PANEL 18
Kinder zwischen Heilpädagogik und Fürsorge: Österreichs Kinderbeobachtungsstationen (1911/1919 – ca. 1990)

Chair: Ina Friedmann (Wien/Innsbruck)

Freitag, 17. April 2020, 09:00–10:30, HS 3

Im Zuge der Heimgeschichtsforschungen seit 2010 gerieten auch Österreichs Kinderbeobachtungsstationen in den Fokus der sozial- und zeithistorischen sowie der sozialwissenschaftlichen Forschung. Analog den damaligen öffentlichen und privaten Kinderheimen waren Minderjährige in Kinderbeobachtungsstationen massiven körperlichen und psychischen Übergriffen und Gewaltformen ausgesetzt. Außerdem gaben diese medikal-heilpädagogisch konzipierten und als geschlossene Einrichtungen geführten Beobachtungsstationen richtungsweisende Expertenempfehlungen ab, die als Grundlage für anzuordnende oder fortzusetzende fürsorgerische Maßnahmen das weitere Leben der Kinder entscheidend beeinflussten. Die Beiträge dieses Panels rekonstruieren die Entstehungsgeschichten und Konzepte dieses machtvollen heilpädagogischen Panoramas, skizzieren die Berufsbiographien ihrer ExponentInnen und zeigen ihr Zusammenwirken mit der Kinder- und Jugendwohlfahrt während des 20. Jahrhunderts auf.

Das Scheitern der medikalisierten Kinder- und Jugendfürsorge in Wien im 20. Jahrhundert

Reinhard J. Sieder (Wien)

Die Stadtregierung Wiens unternahm ab 1919 den Auf- und Ausbau einer modernen Kinder- und Jugendfürsorge. Humanwissenschaften waren stark involviert, so eine medizinische Heilpädagogik und eine Kinder- und Jugendpsychologie. Ihre Funktion war es, Kinder differenzialdiagnostisch zu befunden und die „nicht erziehungsfähigen“ auszusondern. Wie der Vortrag zeigen wird, gelang dies nicht. Auch die Frage, ob „erziehungsfähige“ Kinder in geschlossenen Anstalten und mit struktureller Gewalt zu lebenstüchtigen Menschen zu erziehen wären, konnte weder medizinwissenschaftlich noch psychologisch entschieden werden. Der Konstruktionsfehler, das System zu medikalisieren, war systemimmanent nicht korrigierbar. In Wien dauerte es bis um das Jahr 2000, es durch ein pädagogisch-psychotherapeutisches zu ersetzen und die Gewalt der Fürsorgeerziehung (seither Sozialpädagogik) erheblich zu reduzieren.

Österreichs heilpädagogisch-psychiatrische Landschaft der Nachkriegszeit: einflussreich und gewaltvoll

Michaela Ralser (Innsbruck)

Tirol ist mit der Gründung einer eigenen Kinderbeobachtungsstation in den 1950er-Jahren nicht allein. In unmittelbarer zeitlicher Folge zur Errichtung der Innsbrucker Kinderbeobachtungsstation entstanden vergleichbare Einrichtungen in bald jedem österreichischen Bundesland. Parallel zur enormen Intensivierung der Fürsorgeerziehung in den beiden Nachkriegsjahrzehnten bildete sich ein österreichweites Netz von heilpädagogischen Ambulatorien, Beratungsstellen, stationären Einrichtungen und Kinderbeobachtungen. Die dichte heilpädagogische Landschaft Österreichs verdankte sich einer gemeinsamen Anstrengung von Gesundheits-, Jugendfürsorge- und Gesellschaftspolitik: Sie war die mediko-pädagogische Antwort auf die sich in den Nachkriegsjahren herausbildende, besondere Aufmerksamkeit für den angeblichen „Erziehungsnotstand der Jugend“ und die vermeintlich „mangelnde Erziehungsfähigkeit“ der Nachkriegsfamilie. Der Beitrag rekonstruiert die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte dieser Institutionen und beleuchtet die Berufsbiografien ihrer einflussreichsten ProtagonistInnen.

Gewalt in Institutionen der klinischen Heilpädagogik und der Jugendwohlfahrt

Ulrike Loch (Bozen)

In Kärnten wurden Kinder und Jugendliche heilpädagogisch nach 1945 sowohl im Landeskrankenhaus Klagenfurt als auch in Institutionen der Jugendwohlfahrt betreut. Die Arbeit der Kärntner Opferschutzkommission (2013–2015) zeigt ein erschreckendes Ausmaß an Gewalt an Kindern und Jugendlichen. Hierzu zählen u. a. physische, strukturelle, sexuelle und epistemische Gewalt. In dem Vortrag werde ich aufzeigen, inwiefern heilpädagogische Theoriebildung und Praxis über ihre Gutachten, Berichte etc. zur Stigmatisierung von Kindern und Jugendlichen beitrugen, die (sexuelle) Gewalt innerhalb der Heilpädagogischen Abteilung des Landeskrankenhauses Klagenfurt (bzw. Kinderbeobachtungsstation) erlitten. Da Jugendwohlfahrt und klinische Heilpädagogik sich wechselseitig ihre Perspektiven auf fremduntergebrachte Kinder und Jugendliche bestätigten, entstand für die Betroffenen eine Gewaltspirale, der sie kaum entkommen konnten.

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