Zur Ausstellung
Anna Maria Mackowitz
Elisabeth Melkonyan
23. März 2017
Die alten Armenier meiner Kindheit hatten dreierlei Ereignisse erlebt: Ereignisse, die sie mieden. Ereignisse, die sie erwartet hatten, und Ereignisse, die sie vollends unerwartet trafen. Sieht man sich die Sache genauer an, so können alle Umstände, die sie durchzustehen hatten, zur letzten Kategorie gezählt werden, denn die Ereignisse, die sie gemieden hatten, haben schließlich doch stattgefunden. Und die Ereignisse, die sie stets erwartet hatten, traten nicht ein. So gesehen, sind die Lebensläufe meiner Großeltern eine Art Chronik der unerwarteten Ereignisse.
Varushan Vosganian, Buch des Flüsterns
Im ersten Genozid des 20. Jahrhunderts in den Jahren 1915-1918 fanden ca. 1,5 Mio Armenier den Tod. Die, die überlebten, versuchten sich im Trauma des Erlebten in den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens und im Westen, in Europa und Amerika, ein neues Leben zu schaffen. Die systematische und gezielte Ausrottung des armenischen Volkes, der Genozid 1915 prägt bis heute das Leben aller Armenier weltweit, durch ihre individuellen Familiengeschichten, aber auch durch die Politik und die noch immer unversöhnliche Stellung der heutigen Türkei, die diesen Genozid leugnet und sich die Schuld nicht eingestehen will. Doch die Armenier erinnern sich und wollen dem Vergessen auch keinen Raum geben.
Und doch hat das Vergessen Einzug gehalten in unserer Gesellschaft. Man meint, unsere schnell-lebige Welt vergisst zu schnell. Zu viele Schreckensmeldungen aus der Gegenwart, die das Vergangene vergessen lassen. Eine ganze Flut von Bildern grausamster Taten des Islamischen Staats an Christen drängt sich einem schier in den Medien auf. Wie soll man da noch an etwas denken, das vor nunmehr 102 Jahren fern von uns und unseren Augen stattfand. Oder an das, was VOR unseren Augen, in unserer Nähe, stattfand in den 40er-Jahren des letzten Jahrhunderts und 5-6 Millionen Juden das Leben kostete. Keinen Raum geben für das Vergessen. Das vergangene Leid spüren und wissentlich aufnehmen und handeln gegen das Vergessen – damit sich die Geschichte nicht wie in einer Endlosschleife wiederholt…
In dieser Ausstellung wird einem Teil der Geschichte des armenischen Völkermords gedacht, der weniger bekannt ist. Dem Bau der Bagdadbahn. Schon auf dem Vorplatz zur Fakultät stolpert man über Schienenstücke und Schwellen, abgebrochen, wie die Metapher eines unausweichlichen, doch vorgefertigten Weges. Diesen Weg mussten Menschen beschreiten, ihrer Auslöschung, ihrem Ende, ihrem Tod entgegen. Vor hundert Jahren entlang der Bahnstrecke der Bagdadbahn in Hungermärschen in die syrische Wüste oder zusammengezwängt in Viehwaggons zu Tausenden in Richtung Ostanatolien.
Mit Kriegsbeginn hatte sich die Funktion der Bahn schlagartig geändert: Es galt Truppen und Waffen auf der Ost-West- und Nord-Südroute zu bewegen. Hier waren nun vorrangig die Lücken in den Bergregionen zu schließen. Doch die Bahn wurde auch von den osmanischen Machthabern genutzt, die ethnischen Säuberungen ab 1915 gezielt durchzuführen. Es war die osmanische Regierung, die den Zug als Deportationsmittel eingeführt hat. Den Zug als Transportmittel der Zivilbevölkerung zur systematischen Vernichtung. An fast allen Stationen gab es Auffanglager, wo Tausende starben.
All das wurde von den Augen armenischer Streckenarbeiter beobachtet. Bereits am 25. Februar 1915 hatte Enver Pascha den Befehl erteilt, alle im osmanischen Militär aktiven armenischen Soldaten zu entwaffnen. Sie wurden auch zu den unzähligen namenlosen Arbeitern der Amele Taburlari, der osmanischen Arbeitsbataillone gemacht. Die fortschreitende Türkisierung und damit auch die Deportation der armenischen Streckenarbeiter der Bagdadbahn konnte nur bedingt von beherzten deutschen Ingenieuren aufgehalten werden. Bis zu 7.000 Armenier rackerten an dem Bau der Bahn in den Amanusbergen. Die Massaker und Deportation der armenischen Bahnarbeiter waren die letzten in den Plänen des Talaat Pascha zur Vernichtung der Armenier.
Die Armenier der Bagdadbahn sind nur ein kleiner Teil aller Opfer des Genozids. Doch sinnbildlich zu verstehen für Menschen, die für wirtschaftliche Interessen, politische Vereinbarungen und Machtgeplänkel zwischen Großmächten zum Objekt werden – bis heute.
Boote sind seit jeher ein Symbol der Verbindung zwischen Leben und Tod, zwischen verschiedenen Ufern, zwischen verschiedenen Kontinenten. Auf den Flüssen des Osmanischen Reiches, die sich entlang der Strecke der Bagdadbahn schlängelten, gab es keine Rettungsboote für die geschundenen armenischen Menschen. Im Gegenteil, die Flüsse begleiteten die kilometerlangen Deportationszüge auf ihrem Weg ins Jenseits, wurden vielen zum – auch freiwilligen – Grab.
Es gab jedoch Boote im Mittelmeer, die eine Gruppe von Armeniern vor dem Tod retten konnten. Die französische Marine brachte tausende Armenier, die sich am Mosesberg verschanzt und Widerstand geleistet hatten, nach Port Said in Ägypten in Sicherheit. Eine Geschichte, die Weltberühmtheit erlangte im ersten Roman über den armenischen Genozid, Franz Werfels vierzig Tage des Musa Dagh, geschrieben 1933.
Züge und Boote bewegen und sind in Bewegung. Sie sind von Menschen gemacht, um Menschen von einem Ort zu einem anderen sicher zu transportieren. Sie werden von Menschen benutzt, um andere Menschen auf eine Reise zu schicken, von der sie nicht mehr zurückkehren. Anders als Boote sind Züge sprechendere Zeugen der Vergangenheit. Sie gleiten über Schienen, die die Landschaft scharf wie Messer durchschneiden und an ihren Trassen das Land und ihre Menschen formen und auch ausbeuten. Schienen wurden von Menschenhänden verlegt. Manche davon gehörten geprügelten, ausgebeuteten und bis zum Tode gequälten Zwangsarbeitern. Ob der Reisende in der Gegenwart, der diese Schienen befährt, an deren Hände denkt, an den Schweiß, das Blut, den Hunger und den Überlebenskampf? Den Tod? Vernimmt er die Geschichten, die auf den Schienen kleben wie Hunderte aneinander gefügte, niemals zu Papier gebrachte Worte unzähliger namenloser, zum Schweigen gebrachter Menschen? Oder sieht er nur mehr die Landschaft an sich vorbeigleiten? Den Schienen sind in anderer Richtung unzählige in den letzten Monaten gefolgt, auch ihnen wurden die Schienen teilweise zum Verhängnis. Sie blieben an den Bahnhöfen in Budapest, in Wien oder Salzburg hängen.
Es gibt, so scheint es, keinen Raum zwischen Erinnern und Vergessen. Doch, wenn man es zulässt, dann wird die Tür zu diesem Raum geöffnet. Einem kleinen, beinah unsichtbaren Raum, der sich wie ein sanftes, feinfädriges Gewebe im Wüstenwind bewegt, ein kaum wahrnehmbares Flüstern ungelesener Briefe von Ungesehenen, ein leises Wogen und sanftes Rütteln wie in einem fahrenden Zug oder einem von Wellen schaukelnden Boot.
bis 3. Mai
Text: Univ.-Doz. Dr. Dr.h.c. Jasmine Dum-Tragut Bakk.rer.nat., Abt. Armenologie, Univ. Salzburg