Intra- und Interdisziplinarität des Zivilrechts
Seit Ende des aufklärerischen Kodifikationszeitalters ist eine immer stärkere Ausdifferenzierung der deutschsprachigen Rechtsordnungen zu beobachten. In Abkehr vom Leitgedanken eines einheitlichen Privatrechts haben sich etwa immer weitere Sonderprivatrechte (Arbeits-, Unternehmens-, Konsumentenschutzrecht etc) herausgebildet. Auch das Zivilprozessrecht kann bedingt durch seinen öffentlich-rechtlichen Charakter auf eine Emanzipation vom materiellen Recht zurückblicken. Diese Entwicklungen haben – mitunter begünstigt durch die Herausbildung entsprechender universitärer Organisationseinheiten – zu einem immer stärker werdenden „Disziplinendenken“ geführt.
Dem Postulat der Einheit der Rechtsordnung sowie den zu bewältigenden praktischen Herausforderungen kann ein solcher „Isolationsansatz“ freilich kaum gerecht werden, sodass in den letzten Jahrzehnten eine wieder stärker werdende „Schnittstellenforschung“ festzustellen ist. Aber nicht nur innerhalb des Privatrechts, sondern auch im Verhältnis zum öffentlichen Recht und seinen Teilbereichen sind zunehmende wechselseitige Einflüsse von immer größerer Bedeutung. Schließlich ist die Rechtsdogmatik als „Dreh- und Angelpunkt“ der (deutschsprachigen) Rechtswissenschaft nicht (mehr) unumstritten. Neben der Europäisierung und Internationalisierung nationaler Rechtsordnungen hat der Stellenwert angrenzender Sozial-, Geistes- und Naturwissenschaften (Ökonomie, empirische Rechtsforschung, Psychologie etc) in den letzten Jahrzehnten zugenommen.
Die vielfältigen Probleme und Phänomene des Verhältnisses zwischen dem Zivilrecht und anderen rechtswissenschaftlichen Fachbereichen sowie anderen wissenschaftlichen Disziplinen sollen Gegenstand der diesjährigen Tagung unter dem Titel „Intra- und Interdisziplinarität des Zivilrechts“ sein. Konkret wirft dieses Thema insbesondere folgende Problemfacetten auf:
Zunächst stellt sich die Frage, inwieweit „kernzivilrechtliche“ Regeln oder gar Prinzipien im Anwendungsbereich der jeweiligen Teilrechtsgebiete verdrängt bzw modifiziert werden. Die Schwierigkeiten können dabei keineswegs einfach durch mechanischen Rückgriff auf die lex‑specialis‑Regel bewältigt werden, weil ihre Anwendung regelmäßig das Herausarbeiten von Wertungen erfordert; das zeigt sich etwa deutlich bei der typischerweise heftig umstrittenen Frage, ob eine Norm abschließenden Charakter aufweist oder subsidiär allgemeines Zivilrecht zur Anwendung gelangt. Mindestens ähnlich diffizil gestaltet sich die Frage, ob und inwieweit (ungeschriebene) Wertungen der jeweiligen Teilrechtssystematik der Anwendung allgemeinen Zivilrechts entgegenstehen können.
Umgekehrt bleibt aber auch das Kernzivilrecht in seinem ureigenen Anwendungsbereich nicht von der Rückwirkung spezialgesetzlicher Regeln und Wertungen „verschont“. Beispielhaft erwähnt seien zum einen die Phänomene der Ausfüllung von zivilrechtlichen Generalklauseln (Treu und Glauben, gute Sitten usw) sowie vertraglicher Nebenpflichten durch Rückgriff auf andere rechtswissenschaftliche Teilbereiche. Zum anderen können derartige gesetzgeberische Maßnahmen und möglicherweise sogar richterrechtliche Rechtsfortbildungen außerhalb der zivilrechtlichen Kodifikationen sekundäre Lücken erzeugen, die einer Ausfüllung bedürfen. Bei diesen Fragen ist häufig auch der europarechtliche Hintergrund zu beachten, der eine „harmonische“ Auslegung – im Sinne der Einheit der Rechtsordnung – erschweren kann.
In durchaus heterogener Weise wird das Zivilrecht von anderen Disziplinen beeinflusst: Diese spielen insbesondere als Erkenntnisquellen im Rahmen der Auslegung, etwa von unbestimmten Rechtsbegriffen und Verkehrsbräuchen, eine besondere Rolle. Von Interesse ist schließlich auch die Behandlung sogenannter „Querschnittsmaterien“ (zB Wohn-, Verkehrs- und Sportrecht), deren fächerübergreifende Relevanz mitunter ebenfalls Besonderheiten in der Auslegung und Anwendung des Zivilrechts bedingt.
Trotz vieler Gemeinsamkeiten und Sachzusammenhänge der unterschiedlichen rechtswissenschaftlichen Fachbereiche, die ein allzu enges „Disziplinendenken“ zu verdecken drohen, kann nicht ignoriert werden, dass eine trennscharfe Abgrenzung bisweilen vom Internationalen Privat- und Zivilverfahrensrecht gefordert wird. Dies gilt zB für die Diskussionen über die Einordnung grenzüberschreitender Lebenssachverhalte als deliktisch, gesellschafts- oder insolvenzrechtlich. Von großer Bedeutung ist insoweit auch die Differenzierung von materiellem und formellem Recht.
In all diesen Problembereichen sind allgemeine methodische Beiträge ebenso erwünscht wie die Behandlung konkreter Einzelfragen. Wohl nicht besonders betont zu werden braucht, dass auch rechtshistorische, -soziologische und -vergleichende Bezüge oder Arbeiten überaus willkommen sind. Im Folgenden finden Sie eine beispielhafte Aufzählung möglicher Themenstellungen. Sie ist keineswegs abschließend, sondern dient nur als Anregung und Konkretisierung des Generalthemas.
- Lex-specialis-Regel
- Gespaltene Auslegung im B2B-, B2C- und C2C-Bereich
- „Ausstrahlung“ verbraucherrechtlicher Wertungen auf das allgemeine Zivilrecht
- Disponibilität arbeitsrechtlicher Ansprüche
- Dienstnehmer- und Dienstgeberhaftungsprivileg
- Lehre vom fehlerhaften Verband
- Auslegung des Gesellschaftsvertrags
- Einflüsse des Gesellschaftsrechts auf sonstige Gemeinschaften
- Besonderheiten der Geschäftsleiterhaftung (Business Judgement Rule)
- Prospekthaftung und zivilrechtliche Vertrauenshaftung
- Insolvenzrechtliche Einwirkung auf das vertragliche Synallagma
- Sporthaftungsprivileg
- Horizontal-/Drittwirkung der Grundrechte
- „Ausstrahlungswirkung“ kapitalmarktrechtlicher Wohlverhaltensregeln
- Doppelfunktionelle Parteiprozesshandlungen
- Privatautonomie im Zivilprozessrecht
- Kollisionsrechtliche Einordnung von Insolvenzverschleppung und Existenzvernichtung
- Beweislast, -maß, und -würdigung zwischen lex causae und lex fori
- „Insolvenznahe“ Prozesse nach der EuInsVO
- Ökonomische Analyse des Rechts
- Spieltheorie (zB im Kartell- oder Gesellschaftsrecht)
- Rechtstatsachenforschung (zB im Erb-, Familien- und Unternehmensrecht)
- Feststellung(smethoden) von Gewohnheitsrecht
- Empirische Ansätze zur Auslegung von Willenserklärungen
Es würde uns freuen, wenn das Thema der Jahrestagung 2017 der Gesellschaft Junger Zivilrechtswissenschaftler e.V. Ihr und Euer Interesse geweckt hat. Kolleginnen und Kollegen, die bereit sind, ein ca. zwanzigminütiges Referat mit anschließender Veröffentlichung im Tagungsband zu übernehmen, bitten wir, ein Expose von maximal zwei Seiten bis zum 15. April 2017 unter gjz-innsbruck-2017@uibk.ac.at einzureichen.
Den Call for Papers als PDF finden Sie hier.