PANEL 35
Wer erzählt Geschichte? Partizipative und narrativ-biografische Zugänge zur Public History

Chair (inkl. Kurzkommentar): Andrea Strutz (Graz)

Samstag, 18. April 2020, 09:00–10:30, U 3

Während zu Zeiten der Jahrestage der Entwicklung unserer demokratischen Gesellschaft anhand von Ereignissen, Institutionen und Akteur*innen gedacht wird, bietet die Zeit dazwischen Gelegenheit, den Geschichtsdiskurs generell demokratischer zu gestalten. Erzählende partizipative Methoden gehören dabei zum niederschwelligen Repertoire der Public History. Sie stellen in Frage, wer zur Geschichte öffentlich Stellung nehmen darf und werden dabei selbst immer wieder in Frage gestellt. Ein Erzählkreis mit alten Menschen oder MigrantInnen – ist das denn noch Geschichte? Oder ist das Sozialarbeit, und somit etwas völlig anderes? Dieses Panel bringt Beispiele für die Möglichkeiten, die niederschwellige, biografisch-erzählende Ansätze zur Public History bieten, aber auch für die Grenzen dieser Praxis.

Lokalgeschichte in der Buckligen Welt: Wie eine Region ihr kollektives Gedächtnis erweitert hat

Gert Dressel (Wien)

Lokalgeschichte, die von ehrenamtlich engagierten Laienhistoriker*innen betrieben wird, vergisst zuweilen die unangenehmen, „dunklen“ Seiten der Geschichte der eigenen Region, so auch in der Buckligen Welt in Niederösterreich. Freilich hat in den vergangenen 15 Jahren in der Zusammenarbeit von akademischen Historiker*innen mit regionalen Lokalhistoriker*innen, Bürgermeister*innen, Lehrer*innen und anderen Instanzen des Regionsgedächtnisses eine Erweiterung desselben stattgefunden. Mit zahlreichen Oral History-Interviews und Erzählcafés wurden Gruppen und Menschen, die im NS-Staat verfolgt, vertrieben und ermordet worden waren, z. B. Jüdinnen und Juden sowie Roma und Sinti, ein Gesicht und eine Stimme zurückgegeben. Mit zahlreichen Büchern, Ausstellungen und öffentlichen Veranstaltungen wurden sie in die öffentliche Regionsgeschichte integriert. Dieser Beitrag präsentiert ein Beispiel für einen ungewöhnlich langfristigen Public-History-Prozess mit seinen Chancen und Grenzen.

Transkulturelle Biografiearbeit und biographische Sensibilität in der Sozialen Arbeit

Annemarie Schweighofer-Brauer (Innsbruck/Moers)

Die Oral History ist eine der Wurzeln der Biografiearbeit, zusammen mit anderen akademischen Fachrichtungen (Kulturanthropologie, Soziologie, Pädagogik) und verschiedenen Praxen (Therapie, Story Telling). Konzepte hierzu wurden hauptsächlich in der Betreuung älterer und auch dementer Menschen, adoptierter und Pflegekinder und für die Erwachsenenbildung entwickelt. Biografiearbeit arbeitet ressourcen- und lösungsorientiert und kognitiv umstrukturierend. Sie generiert lebensgeschichtliche Erzählungen in Gruppen; dadurch produziert sie auch sozial geteilte Erzählungen. Die Transkulturelle Biografiearbeit, in einem Grundtvig Projekt entwickelt, dient als Methode zur Erweiterung, Verfeinerung und Infragestellung mentaler Konzepte, zur Korrektur von Stereotypen und zur Vervielfältigung des Repertoires des Denkbaren. Dieser Beitrag reflektiert die Verbindung von Biografieforschung, Transkultureller Biografiearbeit und der Sozialen Arbeit mit geflüchteten Menschen.

Das Gespräch findet (nicht) statt. Über den Versuch, einen Austausch über Geschichte zwischen Langansässigen und Zugewanderten in Niederösterreich zu stiften

Rita Garstenauer (St. Pölten)

Zeitgeschichte gehört zum Rahmencurriculum für Deutschkurse mit Werte- und Orientierungswissen auf B1-Niveau. Viele Migrant*innen verfügen daher über ein begrenztes und reproduzierbares Basiswissen. Eine Auseinandersetzung mit Geschichte in der Rolle als Subjekt des Diskurses, insbesondere für Arbeitsmigrant*innen und Geflüchtete, die nicht zum Adressat*innenkreis etablierter Public History-Praxis gehören, ist selten. Das 2018 durchgeführte Projekt GEBIKOV näherte sich dem Thema dreifach: 1.) wurden in einer Serie von Interviews Anlässe der Kommunikation über Geschichte im Rahmen der Flüchtlingsbetreuung aufgespürt; 2.) wurde in historisch-biografischen Erzähl-Workshops das gemeinsame Gespräch über Geschichte erprobt und 3.) wurden Möglichkeiten zur Verankerung solcher Erzählformate in der Public History ausgelotet. Als Ergebnis der Untersuchung fanden wir Interesse und Nachfrage, aber auch und vor allem pragmatische Schranken, das Erzählen zum Teil der lokalen Geschichtskultur zu machen.

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