PANEL 6
Gedächtnistransfers – Geschichtsbilder in Ost- und Südosteuropa*
Chair: Rainer Gries (Wien)
Donnerstag, 16. April 2020, 10:50–12:20, HS 3
Dieses Panel soll beleuchten, wie Jugendliche und junge Erwachsene aus Südosteuropa mit der Geschichtspolitik und dem kollektiven Gedächtnis ihrer Gesellschaften interagieren. Geschichte wird auf ganz verschiedene Weise vermittelt, Erinnerung transgenerationell weitergegeben. In zwei Fallstudien wollen wir uns mit internationalen Jugendaustauschprogrammen und der Förderung von Kulturerbe-Tourismus in Südosteuropa auseinandersetzen. Während die untersuchten Jugendprojekte vor allem die rezente Geschichte der jugoslawischen Sukzessionskriege der 1990er-Jahre vermitteln, wird über touristische Stätten eine lange zurückliegende, große Vergangenheit konstruiert. Die Methode der Oral History ermöglicht uns einen Einblick in die Narrative, die das Geschichtsbild junger Menschen in Südosteuropa prägen und wie diese Bilder der Vergangenheit in sehr unterschiedlichen Kontexten neu verhandelt werden.
Geteilte Geschichte. Zur intergenerationellen Weitergabe von Erinnerungen an Krieg und Flucht in internationalen Jugendaustauschprojekten in Südosteuropa
Julia Anna Schranz (Wien)
Die Regional Youth Cooperation Office (RYCO) fördert seit 2018 Jugendaustauschprojekte in Südosteuropa, die zur Aufarbeitung der jugoslawischen Sukzessionskriege der 1990er-Jahre und zur Friedenssicherung in der Region beitragen sollen. Dabei vermitteln vielfach junge Erwachsene, die als Kinder Flucht und Gewalt miterlebt haben, ihr Wissen und ihre Erinnerungen an eine neue Generation von Jugendlichen, die nach dem Ende der Kriege geboren wurden. Sie nehmen dabei eine Reihe von Rollen ein und fungieren als Organisator*innen und Ansprechpartner*innen, aber auch als Zeitzeug*innen. Auf Basis lebensgeschichtlicher Interviews mit jungen Menschen aus den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien geht der Vortrag der Frage nach, wie Erinnerungen an Krieg und Flucht in den Familien der Vermittler*innen und der jugendlichen Teilnehmer*innen tradiert werden und was passiert, wenn mitunter sehr unterschiedliche Geschichtsbilder, im Rahmen von internationalen Austauschprojekten, aufeinandertreffen.
Touristische Geschichte. Stätten des Kulturerbes als Medien und Projektionsflächen von kollektivem Gedächtnis
Eva Tamara Asboth (Wien)
Orte wie die Bucht von Kotor zählen zum UNESCO-Weltkulturerbe und sind daher Anziehungspunkt für viele Tourist*innen. Nach den Kriegen in der jüngsten Geschichte Montenegros ist der Kulturerbe-Tourismus ein zentraler wirtschaftlicher Faktor für das kleine Land. Die Stätten des Kulturerbes werden somit zu Begegnungszonen zwischen der Bevölkerung und Reisenden. Als solche müssen sie als Medien der Vergangenheit und als Projektionsfläche für gegenwärtige Konstruktionen regionaler Geschichtsbilder betrachtet werden. Im Rahmen von Oral History Interviews mit der jungen Bevölkerung aus Kotor, Cetinje und Bar wird der Frage nach Wirkung und Auswirkung von touristischer Geschichte, (nationalem) Selbstverständnis und kollektivem Gedächtnis nachgegangen. Der Vortrag möchte den gegenwärtigen Einfluss von kulturellen Gedächtnisstätten, die weit in die Vergangenheit zurückreichen, und heute als Tourismus-Attraktion neu bespielt werden, auf junge Erwachsene in Südosteuropa und deren Geschichtsverständnis beleuchten.
Jubiläen in Zeiten des Krieges (Film „de fac-to“)
Alexandra Wachter (Wien)
In den Jahren 2016–2018 haben die Künstlerin Ekaterina Shapiro-Obermair und die Historikerin Alexandra Wachter gemeinsame Feldforschungen in der westukrainischen Stadt L’wiw durchgeführt und den Film „de fac-to“ gedreht. Kompositorisch wie ein Kalender aufgebaut, zeigt er jährlich wiederkehrende Gedenkrituale zu Ereignissen rund um den Zweiten Weltkrieg, die von unterschiedlichen politischen, sozialen und ethischen Gruppierungen begangen werden, während im Osten des Landes erneut Krieg herrscht. Die Überlagerung mehrerer semantischer Ebenen führt trotz des Ernstes des (historischen) Hintergrunds immer wieder zu unfreiwilliger situativer Komik.
Mit kurzer Einführung und anschließender Diskussion.