

111. Johannes Paul II., Centesimus annus. In: Texte zur katholischen Soziallehre. Hrsg. vom Bundesverband der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands - KAB. Bornheim 81992, Nr. 5.

112. Ebd. Nr. 14, 17-19, 22f, 25, 27f.

113. Ebd. Nr 52.

114. Zur Versuchung des Konstantinismus in seinen sehr unterschiedlichen Schattierungen vgl. J. H. Yoder, The Priestly Kingdom: Social Ethics as Gospel. Notre Dame 1984, 135-147.

115. Vgl. H. Büchele, Glaube (s. Anm. 68) 114-117; Wilhelm Guggenberger, Überlegungen zum Selbstverständnis katholischer Soziallehre. In: Zeitschrift für Katholische Theologie 118 (1996) 18.

116. Vgl. H. Büchele, Glaube (s. Anm. 68) 53-58; W. Palaver, Die Diskrepanz von Wort und Tat in der katholischen Soziallehre am Beispiel von Kirche und Demokratie. In: Centesimo anno (s. Anm. 82) 27-63.

117. Vgl. Yoder, (s. Anm. 114) Kingdom 151-171; S. Hauerwas, Against the Nations: War and Survival in a Liberal Society. Notre Dame 1992, 122-131; Dispatches from the Front: Theological Engagements with the Secular. Durham 1994, 91-106.

118. Centesimus annus Nr. 43.

119. Centesimus annus Nr. 54f. Die gegenwärtige katholische Sozialethik im deutschsprachigen Raum scheint dieser Vorrangstellung der theologischen Dimension in "Centesimus annus" gegenüber eher skeptisch eingestellt zu sein. Diese Skepsis zeigt, wie schwer es fällt, sich vom Konstantinismus in all seinen Spielarten zu befreien. A. Lienkamp, Quellen der Ethik? Zur erkenntnistheoretischen Bedeutung der Sozialwissenschaften für die Soziallehre der Kirche. In: Brennpunkt Sozialethik. Theorien, Aufgaben, Methoden. Für Franz Furger. Hrsg. von M. Heimbach-Steins, A. Lienkamp und J. Wiemeyer. Freiburg 1995, 54f, beispielsweise kritisiert die Vorrangstellung der theologischen Dimension, da die Enzyklika dadurch ein interdisziplinäres Verhältnis zu den Sozialwissenschaften fast unmöglich mache und wieder zum alten "ancilla"-Paradigma zurückkehre. Lienkamps ungebrochenes Vertrauen in die Sozialwissenschaften kann aber heute so nicht mehr aufrecht erhalten werden. Da die Sozialwissenschaften selbst fragwürdig geworden sind, ist die Theologie geradezu herausgefordert, als Orientierungswissenschaft eine Leitrolle im wissenschaftlichen Diskurs einzunehmen. Dies muß keineswegs einen Rückfall in das "ancilla"-Paradigma bedeuten. Vgl. dazu Milbank, Theology (s. Anm. 36) 6; R. Schwager/W. Palaver, Ohne Theologie / Religion lösen sich die Human- und Geisteswissenschaften in Beliebigkeit auf! (?). In: Wissenschaft und Verantwortlichkeit 1996. Die Wissenschaft - eine Gefahr für die Welt? Eine Veröffentlichung des Senatsarbeitskreises "Wissenschaft und Verantwortlichkeit" an der Universität Innsbruck. Hrsg. von H. Barta und E. Grabner-Niel. Wien 1996, 245-268.

120. Centesimus annus Nr. 57.

121. Arne Rasmusson, The Church as Polis: From Political Theology to Theological Politics as Exemplified by Jürgen Moltmann and Stanley Hauerwas. Lund 1994.

122. Ebd. 114-122, 290-294.

123. J. Moltmann, Menschenrechte, Rechte der Menschheit und Rechte der Natur. In: Concilium 26 (1990) 165-174.

124. Ebd. 173: "Die Religionen müssen lernen, Religionsfreiheit als Menschenrecht zu respektieren und sich in diesem Rahmen tolerant und dialogbereit zueinander zu verhalten. Das bedeutet auch, daß sie ihre Gesetzbücher - die Tora und die Bergpredigt, die Kirchengesetze und die Schari'a, die hinduistische und die konfuzianische Ethik usw. - den Minimalforderungen der Menschen-, der Menschheits- und der Naturrechte unterordnen. Aufrechterhaltene Widersprüche würde die Religionsgemeinschaft zu Feinden des Menschengeschlechtes machen."

125. Ebd. 165: "Wie andere universale Ideen auch, wie z. B. die Mathematik, haben sich die Menschenrechte aus ihrer besonderen europäischen Entstehungsgeschichte gelöst und leuchten allen Menschen unmittelbar ein, die erkennen, daß sie nicht nur Amerikaner oder Russen, Schwarze oder Weiße, Männer oder Frauen, Christen oder Juden, sondern in erster Linie 'Menschen' sind."

126. S. Hauerwas, After Christendom? How the Church Is to Behave If Freedom, Justice, and a Christian Nation Are Bad Ideas. Nashville 1991, 45-68.

127. A. MacIntyre, Verlust (s. Anm. 8) 56,100.

128. Vgl. J. Niewiadomski, Menschenrechte: ein gordischer Knoten der heutigen Gnadentheologie. In: Theologisch-praktische Quartalschrift 145 (1997) 269-280.

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