PANEL 47
Migrationen von Jüdinnen und Juden in Europa: Perspektiven und Konzeptionen
Chair: Gerald Lamprecht (Graz)
Samstag, 18. April 2020, 16:00–17:30, U 3
Migrationserfahrungen von Jüdinnen und Juden nach 1918 waren vielfältig: Migrationen bedeuten immer, dass sich Menschen mit ihrem Wissen, kulturellen und sozialen Kapital, Habitus und Erlebten zwischen Kontexten bewegen. Dabei schließen sie neue Kontakte, machen Erfahrungen, adaptieren Wissen und setzen sich so mit ihrer Migration auseinander. In den letzten Jahren entstanden verschiedene Analyseinstrumentarien und Forschungsansätze, um sich den komplexen Prozessen des „produktiven Dazwischens der Migration“ (V. Flusser) zu nähern: Wissenstransfer, kulturelle Übersetzung, Raum und Gender sind nur einige davon.
Das Panel gibt einen Überblick über die Vielfalt an Forschungen zu jüdischen Migrationen im 20. Jahrhundert: Die Beiträge analysieren queere Migrationserfahrungen seit den 1920er-Jahren, methodische Überlegungen zur Analyse von Wissenstransfer im Kontext der Zwangsemigration im Zweiten Weltkrieg sowie Migrationsräume von „unsichtbaren“ jüdischen Migrant*innen in Europa nach 1945.
(In)Visible Migrants? Jewish Migrations from North Africa to Europe (1940s–1970s): the Case of Italy
Piera Rossetto (Graz)
In the wake of decolonisation movements, an impressive number of Europeans and non-Europeans were “repatriated” to Europe from former colonies. Despite the scale of this phenomenon, the impact that these return migrations had on migrants themselves and on host nations, remained for a long time an “invisible” subject in the academia (Smith 2003). In those decades (1940s–1970s), the Middle East and North Africa region was almost emptied of its Jewish populations, who resettled mainly in the new established (1948) State of Israel but also in Europe, USA and Canada.
The paper considers the case of Jews who decided to settle in Italy: it explores in which sense this complex migratory phenomenon can be considered as part of European in/visible migrations and how this case study can contribute to the construction of “visibility” as category in social research and theory (Brighenti 2010).
Biographien jüdischer Migrant*innen als Prismen zur Deutung von Prozessen des Wissenstransfers
Philipp Strobl (Hildesheim)
Der Vortrag beschäftigt sich mit dem jungen Forschungsfeld der Wissensgeschichte und beschreibt die Vorteile, welche die Verbindung wissensgeschichtlicher Ansätze mit dem Forschungsfeld der Migrationsgeschichte bietet. Die Verbindung der beiden Disziplinen ist dabei besonders interessant, da sich daraus neue Methoden und Ansätze entwickeln lassen, die sich auch in anderen historischen Disziplinen einsetzen lassen.
In meinem Vortrag möchte ich auf Ansätze und Ideen des jungen Feldes der Wissensgeschichte eingehen. Dabei werde ich, ausgehend von meiner eigenen biographischen, wissens- und migrationsgeschichtlichen Forschungen zur jüdischen Zwangsmigration aufzeigen, wie die Verbindung beider Ansätze zu neuen Forschungsfragen und -ergebnissen führen kann, die unser Wissen über die komplexen Abläufe von transnationalen Migrationen erweitern.
Gender-Bending im Kontext jüdischer Migrationserfahrungen
Susanne Korbel (Graz)
Die Erfahrung der Migration und Emigration reflektierte verschiedenartig auf das Aushandeln und Artikulieren von Gender. Neue mediale Formate wie die populäre Varietékultur, Knipserfotografie im Alltag und Film dienten den Protagonist*innen als Ausdrucksraum und dokumentieren eindrucksvoll die Vielfalt kultureller Adaptionen vor der Linse von Geschlecht und Sexualität.
In meinem Beitrag untersuche ich die Repräsentation von Geschlechteridentifikationen in bislang wenig beachteten Quellen zu jüdischer Migration seit den 1920er-Jahren. Durch die Analyse von performativen und visuellen Zeugnissen frage ich, wie Jüdinnen und Juden im wechselseitigen Austausch mit Nichtjüdinnen und Nichtjuden Geschlecht durch die Erfahrung der Migration und Emigration hindurch aushandelten und adaptierten. Ich argumentiere, dass sich hierbei verschiedene Formen von Gender-Bending entwickelten und die „Ähnlichkeit der Differenz“ ein entscheidendes Element war.