PANEL 38
„Zeitalter der Extreme“ oder „Große Beschleunigung“? Umwelt- und Zeitgeschichte in Österreich

Irene Pallua (Innsbruck)

Samstag, 18. April 2020, 10:50–12:20, HS 3

Zeit- und Umweltgeschichte stehen in einem bemerkenswerten Spannungsverhältnis zueinander, so die Grundthese in diesem Panel. Fokussiert die österreichische Zeitgeschichte vor allem auf die Analyse politischer Umbrüche und folgt dementsprechend einer Periodisierung entlang der großen, gesellschaftspolitischen Ereignisse (1914, 1918, 1938, 1945 oder 1968), so liegt das Erkenntnisinteresse der Umweltgeschichte auf den langfristigen Wechselwirkungen zwischen Gesellschaften und ihrer Umwelt, die wiederum eine sehr spezifische Zeitlichkeit zeigen. Ausgehend von Überlegungen zur „Großen Beschleunigung“, als Ausdruck einer grundlegenden Neuordnung des Verhältnisses zwischen Gesellschaft und Umwelt, bietet dieses Panel eine an biophysischen Verhältnissen orientierte Lesart des „Zeitalters der Extreme“ in Österreich entlang der Themen NS-Herrschaft, Marshallplan und der 1970er-Jahre an.

Ein „1938er Syndrom“? Der Nationalsozialismus aus sozialökologischer Perspektive

Ernst Langthaler (Linz)

Mitte des 20. Jahrhunderts änderten sich in den Industriestaaten die Beziehungen zwischen Gesellschaft und Umwelt grundlegend („1950er-Syndrom“): Die produzierten und konsumierten Energie- und Materialmengen, getrieben durch produktivistische und konsumistische Institutionen, erfuhren enorme Wachstumsschübe – so auch in Österreich. Die „Große Beschleunigung“ österreichischer Spielart wird teils endogen (z. B. Sozialpartnerschaft), teils exogen (z. B. Marshallplan) erklärt, meist aber aus der Nachkriegszeit heraus. Die Zeit des Nationalsozialismus spielt in diesen Argumentationen keine oder eine gegenläufige Rolle: als Zwischenspiel oder Rückschlag auf dem Weg in die Hochmoderne. Demgegenüber argumentiert der Vortrag, dass der Nationalsozialismus eine tragende Rolle im sozialökologischen Übergang spielte. Österreichs Wirtschaft erfuhr unter der NS-Herrschaft Impulse in Richtung der energie- und materialintensiven Produktions- und Konsumweise im Nachkriegsboom.

Der Marshall Plan. Ein Wendepunkt der österreichischen Umweltgeschichte?

Robert Groß (Innsbruck/Wien)

Seit Mitte des 20. Jahrhunderts beschleunigten sich sozioökonomische Wachstumsraten, global aber auch in Österreich. Die Kehrseite sind Bodenversiegelung, Biodiversitätsverlust, stetig wachsender Ausstoß klimaschädlicher Emissionen, steigende Temperaturen und schmelzende Gletscher. UmweltwissenschafterInnen sprechen in diesem Zusammenhang von der „Großen Beschleunigung“ seit den 1950er-Jahren; einem sich selbst verstärkenden Vorgang, getrieben von Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum sowie steigendem Energieverbrauch. Der Beitrag argumentiert, dass eine sozialökologisch informierte Lesart des Marshallplans zu einem besseren Verständnis der „Großen Beschleunigung“ beiträgt. Eine solche Analyse darf sich aber weder in der Analyse politischer Ereignisse noch der quantitativen Langzeitperspektive der Sozialen Ökologie erschöpfen, sondern kann ihr Potential erst in der Kombination beider Zugänge entfalten, wie anhand einiger Projekte des Marshallplans diskutiert wird.

Die 1970er-Jahre in Österreich – politisch-kulturelle oder sozial-metabolische Wende?

Martin Schmid (Wien)

„Grenzen des Wachstums“ und Ölpreisschock, Zwentendorf und das erste Bundesministerium für Umweltschutz – es gibt eine ganze Reihe offensichtlicher Gründe, die 1970er-Jahre, auch in Österreich, als eine Zeit des Umbruchs in den gesellschaftlichen Naturverhältnissen zu bewerten. „Umwelt“ wurde zum Politikum, das Paradigma modernen Wirtschaftswachstums geriet in Diskussion, eine neue Ökologiebewegung trat in ihre entscheidende Formierungsphase. Vor allem an der Frage einer zukünftigen Energieversorgung und -nutzung entzündeten sich heftige gesellschaftliche Debatten. Aber wie berechtigt ist es, dieses Jahrzehnt im Rückblick auch als Wende in den biophysischen Verhältnissen zwischen Gesellschaft und Natur zu beschreiben? War etwa die damalige Entkopplung des Wirtschaftswachstums vom Material- und Energieverbrauch nur Folge einer kurzfristigen Irritation durch die „externe Störung“ des Ölpreisschocks? Oder hat sich der Industrialisierungspfad tiefgreifender und langfristig verändert? Mit anderen Worten: Waren die 1970er-Jahre, wenn überhaupt, nur ein „Knick“, ein „Dämpfer“ in einer bis heute ungebremst weiterlaufenden „Großen Beschleunigung“?

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