Mit der Moral gegen die österreichische Regierung?
Die Bildung der neuen österreichischen Regierung ist nach verfassungsmäßiger Ordnung erfolgt. Dennoch haben Regierungschefs in der EU versucht, diese Regierungsbildung durch äußeren Druck zu verhindern, und sie wollen jetzt, nachdem der Druck mißlungen ist, die österreichische Regierung dafür bestrafen. Ein solches Vorgehen ist ein direkter Angriff auf ein Recht, das durch die Verfassung garantiert ist, und dies ist das Schwerwiegendste, was in einer Demokratie geschehen kann. Die EU-Gegner in der Schweiz triumphieren deshalb: Wir haben immer gesagt, daß die EU keine Demokratie ist. Wer diesem Urteil nicht zustimmen will, muß deshalb das Ansinnen der europäischen Regierungen klar zurückweisen und der Österreichischen Volkspartei, die sich dem Druck nicht gebeugt hat, Respekt zollen. Dennoch urteilen selbst viele Österreicherinnen und Österreicher anders, und zwar in Namen der Moral.
Moral gegen Verfassung? Dies erinnert an das Verhalten jener Abtreibungsgegner in den USA, die im Namen der Moral zur Selbstjustiz greifen. Dabei geht es im letzteren Fall um schwerwiegende Taten, während die EU-Regierungschef nur aufgrund dessen handeln, was sie als mögliche zukünftige Entwicklung befürchten. Wenn sie tatsächlich echte moralische Bedenken haben, dann müßten sie einen demokratischen Prozeß in Gang setzen, der zu neuen Normen und zu einem neuen Amsterdamer Vertrag führt, dem dann die nationalen Parlamente zuzustimmen hätten. Auf diese Weise kann eine europäische Verfassung entstehen, die nationale Souveränitäten auf rechtmäßige Weise beschränkt. Alle anderen Vorgehensweisen sind politischer Opportunismus und Jagd nach Sündenböcken, und wenn dies im Namen der Moral geschieht, ist es Heuchelei, wie Theo Sommer in Die Zeit" (10.2.2000) festgehalten hat. Die Neue Zürcher Zeitung stellt deshalb mit Recht fest: Die europäischen Politiker sind es, nicht die Wiener Koalitionäre, die das Ansehen der Union und den Gedanken des europäischen Zusammenschlusses auf eine neue und spektakuläre Weise schädigen und der Lächerlichkeit preisgeben" (4.2.2000).
Der Inhalt des moralischen Arguments der Fremdenfeindlichkeit bedarf ebenfalls einer näheren Betrachtung. Die freiheitliche Partei ist mir fremd, und manche ihrer Äußerungen sind klar abzulehnen. Als Christ weiß ich aber, daß man mit moralischen Verurteilungen sehr vorsichtig sein muß, wenn man nicht einem pharisäischen Geist verfallen will. Wir erleben nun, wie in Europa mit moralischer Entrüstung gegen die Gefahr der Fremdenfeindlichkeit in Österreich gekämpft wird, während gleichzeitig massive Ordnungskräfte an den Grenzen der EU stehen, um zu verhindern, daß Fremde eindringen. Europa verteidigt tagtäglich mit dieser Ausschließung der Fremden seinen Reichtum, während in anderen Erdteilen viele Menschen hungern, ja verhungern. Ist das ein moralisches Handeln gemäß der Menschenrechte? Der bekannte südamerikanische Befreiungstheologe Jon Sobrino hat vor einigen Jahren bei einem Vortrag in Innsbruck im Blick auf die USA und die EU die These vertreten: Die Menschenrechte hören für jene auf, die keinen entsprechenden Paß haben. An dieser massiven These ist leider manches wahr. Ich selber habe bisher zu dieser bedenklichen Situation meistens geschwiegen, weil ich noch keinen gangbaren politischen Weg sehe, sie zu ändern. Moralisch ist es mir dabei aber unwohl. Noch unwohler wird mir, wenn ich sehe, daß eine EU, die ständig massenweise Fremde ausschließt, gleichzeitig mit der moralischen Keule der Fremdenfeindlichkeit gegen andere vorgeht und dabei sogar Verfassungsrechte beugen will. Sollten wir nicht eher alle zusammen reumütig an die Brust klopfen? Wenn dies geschähe, könnte man nämlich auch politisch etwas tun, um die ungeheuren Unrechtigkeiten in der Welt zu vermindern. Dazu wäre aber nötig, daß in Europa wieder eine Kultur des Verzichts gefördert wird. Für Fremde kann man nur dann real etwas tun, wenn man auch bereit ist, für sie Opfer zu bringen.
Raymund Schwager, Innsbruck