Die Winkelharfe aus Fritzens-Pirchboden
Klangerzeugung/musikalische Praxis
Im Folgenden wird nicht von Klangerzeugung, sondern von Musik im Sinne des Erzeugens organisierter Klänge gesprochen.
Spielvarianten
Halten des Instruments
Die unterschiedliche Haltung/Positonierung des Instruments bedingt eine unterschiedliche Handhaltung und Spielweise:
- vertikal
- horizontal
- schräg/seitlich
Archäologische Belege
Vertikal
Vertikale Haltung der Harfe bedeutet, dass sie mit dem Resonanzkörper am Körper gehalten wird, sodass der Hals gebogen oder rechtwinklig vom Spieler ausgehend nach vorne zeigt und die Saiten nach vorne offen liegen.
Eine 6,5 cm große, dunkel patinierte Bronzefigur, vermutlich eine Applike,1 aus Sesto al Reghena (südlich von Pordenone in der Region Friaul-Julisch Venetien, Italien) stellt einen Musiker dar. Die aus der Sammlung Muschietti stammende und heute im Museo Nazionale Concordiese di Portogruaro verwahrte Statuette datiert in das 5. Jh.v.Chr. und wird als lokale venetische Produktion angesehen.
Die auf einem Klapphocker sitzende Figur hält ein dreieckiges Instrument direkt vor der Brust. In der Literatur wird dieses als unbestimmbar oder fälschlicherweise als Syrinx oder Kithara interpretiert.
Hingegen spricht die dreieckige Form mit dem 90° Winkel zwischen Hals und Korpus ziemlich eindeutig für eine vertikale Winkelharfe. Auch die Größe des Instruments sowie die an die Schulter gelehnte und unten zwischen die Beine geklemmte Haltung sind stimmig. Sehr gut ist trotz der rudimentären Darstellung die Handhaltung des Spielers zu erkennen, der mit drei Fingern beidseitig die senkrecht aufgespannten Saiten zupft.
Rückschlüsse auf eine möglichen Spieltechnik oder Bespielrichtung der rätische Winkelharfe aus Fritzens/Pirchboden müssen generell hypothetisch bleiben, ebensowenig lassen sich Stimmung der einzelnen Saiten oder Tonskalen abklären.
Das lokal nahe gelegene Beispiel aus dem Veneto legt die Form einer vertikal gehaltenen Winkelharfe nahe, deren Saiten gezupft wurden.
Horizontal
Horizontale Haltung der Harfe bedeutet, dass sie flach vor dem Spieler liegt, sodass der Hals gebogen nach vorne abschließt und die Saiten zum Spieler offen liegen.
Die Reliefs assyrischer Paläste aus Nimrud und Niniveh (870 - 650 v.Chr.) zeigen diese Art von Chordophonen horizontal vor dem Körper liegend getragen. Sie werden mit einem Stäbchen angeschlagen.2
Ein schönes Beispiel stellt das Alabasterrelief aus dem Nord West Palast Ashurnasirpal II. aus Nimrud/Irak dar, das sich heute im British Museum, London befindet.
Folgt man hingegen der Prämisse, dass das Instrument zur Stabilisierung über eine Stützsäule verfügt hat, ist eine Bespielung wie bei der Figurine aus Sesto al Reghena naheliegender, da die Säule beim Anschlagen spieltechnisch im Weg sein würde.3
Musikethnologische Belege
Wenngleich der Bilderbogen durch verschiedene Regionen Afrikas und Asiens so wirkt, als hätte man sich im Fundus der auch heute noch gespielten Harfen für die Rekonstruktion der Fritzener bedient, war der Weg genau umgekehrt. Der Nachbau erfolgte bis ins Detail der aufgezogenen Saiten nach den am Instrument dokumentierten Spuren.
Umso verblüffender waren die vielen musikethnologischen Beispiele, die wir im Laufe der Recherche fanden.
YouTube erwies sich zudem als reiche Quelle für musikalische Aufnahmen, die sowohl die Haltung des Instruments, die Details der Spielweise und den Klang vergleichbar machen.
Vertikal
Die meisten noch heute verwendeten Bogenharfen stammen aus Afrika. Bei diesem Typ wird der gebogene Saitenträger durch eine Tülle oder ein Loch in die Seite des Resonanzkörpers gesteckt. Dass sich diese nicht so eindeutig, wie man annehmen könnte, von den Winkelharfen unterscheiden, wird im Film aus Abb. V7 deutlich, die den Bau einer Ngombi Harfe dokumentiert. Der Unterschied zwischen den beiden Typen liegt nur in der Biegung des eingebauten Aststücks für den Hals, ist also im Herstellungsprozeß nicht so fundamental, wie man von der fertigen Form aus annehmen könnte.
Die Auswahl der Harfen erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit oder möchte eine Genese ablesbar machen. Gleichwohl fällt auf, dass sich die Form der Bogenharfen entlang der Trans-Sahara-Route bis Zentralafrika finden.
Die Kundi (kùndi, nkundi, Abb. V1) ist eine üblicherweise 5-saitige Bogenharfe der Azande im Norden der Demokratischen Republik Kongo, in der Zentralafrikanischen Republik und in einem angrenzenden Gebiet im Westen des Südsudan, die auch von anderen Ethnien in diesem Gebiet gespielt wird. Die Ngombi (Abb. V2-V8) aus Gabun, die auch als Bwiti-Harfe4 bezeichnet wird, ist 8-saitig.
Charakteristisch ist ein geschnitzter menschlicher Kopf am Ende des Saitenträgers. Auch insgesamt anthropomorphe Gestaltungen sprechen für die Bedeutung des Harfenspiels im kultischen Kontext.5
Während es Bildbeispiele gibt, dass die Kundi im Gehen oder Sitzen gespielt wurde und wird, sieht man die Ngombi im Sitzen gespielt.
In den meisten Abbildungen und Filmen wird die Kundi vertikal gehalten, es gibt aber auch Beispiele für horizontales Bespielen.6
Horizontal
Während für die Kundi beide Haltungen belegt sind (Abb. V1 und H1), werden die beiden aus Uganda stammenden Bogenharfen Ennanga (7-9 Saiten, Abb. H3 und H4) und Adungu (5 Saiten, Abb. H5 und H6) nur horizontal bespielt. Auch für die Ennanga ist eine höfische Musiziertradition als solistische Gesangsbegleitung belegt.
Eine einzigartige Mischform zwischen Musikbogen und Bogenharfe stellt die afghanische Waji (Abb. H7) dar, die entsprechend der Ethnie der Nuristani auch als Kafir bezeichnet werden kann. Auch diese 4-saitige Harfe steht im Kontext des epischen Erzählens und ist die letzte noch gespielte Bogenharfe Zentralasiens.7
Die einzige in der klassischen Musik Asiens noch verwendete Bogenharfe ist die burmesische Saung gauk, die auch als das Nationalinstrument Myamars gilt. Die ursprüngliche Saitenzahl des schwanenhalsförmigen Instruments wurde von 5 auf 16 erweitert.
Schräg/Seitlich
Es gibt keine Bildbeispiele für eine schräge Positionierung. Es ist allerdings möglich, den Nachbau der Fritzener Harfe seitlich vor dem Oberkörper zu halten und wie eine Jochleier zu spielen.
1Publiziert in: Il Museo Nazionale Concordiese di Portogruaro. Itinerario Archeologico die Concordia Sagittaria, a cura di Pierangela Croce Da Villa, Portogruaro 1992, 29, Fig.17 und Gerhard Tomedi, Zur vorgeschichtlichen Musik in Alttirol und im Südalpenraum, in: Musikgeschichte Tirols 1, Schlern Schriften 315, Hrsg. K. Drexel, M. Fink, Innsbruck 2001, 26, Abb. 13
2Bildbeispiele siehe: Bo Lawergren, Angular harps through the ages. A causal history, in: Studien zur Musikarchäologie VI, Orient Archäologie Band 22, Hrsg. A.A.Both, R. Eichmann, E. Hickmann, L.C. Koch, Rahden 2008, 276 Fig. 8a-c, Musiker mit horizontal gespielten Winkelharfen, Reliefs aus assyrischen Palästen (a) NW Palast Nimrud, Ashurnasirpal II, ca. 870 v.Chr.; b) SW Palast Niniveh, Sennacherib, 700 v.Chr.; c) SW Palast Niniveh, 700 v.Chr., Sennacherib, Ashurnasirpal, 650 v.Chr.99)
3Letztlich ist es schwierig, einen eindeutigen Instrumententyp nach gegenwärtigen Kriterien zu definieren, da durch verschiedene Bespielungen des Instruments die rezente Bezeichnung variiert. D.h. wenn eine Winkelharfe mit einem Stäbchen angeschlagen wird, kann man von einer Schlagzither sprechen. Wird sie schräg gehalten und können die Saiten mit einer Hand abgestoppt werden, würde sich die Benennung Lyra, Leier oder Kithara anbieten.
4 Die Ngombi ist stärker noch als andere Bogenharfen Teil der religiös-kultischen Praxis. Bwiti (https://de.wikipedia.org/wiki/Bwiti, 20.12.2023) ist eine dezentral organisierte synkretistische Religionsgemeinschaft in Gabun, die erst Mitte des 19. Jhs entstand und traditionelle afrikanische Religionen mit dem Christentum vermischt. Die meisten Ngombi-Spieler tragen weiße Gesichts- und Körperbemalung. Ob dies zum Schutz geschieht oder um sich mit der spirituellen Welt zu verbinden, ist aktuell nicht eruierbar. Im Film über den Bau einer Ngombi, der vom MIM (Musikinstrumentemuseum Brüssel) bei YouTube eingestellt wurde, bestreicht der Instrumentenbauer sowohl das Holz, das er bearbeiten wird, als auch sich selbst mit weißem Ton, da er das Holz durch seine Arbeit verletzen wird (https://www.youtube.com/watch?v=yJtIuwARnlY, 19.12.2023).
Bei der Ngombi ist zudem tradiert, dass die Spieltechnik mit drei Fingern zu Beginn der Rezitation stattfindet und den Charakter einer kultischen Anrufung hat. Diesselbe Spieltechnik lässt sich auch am Bronzefigürchen aus Sesto beobachten.
5Die Herkunft der Kundi ist bei den Azande mythischen Ursprungs, da sie dem Volk von einem Mann, der aus der Richtung des Reichs der Ahnen kommt, gebracht wird (https://de.wikipedia.org/wiki/Kundi_(Harfe)#, FN 17).
6 "The elder generation in the region plays “vertical” harp: the musician holds his instrument with the neck to the body. For plucking the strings, the old harpists use three fingers of the right and two fingers of the left hand. The old men’s harp technique is more difficult to learn. Almost all the younger people I have seen played “horizontal” harp with the neck away from the body, or, as Ouzana explained it: “one holds the harp like the San^u” (= Likembe of the Azande). The “walking harp” is also played in this way. I have never seen a player of the “vertical” harp walking with his instrument."
Kubik, Gerhard. 1964. “Harp Music of the Azande and Related Peoples in the Central African Republic (Part 1 - Horizontal Harp Playing)”. African Music : Journal of the International Library of African Music 3 (3):37-76, S. 41. https://doi.org/10.21504/amj.v3i3.1034
Dieser wichtigen Aussage Kubiks muss zum Teil widersprochen werden. Im Intro des Films "Kundi harp; old recording from Congo, Afrika (1952)" (https://www.youtube.com/watch?v=XNGRZVHjYbQ, 21.12.2023) ist ein stehender, die Kundi vertikal haltender Musiker dargestellt. Hingegen zeigt das bei Wikipedia als Beleg gezeigte Bild zeigt kein Spielen der Harfe, vielmehr wird sie nur von einem Kind gehalten (https://de.wikipedia.org/wiki/Kundi_(Harfe)#/media/Datei:Magpetu_vona.jpg, 20.12.2023)