PANEL 30
Essen, Sinn und Subjekt: Ernährung und Konsum in der Wohlstandsgesellschaft
Norman Aselmeyer (Florenz)
Freitag, 17. April 2020, 16:00–17:30, HS 3
Jenseits aller ereignisgeschichtlichen Daten hat eine langfristige Strukturentwicklung das Verhältnis moderner Menschen zum Essen neu konfiguriert. Was noch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts Privileg und Mangel war, ist in Bezug auf unser Essverhalten heute durch Freiheit und Emanzipationsbestrebungen gekennzeichnet. Essen ist in unseren Breitengraden wie kaum eine andere Tätigkeit zur Chiffre von Lebensstilen geworden. Erfolgreich wie kaum ein anderes Gut wurden Nahrungsmittel im Globalen Norden in den letzten 150 Jahren reichlich verfügbar gemacht. Hunger und Mangel verschwanden als Alltagserfahrung mit einem letzten Auftreten im Kontext der Weltkriege. Eine vormals ungekannte Verfügbarkeit (Hartmut Rosa) an Nahrungsmitteln veränderte das Verhältnis zum Essen grundlegend: Ernährung entwickelte sich von der täglichen Selbstverständlichkeit, eingebettet in tradierte, kollektive Gebräuche und diktiert vom momentan Verfügbaren, zu einer rationalen, individuellen Entscheidung. Heutige Ernährungstrends sind als Reaktionen auf das durch die Verfügbarmachung entstandene Sinnvakuum zu verstehen. Gerade im urbanen Raum entscheiden nicht mehr Angebot oder Tradition über unsere Ernährungsweise, sondern subjektive Rationalisierungen, geprägt durch Statusinteressen, Zeitgeist oder Lebensstil. Essen hat sich von einer primär kollektiven Angelegenheit zu einer primär individuellen Handlung gewandelt. Obwohl Essen zur Paradepraxis einer Gesellschaft der Singularitäten (Andreas Reckwitz) wurde und zunehmend als individuelle Körperpraxis verhandelt wurde, gibt die Geschichte der Ernährung weiterhin über die Organisation der Gesellschaft Aufschluss, weil Ernährung Projektionsfläche von sozialen Konflikten, kollektiven Zukunftsängsten und globalen Ungleichheiten geworden ist.
Kalorienzählen. Ernährung, Körper und Konsum im frühen 20. Jahrhundert
Nina Mackert (Leipzig)
Die Fabrikation der Kalorie als Einheit für den Energiegehalt von Nahrung hat wie kaum ein anderes Phänomen zum Wandel von Essen und Ernährung in der Moderne beigetragen. Ihre Einführung im späten 19. Jahrhundert machte Essen auf eine neue Art quantifizierbar und ermöglichte eine Vergleichbarkeit von vormals unvergleichbaren Nahrungsmitteln und Ernährungsweisen. Mit ihrer Hilfe suggerierten Diätratgeber ab dem frühen 20. Jahrhundert, Nahrungsaufnahme und Körpergewicht ließen sich präzise steuern. Der Vortrag beleuchtet eine zentrale Ambivalenz der Rationalisierung von Ernährung in der Moderne. Zum einen schufen die neuen Möglichkeiten der Quantifizierung selbstverantwortliche moderne Subjekte, die als ihre eigenen ExpertInnen handelten. Kalorienzählen versprach die Freiheit, Nahrungsmittel selbst auszuwählen. Zum anderen war die Verwissenschaftlichung von Ernährung wichtiger Baustein einer biopolitischen Gouvernementalität, die Subjekte und ihre Körper neuen normativen Anforderungen unterwarf. Indem sie suggerierte, dass Körpergewicht steuerbar sei, verlagerte die Kalorie die Verantwortung dafür auf das Individuum, und Körperfett konnte zum Zeichen des Scheiterns an den Anforderungen einer modernen Konsumgesellschaft werden.
Die Suche nach der „natürlichen Ernährung“. Fleischkonsum und Ethnologie seit circa 1900
Laura-Elena Keck (Leipzig)
Mit dem Wohlstand wuchs im Globalen Norden gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch die Angst vor sogenannten Zivilisationskrankheiten. Schon früh wurde als eine mögliche Ursache auf eine „unnatürliche Ernährung“ verwiesen. Fleisch nahm dabei eine Schlüsselrolle ein: Es galt einerseits als Beweis und Garant für eine gesunde, leistungsfähige Bevölkerung, andererseits mehrten sich die Stimmen, die Fleisch als „unnatürliches“ und somit schädliches Nahrungsmittel einstuften. Antworten auf die „Fleischfrage“ wurden nicht nur in der medizinischen und physiologischen Forschung gesucht, sondern auch in der Ethnologie. Der Blick auf sogenannte „Naturvölker“ sollte zeigen, wie eine „natürliche“ Ernährung auszusehen hatte. Anhand der Debatte im deutschsprachigen Raum, die sich in unterschiedlichen Ausprägungen durch das ganze 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart zieht, soll exemplarisch gezeigt werden, wie durch den Vergleich mit und die Abgrenzung von einem konstruierten „Außen“ eine Selbstverständigung europäischer Gesellschaften über Körperpraktiken, Subjektformen und die Rolle von Ernährung und Fleischkonsum in der (entstehenden) Wohlstandsgesellschaft stattfand.