2.2 Offenbarung als Freilegung und Überwindung gewaltsamer Strukturen (René Girard)
Girards Anthropologie stellt zugleich eine umfassende Religionskritik dar: die Götter der Religionen werden als sakralisierte Sündenböcke demaskiert. Für die christliche Theologie ist es nun interessant, daß Girard die autoritativen Texte von Judentum und Christentum, die immerhin auch nicht frei von Gewalt sind, nicht nach dem Muster dieser Religionskritik abfertigt, sondern ihnen im Gegenteil eine wirkungsvolle Aufdeckung der fundamentalen Gewaltmechanismen zuspricht: Im Unterschied zu anderen kulturellen und religiösen Schlüsseltexten argumentieren die biblischen Texte nicht nur innerhalb der beschriebenen Logik des Sündenbockmechanismus, sondern entlarven dessen gewalttätigen Kern, indem sie in zunehmendem Maße Partei für die ausgestoßenen Opfer ergreifen. Ein direkter Vergleich zwischen der biblischen Erzählung von Kain und Abel und dem römischen Mythos von Romulus und Remus kann dies auf exemplarische Weise verdeutlichen:(13) Bei beiden Texten handelt es sich um Gründungsmythen für städtische Kulturen. Ergreift der römische Gründungsmythos aber die Partei des Romulus, der seinen Bruder Remus tötet, so deckt die biblische Erzählung die Schuldlosigkeit des Opfers Abel auf. Die prophetischen Texte des Alten Testaments wurden vielfach von Außenseitern verfaßt, deren Legitimität von den jüdischen Autoritäten erst viel später als Resultat eines Bekehrungsprozesses zugegeben wurde. In vollständiger Weise erfolgte die Aufdeckung der fundamental-strukturellen Gewalt im Neuen Testament. Die Evangelien bezeugen bis in subtile Details, daß Jesus vollständig frei von jeder Logik der Gewalt war. Von daher ist seine oft verblüffende Lehre ebenso interpretierbar wie seine Heilungstätigkeit und schließlich sein Schicksal in Passion und Kreuz. Angesichts der umfassenden Verwurzelung kollektiver Existenz in verschleierter Gewalt ist diese Freiheit Jesu letztlich nur dadurch erklärbar, daß Jesus seine Identität auf einmalige Weise nicht von dieser Welt habe. Girard sieht hier einen Ansatz zur Reinterpretation der kirchlichen Lehre von Jesus als dem Sohn Gottes.(14)
Durch eine jahrhundertelange Wirkungsgeschichte (teils innerkirchlich, teils außerkirchlich, besonders durch die Literatur) wirkte die nichtsakrifizielle Logik des Evangeliums sich zunehmend in die Weltgeschichte hinein aus. Es ist eine allgemeine Sensibilität gegenüber Opferzuweisungen gewachsen, für welche etwa die inflationäre Rede von Sündenböcken bezeichnend ist. Allerdings bewirkt die zunehmende Aufdeckung der Sündenbockmechanismen nicht unmittelbar eine Sicherung des Friedens, sondern führt zu neuen, subtileren Formen von Ausstoßungen, sowie zu einer Häufung von Opfern, um die durch die Aufdeckung immer schwächer werdende Befriedungswirkung des Sündenbockmechanismus doch noch zu erzielen. Daß eine so umfassende Aufdeckungstheorie über die verborgen gewalttätigen Wurzeln menschlicher Kulturen, wie sie seine Theorie beansprucht, überhaupt möglich ist, schreibt Girard der über die Jahrhunderte weitgestreuten Aufdeckungswirkung der nichtsakrifiziellen biblischen Texte zu.