Zur Ausstellung
Hiltrud Gauf
6. Mai 2011
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich freue mich sehr, die Gelegenheit zu haben, die Ausstellung von Hiltrud Gauf eröffnen zu dürfen. Dies freut mich umso mehr, als ich die Künstlerin schon seit einiger Zeit kenne und sehr schätzen gelernt habe. Und ich bin froh, dass sie mit ihren Bildern den Weg von Köln, dort lebt sie nämlich, nach Innsbruck nicht gescheut hat. Hiltrud Gaufs zahlreiche Ausbildungen, Ausstellungen und Projekte hier alle zu nennen, ist unmöglich, denn sonst müssten Ihnen Bernhard Braun und die Theologische Fakultät morgen noch ein Frühstück spendieren. Aber einige wichtige Stationen möchte ich doch erwähnen: Sie hat Kunsttherapie und Bildende Kunst an der FH Ottersberg studiert (das ist in der Nähe von Bremen), war Stipendiatin der Friedrich Ebert Stiftung und arbeitet seit 2001 als freischaffende Künstlerin in Köln. Ihre Ausstellungstätigkeit erstreckt sich von Bremen, Trier, Köln, Berlin und Bonn über Frankfurt und Leverkusen bis Kattowice und heute Innsbruck. Projekte hat Hiltrud Gauf für Kulturzentren ebenso umgesetzt wie für Landesvertretungen in Deutschland. Sie ist sicher nach der Ausstellungseröffnung gerne bereit, im persönlichen Gespräch davon zu erzählen.
Ich muss gestehen, dass es mir in der Regel sehr schwer fällt, etwas halbwegs Kluges zu Werken der bildenden Kunst zu sagen. Wenn ich vor einem Bild stehe, dann fällt mir normalerweise nicht viel mehr ein, als dass es mir gefällt oder nicht gefällt. Vielleicht gelingt es mir noch, eine Handvoll meiner Gefühle zu beschreiben oder das, was ohnehin jeder sieht, wenn er das Bild betrachtet. Und für kunsthistorische Ausführungen fühle ich mich als Literaturwissenschaftler nicht kompetent genug.
Als ich Hiltrud Gaufs Bilder das erste Mal sah, spürte ich, dass mich die simple Feststellung, dass sie mir sehr gefallen, nicht zufriedenstellte. Ich merkte gleich, dass mich etwas Bestimmtes an den Bildern faszinierte, und ich wollte herausfinden, was diese Faszination auslöste. Meine folgenden Ausführungen sind ein Versuch, mit Ihnen meine Überlegungen dazu zu teilen.
Es sind Zeichnungen, die Hiltrud Gauf hier ausstellt, aber es sind keine herkömmlichen Zeichnungen. Es sind weder abstrakte Zeichnungen noch gegenständliche, sondern es sind gezeichnete Texte, die man kaum bzw. gar nicht mehr lesen kann, weil es Überschreibungen sind, Palimpseste, durch Texte überschriebene Texte. Diese Bilder, die im übrigen wunderschön anzuschauen – also sehr anschaulich – sind, befinden sich also irgendwie im Zwischenraum zwischen bildender Kunst und Literatur, und als Vergleichender Literaturwissenschaftler, der sozusagen auch ein berufsbedingtes Interesse an intermedialen Zwischenräumen hat, war ich sofort gefangen von diesen Bildtexten oder Textbildern. Sie vereinen Abstraktion und Anschaulichkeit – was an sich ein Paradox ist. Wenn Sie sich aber die Bilder ansehen, werden Sie feststellen, dass die Künstlerin einen Weg gefunden hat, dieses Paradox sozusagen aufs Papier zu bringen.
Sie sehen auf den Bildern einen Text, der gewissermaßen mehrmals mit sich selbst überschrieben ist. Was ist das für ein Text? Es ist der Zyklus der 100 Gesänge der Divina Comedia Dantes, also Himmel, Fegefeuer und Hölle. Der Ausgangspunkt Hiltrud Gaufs war die Lektüre eines der bekanntesten Texte der Weltliteratur, an den sich der Versuch anschloss, Bilder zu diesem Text zu finden. Ein ganzes Jahr hat die Künstlerin, wie sie mir vor der Ausstellung erzählt hat, versucht, zu Dantes Text Zeichnungen zu machen, aber entweder kamen unanschauliche Abstraktionen dabei heraus oder etwas Dekoratives, rein Illustratives, was sie nicht befriedigte. Da sie aber Dantes Werk so faszinierte, wollte sie nicht aufgeben und beschloss, ganz 'einfach' ein Bild zu schreiben. Also hat Hiltrud Gauf den gesamten Text der Divina Comedia abgeschrieben, eine Arbeit, die eineinhalb Jahre in Anspruch nahm. Auf jedem Din-A4-Blatt, das Sie hier sehen, ist ein Gesang der Divina Comedia festgehalten oder vielmehr kopiert, und zwar so, dass 6 bis 7 Überschreibungen entstanden sind, wobei die Künstlerin diese Überschreibungen keineswegs vorab als solche geplant hatte.
Durch die Überschreibungen des Textes mit sich selbst ist der Text der einzelnen Gesänge unleserlich geworden. Für mich als Literaturwissenschaftler, der ab und zu darunter leidet, dass die großen Texte der Weltliteratur so oft abgeschrieben und gelesen und kopiert und interpretiert worden sind und so viel Zeit dabei vergangen ist, dass man diese Texte genau genommen fast nicht mehr oder gar nicht mehr entziffern kann, sind diese Zeichnungen zu einer wunderbaren Metapher geworden für die 700 Jahre, die sich Schicht für Schicht über die „Göttliche Komödie“ gelegt haben. Die Zeichnungen veranschaulichen also auf eine sehr einfache und dadurch umso eindrücklichere Art und Weise, wie sich die Tradition der Textauslegung und die Arbeit des Immer-wieder- und Immer-neu-Lesens von Texten wie Ablagerungen auf das Original legen.
Und meines Erachtens vermitteln diese Zeichnungen auf eine sehr direkte Art und Weise noch etwas, nämlich die Tatsache, dass so alte Texte wie die Divina Comedia zwar in eine ununterbrochene Tradition eingebunden sind, aber doch aus einer ganz anderen Zeit stammen, aus einer Zeit, deren Bilderwelt uns möglicherweise schon unzugänglich geworden ist: Diese Zeichnungen sind also auch eine Metapher dafür, dass man zu einem so alten Text heute vielleicht keine Bilder malen kann, denn das, was in dem Text zu lesen ist, kann nicht mehr mit unserer Bilder- und Vorstellungswelt in Einklang gebracht werden. Die Distanz ist zu groß geworden. Man kann so einen Text nicht mehr veranschaulichen. Das Original ist also in mehrfacher Art und Weise – und notwendigerweise – unleserlich geworden – und das in einer visuellen Form umzusetzen, finde ich eine schwierige, ja fast unmögliche Aufgabe. Es ist zwar unmöglich, das Undarstellbare darzustellen, aber es ist vielleicht möglich, wenn auch schwierig, darzustellen, dass es etwas Undarstellbares gibt. Eine solche Darstellung der Unmöglichkeit der Darstellung sehen Sie auf diesen Zeichnungen hier.
Die Zeichnungen von Hiltrud Gauf veranschaulichen jedoch nicht nur das Unleserlichwerden eines Originals, das Verschleiern durch Überlagern, sondern sie erinnern auch an eine ursprüngliche Bedeutung des Wortes „Text“, nämlich „Gewebe“. Die Zeichnungen sind ein Gewebe, in dem die einzelnen Fäden sich ineinander verketten und so etwas Tragfähiges bilden. Die Bilder bestehen nicht aus einzelnen Fäden, die ohne Verkettung schnell reißen würden, sondern bilden ein dicht gewebtes Tuch, das einiges aushält.
Ab und zu kann man einen Buchstaben erkennen, der die Betrachterinnen und Betrachter daran erinnert, dass der Text, das Textil, niemals zu Ende gewebt ist, dass sich auch in Zukunft Schicht auf Schicht legen wird. Die Zeichnungen weisen in die Zukunft und kommen gleichzeitig aus der Vergangenheit. Sie beweisen solchermaßen nicht nur, dass Tradition etwas ist, was verschleiert und überlagert, sondern dass Tradition auch trägt, allerdings nur dann, wenn man daran weiterschreibt, weiterwebt. Und das müssen wir als Betrachterinnen und Betrachter machen. Und dazu möchte ich Sie im Namen der Künstlerin und im Namen der Theologischen Fakultät jetzt ganz herzlich einladen.
© Martin Sexl 06/05/2011