PANEL 44
Wer erinnert wie? Geschichte, Erinnerung und Vermittlung im Spannungsverhältnis von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit

Chair: Claudia Kraft (Wien)

Samstag, 18. April 2020, 14:10–15:40, U 1

Erinnern ist wichtig und gut, Vergessen ist schlecht – nach langen Jahren der Verdrängung von NS-Geschichte scheint sich der Imperativ des Erinnerns als gesellschaftlicher Konsens durchgesetzt zu haben. Aber welche AkteurInnen bestimmen das Feld des Erinnerns und welche Ziele verfolgen sie? Zeitgeschichtliche Medienformate boomen. Der wissenschaftliche Erkenntnisgrad ist dabei nicht immer prioritär. Denk- und Mahnmale werden gefordert und gleichzeitig verhindert, wobei sich in der Betrachtung konkreter Initiativen frappierend ähnliche Prozesse und Konflikte ausmachen lassen. Welche Rolle nimmt die Wissenschaft dabei ein, was können/sollen wir als ZeithistorikerInnen beisteuern? Anhand konkreter Beispiele diskutiert das Panel diese Fragen, versucht übergreifende Strukturen herauszuarbeiten und damit einen Beitrag zum Umgang mit „Public History“ zu leisten.

Gedächtniskulturen – Histotainment – Wissenschaft. Die Debatte um „Geheimnisse“ der Stollenanlage „Bergkristall“ in St. Georgen an der Gusen

Bertrand Perz (Wien)

Seit mehreren Jahren tauchen in den Medien immer wieder wissenschaftlich unhaltbare Sensationsmeldungen über angeblich bisher nicht gelüftete Geheimnisse der von KZ-Häftlingen errichteten unterirdischen Flugzeugfabrik „Bergkristall“ auf, u. a. wird spekuliert, hier hätte die NS-Atomforschung stattgefunden, auch von einem unbekannten unterirdischen KZ mit tausenden Toten ist die Rede. Nicht zuletzt werden solche Spekulationen durch Histotainment-Formate wie ZDF History befördert, die anwohnende Bevölkerung ist verunsichert, Politik und Behörden sind gezwungen, zu reagieren. Wie soll die Geschichtswissenschaft damit umgehen? In der Frage um die Deutungshoheit von Vergangenheit hat sie nicht nur kein Monopol, wissenschaftliche Expertenmeinungen stehen heute im Generalverdacht, nicht offen deklarierte Interessen zu verfolgen. In diesem Beitrag wird die Kontroverse dargestellt, die verschiedenen Positionen der Akteur_innen beleuchtet und Überlegungen zum Umgang mit solchen medieninduzierten Phänomenen angestellt.

(Un-)Geliebte Aphrodite. Konflikte um die Hegemonie des Erinnerns in der ehemaligen „Führerstadt“ Linz

Birgit Kirchmayr (Linz)

2008 verhüllte ein Studierender der Kunstuniversität Linz im Rahmen des Projekts „Hohlräume der Geschichte“ eine in einem Linzer Park befindliche Aphrodite-Statue. Der in der Öffentlichkeit bis dahin weitgehend unbekannte Hintergrund war, dass diese Statue 1942 der Stadt Linz als „Geschenk des Führers“ überreicht worden war. Ausgehend davon entbrannte in Linz eine Debatte zum Umgang mit der NS-Geschichte in einer bis dahin nicht bekannten Dimension. Verstärkt wurde diese durch das Kulturhauptstadtjahr „Linz09“, das zahlreiche erinnerungskulturelle Projekte im Programm hatte. Bald wurde seitens lokaler Medien, aber auch von manchen PolitikerInnen und HistorikerInnen und Teilen der Öffentlichkeit der Vorwurf erhoben, es gäbe ein „zuviel“ an Geschichte. Der Konflikt lässt sich auch als einer um die Deutungshoheit von Geschichte lesen, in der sich unterschiedliche Akteursgruppen gegenüberstehen. Zehn Jahre nach „Linz09“ zeigen sich die Grundlinien im Wesentlichen unverändert, wie ein Blick auf aktuelle Initiativen und Konflikte zeigt.

Zwischenräume der Gedenklandschaft. Zu Formen dezentraler Erinnerung in Niederösterreich

Johanna Zechner (Melk), Remigio Gazzari (Wien)

Ausgehend vom Museum ERLAUF ERINNERT, das in seiner Dauerausstellung die Verknüpfung von Zeitgeschichte, Erinnerungskultur und zeitgenössischer Kunst am Beispiel einer ländlichen Gemeinde zeigt, vernetzt das Vermittlungs- und Onlineprojekt „Zwischenräume“ seit 2017 lokale Gedenkinitiativen mit Institutionen wie dem Museum, dem Kooperationspartner Zeithistorisches Zentrum Melk sowie mit der universitären Lehre und Forschung. Ausgehend von den historischen Ereignissen von Widerstand und Verfolgung in einer Region, in der eine Vielzahl von sogenannten Endphaseverbrechen stattfand, untersucht das Projekt die Entwicklung verschiedener Formen öffentlicher Erinnerung. Auf der Suche nach Kunstprojekten, privaten Gendenkinitiativen, lokalen Forschungsprojekten oder Gedenk- und Zusatztafeln an Tatorten, auf Friedhöfen oder bei Kriegerdenkmälern und deren nicht selten von Konflikten begleiteten Entstehungsgeschichten finden sich ephemere wie manifeste Formen einer diversen, sich über Jahrzehnte wandelnden Erinnerungskultur. Das Projekt wird dabei selbst zum Akteur, etwa dann, wenn in Folge von Austausch und Vernetzung neue Initiativen in Gang gesetzt werden.

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