PANEL 28
„… wegen der Gefahr einer Weiterverbreitung des Leidens in schwerer Form“. Zwangssterilisierungen in Wien und Tirol zwischen 1940 und 1945

Chair: Stefan Lechner (Bruneck)

Freitag, 17. April 2020, 14:10–15:40, U 1

Das nationalsozialistische Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN) wurde mit 1. Jänner 1940 auch in der „Ostmark“ eingeführt. Darin war geregelt, welche „Erbkrankheiten“ fortan zur zwangsweisen, durch Erbgesundheitsgerichte (EGG) angeordneten Sterilisierung führen sollten. Ein engmaschiges Netz gesundheitspolitischer Überwachung und Erfassung wurde etabliert, sodass der Staat zur Durchführung dieser Zwangsmaßnahmen auf intime Daten zurückgreifen konnte und überdies auch wissenschaftliche Unterstützung erhielt.

Im Panel werden unterschiedliche, bisher nicht ausreichend erforschte regionale und institutionelle Aspekte thematisiert. Zum einen liegt der Fokus auf der Rolle von Ärzten bei der Umsetzung des GzVeN am EGG Wien und an der Universität Innsbruck. Zum anderen wird mit den Patient*innen der Heil- und Pflegeanstalt Hall/Tirol eine wenig beachtete Opfergruppe in den Blick genommen.

„… von der Warte der Volksgesundheit aus betrachtet … unerlässlich“. Organisationssoziologische Analyse von Ermessensspielräumen ärztlicher Beisitzer bei der Anordnung von Zwangssterilisationen am Erbgesundheitsgericht Wien 1940–1945

Daniel Gaubinger (Wien)

Ärztlichen Beisitzern kam innerhalb des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses eine entscheidende Rolle bei der Anordnung von Zwangssterilisationen von als „erbkrank“ kategorisierten Personen an Erbgesundheitsgerichten (EGG) zu. Mehr noch, ihnen wurden hierfür erhebliche Ermessensspielräume eingeräumt. Wie diese gesetzlich verankert waren und dass zur Diagnostizierung von „Erbkrankheiten“ neben medizinischen Kriterien auch soziale herangezogen wurden, ist aus historischer Perspektive bereits aufgezeigt worden. Daran anschließend werden aus einer organisationssoziologischen Perspektive zum einen die Rolle der Ärzte („street-level bureaucrats“) am EGG Wien, zum anderen deren Ermessensspielräume („Indifferenzzone“) analysiert: Wie wurden sie genützt, hat sich diese Praxis zwischen 1940 und 1945 verändert und welchen Einfluss hatten soziale Kriterien bei der Anordnung von Zwangssterilisationen?

„Vom Standpunkt der Erbpflege und der Bevölkerungspolitik ist in diesem Fall eine Sterilisierung dringend geboten“. Die Innsbrucker Universitätskliniken und die Erbgesundheitsgerichte im Gau Tirol-Vorarlberg

Ina Friedmann (Wien/Innsbruck)

Universitätskliniken für Gynäkologie sowie für Chirurgie waren österreichweit neben anderen Krankenhäusern für die Durchführung von Zwangssterilisierungen nach dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses zuständig. Darüber hinaus waren auch andere Universitätskliniken und -institute durch Meldungen ihrer Patient*innen an und Gutachtenerstellungen für Gesundheitsämter und Erbgesundheitsgerichte in die Umsetzung der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik involviert. Dieses Beteiligungsspektrum der Universität Innsbruck wird anhand quantitativer Daten umfassend dargestellt; ein weiterer Fokus wird auf die Inhalte von Gutachten sowie auf Verteidigungs-, Argumentations- und Widerlegungsversuche und Handlungsspielräume der Betroffenen gelegt. Besondere Berücksichtigung findet abschließend die Durchführung sogenannter freiwilliger Entmannungen an der Universitätsklinik für Chirurgie, für die allerdings kein Erbgesundheitsgerichtsbeschluss notwendig war.

„…dass ihm durch diesen Eingriff der ganze Wert des Lebens zerstört werde…“. Die Opfer der Zwangssterilisierungen in der Heil- und Pflegeanstalt Hall in Tirol

Oliver Seifert (Hall in Tirol)

Von der Durchführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses ab dem 1. Jänner 1940 waren insbesondere auch die Patient*innen der großen landespsychiatrischen Anstalten betroffen. Die Anstaltsdirektoren waren nicht nur zu einer Anzeige an die Gesundheitsämter verpflichtet, sie waren auch berechtigt, Anträge selbst einzubringen. Diagnostizierten die Ärzte eine im Gesetz definierte „Erbkrankheit“, konnte die Entlassung von der vorherigen Durchführung einer Unfruchtbarmachung abhängig gemacht werden. Am Beispiel der damaligen Heil- und Pflegeanstalt Hall in Tirol wird auf Basis der Patientenakten dargestellt, in welchem Ausmaß die Zwangssterilisierungen die Patient*innen betrafen und wie sich die Opfergruppe kollektivbiofragfisch, etwa in Hinsicht auf Geschlechterverteilung, Altersstruktur oder Verteilung der Diagnosegruppen, zusammensetzte. Ein abschließender Fokus wird auf die Reaktionen der Betroffenen und die Haltung der Anstaltsärzte gelegt.

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