„Dies gibt es nicht in Tirol.“
Verfolgung von Homosexualität im Gau Tirol-Vorarlberg in der NS-Zeit
Forschungsprojekt | Laufzeit 2024–2027
© Christian Michelides, 23.12.2024, Stolperstein für Ludwig Sobotnik/Axams
„Dies gibt es nicht in Tirol“, sagte 1940 ein Tiroler über Homosexualität, der sich wegen einem Verstoß gegen § 129 Ib, also wegen gleichgeschlechtlichen Sexualhandlungen, vor dem Wiener Landgericht verantworten musste. Der Mann versuchte damit zu erklären, dass er unverschuldet in die kriminalisierte Situation geraten war, da ihm nichts anderes als die heterosexuelle Orientierung bekannt wäre. Strafverfahren gegen gleichgeschlechtlich begehrende Menschen fanden aber nicht nur in Wien statt: Vor dem Vorarlberger Landgericht in Feldkirch wurden zwischen 1938 und 1945 125 Verfahren nach § 129 Ib geführt, die bis jetzt jedoch nicht wissenschaftlich aufge- oder auch nur bearbeitet sind. Vor dem Innsbrucker Landgericht wurden im selben Zeitraum 732 Verfahren wegen Verstoß gegen § 129 Ib geführt, von denen 173 Verfahrensakten erhalten sind. Auch sie wurden bisher nur teilweise bearbeitet und beide Bestände stellen mit jenen des Historischen Archivs der Landespolizeidirektion Tirol den Kern der Untersuchung dar, werden aber mit Unterlagen aus Gedenkstätten und weiteren Archiven ergänzt. Viele Verfahren betrafen zwei Angeklagte, mitunter jedoch auch mehrere Personen. Das bedeutet, dass im Untersuchungszeitraum weit mehr als 1.000 Menschen wegen Homosexualität in Innsbruck und Feldkirch vor Gericht standen. Naturgemäß beschäftigt sich das Projekt mit der Verfolgung sämtlicher Sexualitäten in der NS-Zeit, die im binären Geschlechtersystem als mann-männlich und weiblich-weiblich dokumentiert sind. Den Großteil stellen dabei Männer dar, nur ein geringer Prozentsatz der Verfolgten war weiblich.
Das Projekt versteht sich als Grundlagenstudie zu Homosexualität im Nationalsozialismus im Gau Tirol-Vorarlberg. Das bedeutet, dass erstmals eine sämtliche vorhandene Aktenbestände umfassende Forschung durchgeführt wird, deren Ergebnisse in vielerlei Hinsicht Bedeutung haben: Opferzahlen werden rekonstruiert und geben Aufschluss über die Dimension der Verfolgung und die gesetzten Verfolgungsmaßnahmen. Eine quantitative Annäherung ermöglicht Einblick in die Spruchpraxis der Landgerichte, in die juristische Beurteilung kriminalisierter Sexualitäten und das (Nicht-)Ausschöpfen von rechtlichen Möglichkeiten durch Beschuldigte. Zugleich werden damit Verfolgungswege und -praktiken in den Blick genommen. Die Handlungsspielräume der Verfolgten sind ein ebenso wichtiger Punkt, denn es waren keine passiven Objekte, um die es geht, sondern Individuen, die Handlungs- und Argumentationsstrategien entwarfen und anwandten, ein durchaus unterschiedliches Selbstverständnis hatten und innerhalb der gegebenen Rahmenbedingungen agierten. Zu rekonstruieren, wer sie waren, ist ebenso Teil des Projekts: einerseits in einer statistischen Auswertung unterschiedlicher Merkmale, andererseits anhand ausführlicher Biografien. Durch Letztere ist es zudem möglich, die Vielfalt homosexuellen Lebens in Tirol und Vorarlberg vor und auch während dem Nationalsozialismus zu beleuchten. Durch diese Auseinandersetzung wird entsprechend ein Beitrag zum Wissen um homosexuelles (Alltags-)Leben in Tirol und Vorarlberg geleistet.
Projektleitung: SSc MMag. Dr. Ina Friedmann
Projektmitarbeitende: Mag. Dr. Alexandra Weiss, Moritz Moosmayer
Kontakt:
SSc MMag. Dr. Ina Friedmann
Institut für Zeitgeschichte
Universität Innsbruck
Innrain 52d, 6020 Innsbruck
Ina.Friedmann@uibk.ac.at