Philologisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät
Zum Autor
Interview mit Ermanno Cavazzoni
(Romano Guerra - Freirad Innsbruck)
Persönliches und berufliche Laufbahn:
Ermanno Cavazzoni wurde 1947 in Reggio Emilia geboren. Er schloss 1972 sein Philosophiestudium in Bologna ab und hielt sich anschließend mit einem Stipendium an der „Ecole Pratique des Hautes Etudes“ in Paris auf, wo er – gemeinsam mit Roland Barthes – Studien zur Geschichte der Rhetorik betrieb. Von 1975 bis 1980 war er Lehrbeauftragter an der Philosophischen Fakultät der Universität Bologna, seit 1980 ist er dort als Forscher und Dozent in den Bereichen Ästhetik, Philosophische Anthropologie sowie Poetik und Rhetorik tätig. Er hat im Rahmen dieser akademischen Tätigkeit etliche Studien veröffentlicht, u.a. über Gaston Bachelard und Michel Foucault, über die großen Autoren des italienischen Ritterepos’ wie Ariosto, Pulci und Folengo, über Film und Literatur, über die Bibliothek als literarisches Thema u.a.m.
Werk und schriftstellerischer Werdegang:
Als Autor wurde Cavazzoni 1987 mit Il poema dei lunatici bekannt, einem überaus originellen und fabulierfreudigen Roman, der sich schon im Titel an der Tradition des (Ritter-)Epos („poema cavalleresco“) orientiert, aber mit dem Begriff der „lunatici“ auch auf das in fast allen Werken des Autors anklingende Thema der Verrücktheit verweist. Cavazzoni erzählt darin die Geschichte des „Brunneninspek¬tors“ Savini, der auf die verschiedenen Phänomene aufmerksam wird, die in der von ihm durchquerten, mythisch überformten Poebene zumeist im Zusammenhang mit dem Wasser zu beobachten sind. Er zieht in der Ebene umher, befragt die angetroffenen Menschen und sammelt auf diese Weise eine Unmenge von komischen, seltsamen und wunderlichen Geschichten. Durch diese ist der Roman auf teils subtile, teils rundheraus komische Weise unterhaltsam; er kann zugleich aber auch als philosophischer Roman über Erkenntnistheorie und Phänomenologie, über Skeptizismus und Stoizismus gelesen werden.
Bekannt wurde Cavazzonis Roman auch dadurch, dass er dem letzten Film Federico Fellinis, La voce della luna, als Vorlage diente. Für Cavazzoni bot sich dadurch die Möglichkeit, mit dem von ihm bewunderten Regisseur fast ein Jahr der Gespräche und Diskussionen zu verbringen.
Das Komisch-Paradoxe und das Verrückte spielen auch in den darauffolgenden Buch¬veröffentlichungen wie Le tentazioni di Girolamo (1991) oder Vite brevi di idioti (1994) eine Rolle. So besteht letzteres aus den teilweise in den Akten einer Nervenheilanstalt gesam¬melten, auf geraffte Weise erzählten Lebensläufen von Außen¬seitern, Sonderlingen und Irren, die im Leser eine seltsame Mischung von Komik und Tragik anklingen lassen.
Wie sehr Cavazzoni auch am literarischen Experiment interessiert ist, zeigt sich in der Tatsache, dass er Mitglied der italienischen „Tochtergesellschaft“ des OULIPO, also des Op.Le.Po. (Opificio di Letteratura Potenziale) ist. Bekanntlich ist eine der zentralen Richtlinien dieser Institution das „Schreiben nach Regeln“, dem sich Cavazzoni am deutlichsten wohl mit I sette cuori (1992) zugewandt hat: Eine Erzählung aus Edmondo De Amicis’ bekanntem Jugendroman Cuore von 1886 wird hier nach bestimm¬ten, vorher festgelegten Regeln („contraintes“) einer siebenfachen Variation unter¬worfen, an deren Ende als achte Variante die Originalerzählung von De Amicis steht.
In Cirenaica (1999) beschreitet Cavazzoni neuerlich den Weg des „conte philosophique“, auf dem er bereits mit Il poema dei lunatici teilweise gewandelt war. Erzählt wird das – wiederum halb tragische, halb komische – Schicksal einer Gruppe von Menschen, die als Exilierte, Deportierte oder einfach nur Gestrandete in einer Stadt namens Bassomondo leben. Durch deren geographische Lage in einer feuchten Tiefebene ist neuerlich der Bezug zur „valle padana“ zu erkennen, und die entfernte, Heil versprechende Stadt am Rande der Berge, die immer wieder zur Sprache kommt, kann letztlich mit Mailand identifiziert werden. Doch kommt aufgrund der virtuos eingesetzten Verfrem¬dungs¬strategien des Textes jeglicher Realitätsbezug abhanden, wodurch Cirenaica (noch mehr als das Poema) letztlich als Parabel über Heimat¬losigkeit, Identitätssuche und Erinnerungsverlust gelesen werden muss.
Cavazzonis Hang zur Metareflexion, der in den genannten Büchern immer wieder durchscheint, kommt mit Gli scrittori inutili (2002) voll zum Tragen, denn hier ist es nun die Person oder „Institution“ des Schriftstellers selbst, über die auf selbstironische und unerbittlich komische Weise reflektiert und variiert wird. Die Literatur selbst steht im Prinzip auch in Cavazzonis bisher letztem Buch im Mittelpunkt: Seine Storia naturale dei giganti (2007) ist eine pseudo-ethnologische Abhandlung über die – rein literarisch hervorgebrachte – Spezies der Riesen, die in Italien 1478 (mit Luigi Pulcis Epos Morgante) erstmals auftrat und deren Eigen¬schaften vom Erzähler des Textes nach Art und Methode eines Naturforschers erläutert werden (so etwa die Tatsache der „sexuellen Inkompetenz“ der Riesen, die zwar laufend junge Mädchen rauben, dann aber nicht wirklich wissen, was mit diesen anzufangen ist, was ihre Spezies verständlicherweise recht rasch zum Aussterben gebracht habe…).
Cavazzoni ist ein hochgebildeter, belesener und äußerst reflektierter Autor mit einem unwiderstehlichen Sinn für Komik und Absurdes und mit einer konstanten Abwehr¬haltung gegen das Hochtrabende und Gelehrte in der Literatur. Es verwundert daher nicht, dass ihn vieles mit dem Freund und Schriftstellerkollegen Gianni Celati verbindet, der mit ihm neben der komischen Ader auch die Neigung für das Entlegene, Marginale und Befremdliche sowie die Vorliebe für „padanische“ Schau¬plätze teilt. Gemeinsam mit anderen Autoren und Intellektuellen (insbesondere Daniele Benati) haben Cavazzoni und Celati in den neunziger Jahren die Zeitschrift Il Semplice herausgegeben, aber auch etliche andere editoriale und kulturelle Aktivitä¬ten gesetzt.
Pressestimmen:
Rezension zu Mitternachtsabitur und Kurze Lebensläufe der Idioten in Die Woche, 17.2.1995:
Wie sein Vorbild Celati verdient auch Cavazzoni den Titel ‚Schopenhauer der Poebene’. Jener Ebene, in der der Po seine Nebel ausschickt und alles – Traum und Wirklichkeit – Halluzination und Vision wird. ‚Die Poebene’, sagt Cavazzoni, ‚ist dieser platte Raum, in dem einem gar nichts anderes übrig bleibt, als zu projizieren. Jene Ebene, die man zwangsläufig mit Phantasmen füllen muss, mit funkelnden Halluzinationen. Funkelnd wie die Sprache, in der Cavazzoni seine Romane schreibt.
Rezension zu Mitternachtsabitur in Neue Zürcher Zeitung, 17.3.1995:
Schier unerschöpflich ist das phantastische Arsenal des Italieners, der hier der Bilderwelt eines Arcimboldo, Brueghel und Hieronymus Bosch wörtliche Gestalt verleiht. Für diesen erzählerischen Gaukler scheint es keine Grenzen der Imagination zu geben. Immer neue närrische Konstellationen sind ihm eingefallen, um eine verkehrte Welt in Szene zu setzen, um das, was er einen ‚Ort der Verdammnis’ nennt, auf gespenstische Weise zu illustrieren.
Rezension zu Gesang der Mondköpfe in Der Tagesspiegel, 15.9.1996:
Die Erzählkunst Cavazzonis erschafft einen wunderbaren Kosmos aus Mensch, Natur und Sprache, dessen Absurdität wohltuend ist. […] Mit der ihm eigenen Erzählkunst hat er sich in die erste Linie der italienischen Autoren geschrieben.
Rezension zu Gesang der Mondköpfe in Neue Zürcher Zeitung, 1.10.1996:
Zum Glück gibt es noch Autoren wie Ermanno Cavazzoni, bei denen man den langweiligen Realismus vieler zeitgenössischer Literaturproduzenten vergessen kann. Wer genug hat von Kolportage, Voyeur-Erotik, Generationskonflikten, Ehekrisen und anderen autobiographischen Kümmernissen, findet in Cavazzonis Roman Gesang der Mondköpfe den Trost, den Literatur gibt, wo sie mit den Konventionen der Wirklichkeit spielerisch umgeht.
Rezension zu Die nutzlosen Schriftsteller in Süddeutsche Zeitung, 25.06.2003:
Nach weiteren Romanen und Erzählbänden hat Cavazzoni jetzt ein hinreißend komisches und verrücktes Buch, eine Art ‚Narrenschiff’ der Schriftstellerei verfasst, das von Marianne Schneider in geschliffenes Deutsch übertragen wurde. […] Cavazzonis 49 kleine, aber dicht gestrickte Geschichten haben es allesamt in sich, obgleich keine länger als drei Seiten ist. Seine bizarren, namenlosen Schriftstellerexistenzen stehen in diesen absurden, bösartigen und garstigen, dabei in schneidendem Realismus ausgefeilten Schil¬derungen zumeist schon mit dem ersten Satz voll ausgebildet da. […]
Nach der Lektüre dieses Buchs, das man am besten nach Art eines Almanachs, kapitelweise übers Jahr verteilt lesen sollte, wird auch deutlich, dass Ermanno Cavazzoni einen getarnten Essay über den Niedergang des Schreibens geschrieben hat. Indem seine Mikroromane souverän das gesamte Register ironischer Gattungsformen – von der Parabel und der Persiflage über die makabre Groteske bis hin zur Elegie und zum Pastorale – ausspielen, hat er einen Befreiungsschlag von den Alpträumen des literarischen Lebens erwirkt. […] Ermanno Cavazzoni hat ein sehr poetisches, ein philoso¬phisches, ein lachendes Buch geschrieben, ein kleines Meisterwerk unschlagbarer Erzählkunst.
http://www.sbg.ac.at/rom/ag/moderne/homepage/literaturundlandschaft_pianure_lesung.htm:
Cavazzoni ist ein ‚leiser' Erzähler, der mit hintergründigem Humor das Verwunderliche im Alltagsleben aufspürt. Die ‚meraviglia' macht das Loch in der Mauer (Cortázar) sichtbar, durch das seine virtuellen Welten in unsere geordnete Wirklichkeit eindringen können: die phantastischen Reiche unter der Oberfläche der ‚pianure' (Der Gesang der Mondköpfe), der Höllenort der Bibliothek im Keller eines Wohnhauses (Mitternachtsabitur), das Purgatorium der Gestrandeten am Ende aller Schienenstränge (Cirenaica).
Auswahlbibliographie:
- Il poema dei lunatici, Bollati Boringhieri 1987 (Feltrinelli 1996)
Dt. Übers. Gesang der Mondköpfe, Wagenbach 1996 - Le tentazioni di Girolamo, Bollati Boringhieri 1991
Dt. Übers. Mitternachtsabitur, Klett-Cotta 1994 - I sette cuori, Bollati Boringhieri 1992
- Vite brevi di idioti, Feltrinelli 1994
Dt. Übers. Kurze Lebensläufe der Idioten, Wagenbach 1994 - Le leggende dei santi (da Jacopo da Varagine), Bollati Boringhieri 1998
- Cirenaica, Einaudi 1999
- Gli scrittori inutili, Feltrinelli 2002
Dt. Übers. Die nutzlosen Schriftsteller, Wagenbach 2003 - Storia naturale dei giganti, Guanda 2007
- Dazu die Veröffentlichungen beim Op.Le.Po.:
- Morti fortunati (2001), Il romanzo equivoco (2004), Manghiscoli (2006)
- Sowie etliche in Zeitschriften veröffentlichte Texte