Der radikal gewaltfreie Mensch
Nun und dies ist die Wendung richteten sich die Menschen nicht gegenseitig, vielmehr wurde er, der »Richter«, gerichtet.(25) Dieser Rollentausch ist nun für das Erlösungsverständnis von Schwager konstitutiv. Die dem Selbstgericht preisgegebenen Menschen lassen sich nicht von den Folgen ihrer Taten treffen, sondern sie leiten ihre Lüge und Gewalt noch einmal nach außen: Sie rotten sich gegen Jesus zusammen. Jesus aber? Er läßt sich treffen, mehr noch: Er identifiziert sich mit ihnen. Was bedeutet dies? Was bedeutet die Identifikation mit den Gewalt gegen mich ausübenden Menschen? Hat sich Jesus mit jenen Taten seiner Gegner identifiziert, durch die sie ihn verurteilt und getötet haben? Dies würde bedeuten, daß er im Grunde der Logik des Teufelkreises von Lüge und Gewalt zugestimmt habe. Wie konnte er dann diesen überwinden? Gilt es hier nicht zu unterscheiden? Schwager differenziert und legt die Bedingungen der Überwindung frei.
Indem Jesus, der radikal Gewaltfreie und Sündenreine, zum Opfer der Gewalt gemacht wurde, legte er die bisher unentwirrbare Verflechtung zwischen dem Opfer der Gewalt dies wäre er selber und dem Täter der Gewalt dies sind seine Gegner bloß. Mündet aber diese Logik nicht in die heute so populäre Verwischung der Differenz zwischen Opfer und Täter? Bevor man über die Verwischung redet, muß man zuerst den Unterschied zwischen beiden feststellen. Die Beziehung zwischen Opfer und Täter, die auf der Ebene der Phänomenologie eindeutig zu sein scheint, ist in Wirklichkeit eine viel komplexere; auch sie bleibt der mimetischen Gesetzmäßigkeit unterworfen.(26) Wenn Jesus sich mit den ihn verurteilenden und tötenden Menschen identifizierte, dann nur, insofern diese selber Opfer des Teufelskreises von Lüge und Gewalt waren, nicht aber, insofern sie Täter derselben sind. Eine apokalyptisch-dualistische Klarheit der beiden Lager, die eindeutig zwischen den Tätern und den Opfern der Gewalt unterscheidet, und auf diese Weise die Wahrheit, daß Opfer spiegelbildlich die Täter nachahmen können, verdrängt, den Teufelskreis von Lüge und Gewalt perpetuiert, weil sie immer wieder neu den Mythos von den guten Opfern und schlechten Tätern zu schreiben erlaubt, wird im Kreuzesgeschehen unterlaufen: Nicht zwei verschiedene Menschengruppen stehen im Kreuzesgeschehen, diesem theologischen Höhepunkt von Lüge und Gewalt einander gegenüber. Als Täter, als verwerfende und tötende Menschen bilden wir das Lager der Gegner Christi und machen ihn zum Opfer unserer Gewalt, insofern wir aber in unserem verwerfenden Tun und unserer Gewalttat auch Opfer des Teufelskreises sind, sind wir diejenigen, mit denen sich Christus, nun selber das Opfer der Gewalt, identifiziert. Christus identifiziert sich mit den Opfern, nicht nur um die täuschende apokalyptisch-dualistische Klarheit zu unterlaufen, sondern auch, um aus dieser Position die spiegelbildliche Mechanik des Opfers, das seinen Täter nachahmt, durchzubrechen und zu verwandeln. Wie kann diese Logik der Verwandlung beschrieben werden?
Sein radikales Ausgeliefertsein an die Gewalt der Menschen, sein Opfersein, das unter den Bedingungen des Teufelskreises der Gewalt nur zur neuen Gewalt führt, wird von Jesus schon dadurch verwandelt, daß er, getragen vom Vertrauen auf den Gott der gewaltlosen und grenzenlosen Feindesliebe die Gewalt nicht weitergibt, sondern sie durchleidet »er wurde geschmäht; schmähte aber nicht, er litt, drohte aber nicht ...« (1 Petr 2,23). Schon auf diese Weise unterbricht er das tödliche Geflecht des Gewaltmechanismus. Er unterbricht diesen aber nicht nur, er transformiert ihn radikal. Diese Transformation besteht nun darin, daß er »das radikale Ausgeliefertsein gegenüber seinen Feinden, wie er es im Getötetwerden erfuhr, zum radikalen Ausgeliefertsein gegenüber seinem Vater [der im ganzen Kreuzesgeschehen die reine Liebe ist] gemacht« hat.(27) Aus der Kraft dieser Hingabe konnte er, das verurteilte und sich mit den anderen solidarisiernde Opfer, auf eine radikal neue Art und Weise als Täter in die menschliche Gewaltgeschichte eintreten; eben nicht als einer, der nur noch verstummt, psychisch aber zum Täter wird, weil er in seinem Herzen auf Rache und Vergeltung hofft wie der dualistische Apokalyptiker, auch nicht als Täter, der auf Gewalt mit Gegengewalt antwortet. Er tritt in die menschliche Geschichte als Täter, aber als einer, der das Wort der Vergebung spricht.(28) Dort, wo er nur noch geschmäht, verurteilt, getötet, also nur »gehandelt« wurde, dort, wo er sein Opfersein nur noch erleiden konnte, dort handelte er als Opfer, und er handelte neu und anders als die Opfer es normalerweise tun. Er gab sich an seinen Vater hin, entzog sich seinen ihn verurteilenden Tätern, unterbrach den Teufelskreis von Lüge und Gewalt und transformierte ihn: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!