Ringvorlesung WiSe 2022/23
Geschlecht, Ethnizität, Kultur: Körper im Spannungsfeld von Unterwerfung und Subversion
„Hysterische Körper“ in der historischen Psychiatrie
Maria Heidegger, Michaela Ralser
Abstract:
In der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts wurde zwar die jahrhundertealte Verknüpfung von ‚Hysterie‘ mit Weiblichkeit und weiblicher Sexualität als Krankheit der Gebärmutter zugunsten einer des Gehirns aufgegeben, gleichzeitig wurde diese Zuschreibung aber durch die Annahme einer angeblich besonderen Affinität des weiblichen Geschlechts zu hysterischen Exzessen bekräftigt. Im Konzept der Hysterie lebten auf diese Weise frühneuzeitliche medizinische Lehren von den Einbildungen, Betrügereien und Simulationen weiter fort. Für Foucault stellte die „Hysterisierung des weiblichen Körpers“ einen der vier strategischen Komplexe von normalisierenden Wissens- und Machtdispositiven dar (neben der Pädagogisierung der kindlichen Sexualität, der Sozialisierung des Fortpflanzungsverhaltens und der Psychiatrisierung der perversen Lust). Soweit die Theorie. In unserem Beitrag gehen wir diesen Zusammenhängen exemplarisch anhand von Krankenakten in zwei unterschiedlichen zeiträumlichen Kontexten nach, nämlich der frühen Anstaltspsychiatrie um 1850 einerseits und der psychiatrischen Klinik um 1900 anderseits, in der mit dem Hysteriekomplex sowohl das unsichere Geschlecht, wie die prekäre Sexualität und die sogenannt gefährliche Klasse der Jahrhundertwende thematisiert wurden. Durch einen solchen Zugang können wir auf Kontinuitäten und Brüche in psychiatrischen Normalisierungsnarrativen aufmerksam machen und auch die subversiven Stimmen der ‚eigensinnigen‘ und ‚hysterischen‘ Patientinnen besser zu Gehör bringen.
Zu den Personen:
Maria Heidegger ist Senior Scientist am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie mit Forschungsschwerpunkten in der Psychiatrie- und Medizingeschichte, Körper- und Emotionsgeschichte. Sie leitet das Forschungsprojekt „Patients and Passions“ zur Schmerzgeschichte des Katholizismus im 19. Jahrhundert und ist Mitherausgeberin des Medical Humanities-Journals „Revisit. Humanities & Medicine in Dialogue“. Ihre Habilitationsschrift befasst sich mit Psychiatrie, Wahn und Religion in Tirol im Vormärz.
Michaela Ralser ist Professorin am Institut für Erziehungswissenshaft mit dem Schwerpunkt: Theorie und Geschichte öffentlicher Erziehung und Epistemologie des Subjekts. Seit längerem befasst sie sich auch mit der Geschichte der Psychiatrie und der Fürsorgeheimerziehung. Sie leitet zur Zeit das Projekt „Negotiating Educational Spaces in Residential Child Care 1970-1990“, welches sich – verschieden Wohlfahrtsregionen vergleichend - mit dem Wandel der gewaltvollen Heimerziehung an dieser Schwellenzeit auseinandersetzt. Ihre Habilitationsschrift befasste sich mit dem „Subjekt der Normalität“ (Wilhelm Fink, 2010).
Zeit: MITTWOCH, 07. Dezember 2022, 17:15-18:45
Ort: Campus Innrain, Hörsaal 1, JOSEF-MÖLLER-HAUS, 1. Stock
MA Gender, Kultur und Sozialer Wandel, Wahlmodul 4 und Angebot für alle MA Studien, Interdisziplinäre Kompetenzen