LeseLupe Bücher

LeseLupe Osteuropa #2 [de]

Dienstag, 07.06.2022, 18.00 Uhr; Cinematograph (Museumstraße 31)

Wir freuen uns, als Gäste unserer zweiten Leserunde die freischaffende Autorin Barbi Marković, den Literaturredakteur der Tiroler Tageszeitung Joachim Leitner sowie von der Universität Innsbruck Gernot Howanitz (Institut für Slawistik) begrüßen zu dürfen. Gemeinsam mit Yana Lyapova werden sie vier aktuelle Titel aus Osteuropa diskutieren.

 

Folgende Bücher werden besprochen:

Staubfänger

"Staubfänger" von Lucie Faulerová
(aus dem Tschechischen von Julia Miesenböck, erschienen bei homunculus)

Jeder ist seines Glückes Schmied oder literarisch gedacht der Held seines eigenen Lebensnarrativs. Doch warum versucht die 28-jährige Anna aus Lucie Faulerovás Debütroman "Staubfänger" sich so hartnäckig zur Antiheldin ihrer Geschichte zu stilisieren? Alkohol, Zigaretten, der stupide Job als Callcenter-Agentin bei der Informationsauskunft, die sparsame Smalltalk-Kommunikation mit ihrer distanzierten Schwester, gelegentlich schlechte Dates mit unangenehmem Ausgang und oben drauf auch ein rätselhafter Erzähler, der Anna die Deutungshoheit über ihr Leben streitig machen möchte. Faulerovás Roman liefert ein intrikates Spiel mit der Macht der Erzählinstanz und berührt damit im Kern Fragen an der Schnittstelle zwischen Fiktion und Realität: Beherrschen wir die Lügen, die wir Anderen über uns erzählen, oder sind sie so wirkmächtig, dass sie uns selbst lenken und versklaven? Worin besteht der Unterschied zwischen Lügen und Erzählen?

 

Sonia meldet sich

"Sonia meldet sich" von Lavinia Branişte
(aus dem Rumänischen von Klaus Manuela Klenke, erschienen bei mikrotext)

Die Protagonistin in Lavinia Braniştes zweitem Roman, Sonia, ist eine junge Frau in ihren Spätzwanzigern, die sich mit einer Mischung aus prekären Jobs über Wasser hält, bis sie plötzlich einen ungewöhnlichen Arbeitsauftrag erhält. Sie soll ein auf Gerüchten basierendes Drehbuch über das Leben von Zoia Ceauşescu – Tochter der berühmten Diktatorenfamilie – schreiben. Der Zweck des Films ist keineswegs Aufklärung, sondern die Ausschlachtung von Halbwahrheiten zur Befriedigung der Massenlust an sensationalistischen Details aus einer Zeit, über die Sonias Generation nichts mehr als die Fernsehbilder von der Verurteilung und Hinrichtung der Eheleute Ceauşescu zu kennen scheint. Je mehr Sonia versucht, sich über den Gegenstand ihres Auftrags aufrichtig zu informieren, desto mehr gleitet sie von der Oberflächendarstellung sowohl kollektiver als auch privater Erinnerungen an diese Zeit ab, ohne sie durchdringen zu können. Aber welche Geschichte lässt sich über oder auf der Basis einer gähnenden Abwesenheit überhaupt erzählen?

 

Zeitzuflucht

"Zeitzuflucht" von Georgi Gospodinov
(aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann, erschienen im Aufbau Verlag)

"Alle Geschichten, die stattgefunden haben, ähneln einander, jede Geschichte, die nicht stattgefunden hat, hat auf ihre eigene Art und Weise nicht stattgefunden" (S. 58). Der neue Roman "Zeitzuflucht" des bulgarischen Starautors Georgi Gospodinov ist vor allem eines – ein inniges Bekenntnis zur europäischen Literaturtradition, die in Zeiten von Krisen und Katastrophen jeglicher Ausmaße Lokalkolorit und nationale Zugehörigkeit abstreift und sich an den Ort begibt, wo Gestern und Morgen den gleichen Geschmack haben, weil sie vom selben erzählerischen Stoff gemacht sind, der Ort des Bewahrens – die Schweiz. In der Schweiz trifft Gospodinovs Ich-Erzähler auf einen alten Bekannten – der geheimnisvolle, durch die Zeiten schlüpfende Flaneur Gaustin, der ihn in sein neues Projekt einweiht – die Gründung einer Zeitklinik für Demenzkranke, in der jedes Stockwerk als Zeitkapsel eines vergangenen Jahrzehnts fungiert. Doch was passiert, wenn auch Gesunde in der Vergangenheit Zuflucht suchen wollen? Und ist die heiß zurückersehnte Vergangenheit eine gesamteuropäische?

 

Filip

"Filip" von Leopold Tyrmand
(aus dem Polnischen von Peter Oliver Loew, erschienen bei der Frankfurter Verlagsanstalt)

Genau 60 Jahre nach der Erstveröffentlichung von Leopold Tyrmands geringfügig fiktionalisiertem, autobiographischem Roman "Filip" begegnet die deutsche Leserschaft dem 23-jährigen Schelm und Charmeur Filip Vincel, der sich als polnischer Jude unter dieser gefälschten Identität mitten im Dritten Reich im luxurösen Frankfurter Parkhotel als französischer Kellner ausgibt. Der ungetrübte Blick dieses neugierigen Lebensherausforderers eröffnet nicht nur eine neue Perspektive auf die Stadt am Main in den Kriegsjahren 1942/43, sondern auch auf die innergesellschaftlichen Spannungen und das europäische Zusammenleben unter schwerstmöglichen Bedingungen. Mit einem unglaublichen Auge fürs Detail und einem vortrefflichen Sinn für Dialoge lässt Tyrmands Roman eine ganze Welt wiederauferstehen und erinnert daran, dass Nuancenreichtum und die Abwesenheit von Berührungsängsten transnationale Merkmale guter Literatur sind.    

 

Neben diesen vier Titeln werden die Diskussionsteilnehmer:innen noch jeweils kurz einen Überraschungstext vorstellen. Alle besprochenen und vorgestellten Titel werden beim Büchertisch unseres Kooperationspartners liber wiederin vor Ort erhältlich sein.

 

Moderation und Organisation: Yana Lyapova, Institut für Slawistik der Universität Innsbruck

Eine Veranstaltungsreihe des Osteuropazentrums in Kooperation mit dem Institut für Slawistik und der Buchhandlung liber wiederin

 

  Plakat
  Veranstaltungsreihe
  Buchhandlung liber wiederin

  Aufzeichnung


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