Zur Ausstellung
Christine Piberhofer
5. Oktober 2010
Wie wir alle wissen, ist uns das Gewohnte keineswegs immer gleich auch das Bekannteste. Eher das Gegenteil ist der Fall! Beim Gewohnten verengt sich die Wahrnehmung auf ein einmal standardisiertes Bild, das wir unverrückbar abgespeichert haben. Die Quelle des Arbeitens von Christine Piberhofer liegt genau in diesem Gewohnten, in der Landschaft der Umgebung, in der Bergwelt oder in den ihr zugewachsenen vertrauten Orten, darunter vor allem Venedig.
Es ist die feinsinnige Sensibilität der Künstlerin, die in diesem Gewohnten das Ambivalente entdeckt. Die als ein Seismograph gewahrt, wie dieses Übliche in seiner organisch-realen Gestalt in die Ferne rückt und gleichsam als geometrische Form wiederkehrt.
Das aber ist keineswegs ein Spiel im Formalen, sondern wird inhaltlich aufgeladen – sogar mit zeit- und gesellschaftskritischen Untertönen. Diese bleiben freilich behutsam, beinahe diskret, bisweilen humorvoll. Laute und schrille Manifeste von Christine Piberhofer wird niemand erwarten. „Die Bilder sind nicht festgelegt, sie bleiben im Ungefähren“, schreibt Erika Wimmer in ihrem Katalogbeitrag. Doch dieses Ungefähre zeigt ein Vexierspiel, in dem das Gegenständliche ins Abstrakte kippt und das beruhigende Vertraute ins Bedrohliche.
Genau das aber, dieses Kippen, reizt die Künstlerin und sie verschafft ihm einen Auftritt auf der Leinwand. Organische Felsformationen kippen in geometrische Kuben, die den Felssturz verhindern sollen, Lawinenverbauungen ragen wie Balkonbrüstungen in die dritte Dimension und sind doch Bollwerke gegen den Tod. An den Grenzen von Licht und Schatten ereignet sich das Spiel von Natur und Technik, beides mit der jeweils wechselnd-oszillierenden Bedeutung des Bedrohlichen und Heilsamen.
Diese bezwingende Symbolik schillert auch in den von der Künstlerin liebevoll palancole genannten, in Venedig allgegenwärtigen Spundwänden aus Stahl. Ihre eindrückliche geometrische Form ist eine brauchbare Metapher für das Schicksal der Lagunenstadt, die mit Grenzen lebt, welche das Heilsame vom Bedrohlichen scheidet. Das Wasser war über Jahrhunderte eine Quelle des Reichtums für die Stadt, aber auch das Element der größten Gefahr.
Zudem bleibt diese durch das riesige Format eindringlich gewordene Metapher ausdeutbar für mannigfache Konstellationen des Lebens.
In letzter Zeit hat sich der Mensch in der Bilderwelt der Künstlerin seinen Platz erkämpft – „endlich“, meint Erika Wimmer, „hat er Einzug gehalten in Christine Piberhofers durchstrukturierte Dingwelt.“ Auch über der Darstellung des Menschen firmiert das Thema der Ambivalenz. Die Gesichter der Kardinäle in üppigem Ornat, die sie im Dom von Florenz porträtierte, flößen mehr Angst ein als die verspielten Teufelchen im Hintergrund. Diese „rote Mauer aus Männern“ (so Markus Neuwirth) erinnert an die palancole und drückt etwas aus, was Reiner Schiestl mit „Dagegenhalten und Abschirmen“ prägnant auf den Begriff bringt.
Was die in den bodenlosen Abgrund starrenden Menschen dort gewahren, ist nebensächlich, der Künstlerin geht es um diesen Moment des Kippens, der Ambivalenz, wie er sich an der Kante am Dunkel des drohenden Absturzes darstellen lässt, dort, wo die Illusionen des Lebens zerbrechen.
Die augenzwinkernde Pathosvermeidungsstrategie zeigt sich in dem hier nicht gezeigten, aber im Katalog abgebildeten Doppelbild Andreas Hofers und Napoleons mit der gleichen Geste der in der Brusttasche ausgeruht versenkten Hand. Zu erinnern ist, dass sich derweil Aufklärung und Gegenaufklärung eine blutige Schlacht liefern. Ähnlich ambivalent erscheint Christina von Schweden auf einem kraftvoll springenden Schimmel, doch umzäunt von beengenden Gittern und Speeren.
Formal ließe sich diese Doppeldeutigkeit mit der alten Paarung von Linie und Farbe, von Kalkül und Expression auflösen, dem – wie die Renaissance es ausdrückte – disegno und colorire. Tatsächlich entspricht dies auch der Arbeitsweise der Künstlerin die stets mit einer Skizze beginnt und diese mit einer ein- oder mehrfachen Übermalung überformt. Die Sondierungsarbeiten mit dem Bleistift sind ein eigenes bedeutendes Genre geworden. Doch dieses formale Vorgehen hat einen inhaltlichen Mehrwert, es macht die Arbeiten von Christine Piberhofer zu einer Schule der Wahrnehmung. Sie entkleiden das Übliche von seiner Eindeutigkeit und lassen uns die Ambivalenz der Wirklichkeit entdecken. Sie sind in ihrer ausdrucksstarken Symbolik darüber hinaus eine Schule des Lebens, die uns nicht nur lehrt, im Bedrohlichen das Hoffnungsvolle zu sehen und im Überschwang das Gefährdende, sondern sie ist ein Exerzitium des ständigen Changierens im Leben zwischen den Polen, welche die Menschen seit Urzeiten eindringlich dramatisiert haben: Himmel und Hölle.
Text: Bernhard Braun