Österreich

Die Chance des Geächteten

 

Die Provokationen der europäischen Diplomatie gegen Österreich nehmen nicht ab. Unter der kommenden französischen Präsidentschaft der EU ist sogar noch mit einer härteren Gangart zu rechnen, - eine Situation, die für viele in Österreich völlig unverständlich ist. Warum steht unser Land als ‚Paria‘, als geächtetes da, wenn seine Demokratie wie in anderen Ländern funktioniert? Für Betroffene mag die Situation unverständlich sein, aus einer neutralen Perspektive, die gesellschaftliche Mechanismen unbeteiligt analysiert, wird jedoch vieles einsichtiger. Ein erhellendes Licht bieten auch die Ereignisse, an die die christliche Welt in der Karwoche denkt. Der Hohepriester Kajaphas hat die Verurteilung Jesu mit dem Argument betrieben: „Es ist besser, wenn ein einziger Mensch für das Volk stirbt, als wenn das ganze Volk zugrunde geht" (Joh 11,49). Einer, eine Gruppe oder die Schwachen zu opfern, damit die anderen wieder eine größere Einheit oder mehr Frieden haben, ist ein uralter Mechanismus. Ihm entspricht der politische Grundsatz des Kajaphas, nach dem fast alle handeln, dessen bittere Folgen für die Opfer uns normalerweise aber nicht auffallen. Erst wenn wir selber betroffen werden, spüren wir plötzlich die Härte der üblichen politischen Welt und ihrer gesellschaftlichen Mechanismen.

Wie in dieser Situation reagieren? Spontan ist man versucht, auf gleicher Ebene zu antworten, d.h. kopflos zurückzuschlagen oder dem Druck sich kriecherisch zu beugen. Die bessere Antwort dürfte aber sein, gerade die unangenehme Situation als Chance zu benützen. Der Geächtete steht im Blickfeld der anderen. Bewahrt er Stärke und läßt er sich vom Druck nicht zu nervösen Reaktionen verführen, kann er bald wieder Respekt gewinnen. Im gegenwärtig Fall dürfte dies um so leichter eintreten, als es nicht bloß um Österreich geht. Die anderen kleinen Länder in der EU beginnen zu spüren, daß ihre eigene zukünftige Rolle auf dem Spiel steht. Österreich hat die Chance zu zeigen, daß es sich dem Druck der Großen nicht einfach beugt, aber auch keine grundsätzliche Obstruktionspolitik betreibt, sondern gerade als geächtetes Land ruhig und mit Selbstbewußtsein seinen Weg weiter geht und so für bessere demokratische Strukturen in Europa arbeitet.

Eine weitere Chance ist gegeben. Österreich wird angeklagt, die europäische Wertegemeinschaft verletzt zu haben. Eine Mehrheit aber, die ohne klares gerichtliches Verfahren, jemanden ächtet und ausschließt, fällt selber hinter die Grundstruktur demokratischer Ordnung - und damit hinter die behauptete Wertegemeinschaft - zurück. Das Anliegen der EU, mehr als eine wirtschaftliche Einheit zu sein, verdient zwar höchste Unterstützung. Dies Ziel kann aber nicht durch instinktive Reaktionen des Ausschlusses oder der Ächtung, sondern nur durch eine positive Einigung erreicht werden, sei diese auch noch so minimal.

Im Zusammenhang mit dem Ansuchen der Türkei um Aufnahme in die EU stellte sich die Frage, ob Europa der christlichen Tradition verpflichtet ist und bleiben muß. Diese Annahme wurde von vielen bestritten. Man kann tatsächlich mit Recht darauf hinweisen, daß große Teile Spaniens und Südosteuropas während Jahrhunderten im Machtbereich des Islams waren und die Auseinandersetzung mit dieser ‚feindlichen‘ Schwesterreligion sogar die Geschichte von ganz Europa während langer Zeit zutiefst geprägt hat. Auch die Juden bildeten ständig eine wichtige und oft einflußreiche Minderheit. Europa kennt folglich mehr als nur die christliche Wurzel, und die wachsende Zahl der Muslime in den westlichen Ländern gibt der Geschichte neue Aktualität. Zu Europa gehört ferner die Aufklärung, die den Anspruch aller Offenbarungsreligionen auf endgültige Wahrheit bestritten hat und darin bis heute nur eine Form von Irrationalismus oder gar von Fanatismus sieht. In Europa ist schließlich die naturwissenschaftlich-technische Entwicklung mit ihrem Überlegenheitsgefühl, ihrem Expansionsdrang und ihrem neuen oft quasireligiösen Anspruch entstanden. Unser Kontinent läßt sich folglich nicht auf einen Nenner bringen. Er hat seine Eigenart gerade durch dauernde Auseinandersetzungen zwischen gegensätzlichen Strömungen gewonnen. Das Europa von morgen kann folglich nur dann zu mehr als einer - mythologisch verklärten - wirtschaftlichen Einheit werden, wenn es seine ganze komplexe Tradition bewußt aufgreift und sich ihr in neuer Weise stellt. In diesem Sinn könnte und sollte unser Kontinent sich als Ort des herausfordernden Dialogs mit wechselnden ‚Partnern‘ definieren, des Dialogs unter den drei Offenbarungsreligionen, des Dialogs zwischen diesen und dem säkularen Anspruch und des Dialogs im Kontext der neuen Mythologien der technisch-wirtschaftlichen Welt.

Mit Dialog sind hier nicht nette und harmlose Gespräche gemeint, die die realen Probleme überspielen. Es bedarf einer hartnäckigen Auseinandersetzung, die den Partnern viel zumutet und die mit Klarheit und Entschiedenheit, ja oft mit Leidenschaft geführt wird, aber immer strikt innerhalb der demokratischen Spielregeln bleibt.

Als ein Land, das geächtet ist, hat Österreich die Möglichkeit, eine Vision von Europa ins Gespräch zu bringen, die besser ist als jene, die von der Mehrheit mit ihren moralisierenden Fingern verkündet wird. Es kann Europa als Ort des herausfordernden Dialogs präsentieren, und es hat die Chance, aus der Situation des Geächteten heraus zu zeigen, wie ein solcher Dialog konkret zu führen ist, weder kriecherisch und anpasserisch noch obstruktiv, wohl aber fordernd. Zu einem solchen Dialog gehört die Bereitschaft, gegebenenfalls Opfer zu bringen.

Raymund Schwager SJ, Innsbruck

 

Tiroler Tageszeitung

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