Wer sind die Gegner?
Wer waren und sind nun die Ablehnenden? Schwager denkt in diesem Zusammenhang weder an einzelne Gestalten des Volkes Israel noch an die Juden als solche. Zwar können die an den biblischen Sprachgebrauch angelehnten Formulierungen dem »eiligen Leser« diesen Eindruck vermitteln und auch eine Polemik wegen des »antijüdischen Sprachgebrauchs« provozieren, eine genauere Lektüre zeigt, daß ein solches Verständnis die Grundkonzeption verfehlt. Unter den die Botschaft Ablehnenden wird vielmehr die gesamte Menschheit subsumiert, die Zusammenrottung gegen den diese Botschaft verkörpernden Jesus wird von Schwager als eine universale gedacht: Die Menschheit als Ganzes wendet sich gegen diesen einen, verwirft ihn und bringt ihn um. Der von Girard für die Stammesgesellschaften postulierte Sündenbockmechanismus wird damit in die universalgeschichtliche Dimension ausgeweitet, aber auch radikal gebrochen. Er wird zu einer geschichtstheologischen Argumentationsfigur.(15) Wie begründet Schwager diese Universalisierung?
Die Begründung der These von der universalen Ablehnung erfolgt auf mehreren Ebenen. Neben den Hinweisen auf die Eigenart des biblischen (korporativen) Denkens, das universale Urteile wie etwa jenes aus der Apg 4,27f erlaubt(16), und der Auseinandersetzung mit den exegetischen Thesen über die Faktizität einer Ablehnung (»galiläische Krise«)(17) sind es eben geschichtstheoretische Auffassungen, die hier von Bedeutung sind. Die Hinweise auf die in der Menschheitsgeschichte sich konstant durchhaltenden Aggressions- und Projektionsmechanismen(18) haben für Schwager nicht nur eine sekundäre Bedeutung (wie dies für die meisten Theologen der Gegenwart der Fall ist). Dem neuzeitlichen Pathos des (trotz aller Einschränkungen doch) als autonom beschriebenen Subjektes, das als Täter der Geschichte Heil und Unheil zu verantworten hat, setzt Schwager die Sicht einer letztlich »gehandelten« Menschheit entgegen. Die Verantwortung des Individuums für seine Taten ist zwar nicht aufgehoben, sie bleibt aber eingebunden in die globale Sicht dessen, was sich ereignet: die Menschen sind zuerst »Darsteller« und »von fremden Mächten« beherrscht(19), die Schwager durch die Girardsche Analyse des Sündenbockmechanismus zu entschlüsseln sucht. Außerdem weisen die heilsgeschichtliche Rolle der Zuhörer Jesu und die Bedeutung ihrer Entscheidungen als »Rollenträger« auf die definitive Dimension der Verwerfung Jesu hin: »Definitive Ablehnung heißt in diesem Fall: es hat sich definitiv gezeigt, daß die Mächte und Kräfte, von denen die menschliche Geschichte beherrscht wird, in einem grundsätzlichen Gegensatz zu jener Botschaft und jenem Leben stehen, das Jesus gebracht hat.«(20) Die allerletzte Begründung geht über das von Girard gedachte kulturtheoretische Begründungspotential radikal hinaus; sie ist der Tradition der christlichen Erlösungslehre verpflichtet und gibt die Identifikation als den allerletzten Grund für die Universalität an: »Die konkrete historische Verwerfung Jesu erreichte dadurch eine universale Dimension ..., daß der Ausgestoßene alle Menschen einschloß«(21), sich also mit ihnen, den Gewalttätern, den ihn Ausstoßenden identifizierte. Faßt man die Verwerfung auf diese Weise, so kann die Tatsache der historischen Kreuzigung Jesu nicht mehr als etwas, was nur von außen her kommt, begriffen werden. Sie kann nicht mehr ein von außen her kommendes Hindernis für die Basileia-Botschaft sein, an dem sich der Retter zu bewähren habe; sie bringt inhaltlich neue für die Botschaft selbst relevante Aspekte mit sich. Was hat das zu bedeuten?
Die Ablehnung zeigt den grundsätzlichen Gegensatz zwischen der Gottesherrschaft und dem Teufelskreis von Lüge und Gewalt, der durch die Botschaft eben nicht überwunden werden konnte. Zur Verdeutlichung dieses Gegensatzes beruft sich Schwager auf die Antithesen der Bergpredigt. Mit diesen Forderungen sind nicht willkürliche Gebote gemeint. Weder der ethische Rigorismus der Schwärmer, der seinerseits für einen Gewaltterror in der Geschichte verantwortlich zeichnete, noch die Gesinnungsethik der liberalen Theologie, die das Gewaltpotential im menschlichen Verhalten banalisierte und angesichts eruptiver Ausbrüche derselben der Verherrlichung der Gewalt verfiel, werden den Antithesen gerecht. Jesus führt die einzelnen moralisch zu verwerfenden Taten auf die Grundfrage nach der Dynamik des Begehrens zurück: Damit verlagert er den Schwerpunkt der ethischen Diskussion und ebnet anscheinend sogar den Unterschied zwischen einem, der gemordet hat, und einem, der »bloß« zürnt, ein. Ist eine solche Logik ernst zu nehmen?
Nimmt man die Theoreme Girards über die mimetische Struktur der menschlichen Begierde als Verstehenshilfe an, so wird man begreifen, warum der Unterschied zwischen einem Mörder und Ehebrecher und dem braven Bürger zuerst nicht »eine Sache der größeren oder kleineren Gerechtigkeit [ist], sondern fast nur noch der äußeren Umstände und der Stabilität gesellschaftlicher Normen«.(22) Die jesuanischen Anthithesen machen eine strafrechtliche, politische und ethische Diskussion über die gesellschaftlichen Normen und die Bemühung um die Verhinderung des faktischen Mordens und Blutvergießens keineswegs obsolet. Im Gegenteil: Die Suche wird erst recht durch eine solche Auffassung motiviert. Deren normativer Plafond wird aber nicht heruntergesetzt: Erst wenn Menschen so handeln, wie es die Bergpredigt fordert, erst wenn sie von der aneignenden und unweigerlich in Konflikte führenden Mimesis frei werden, erst dann ist das neue Volk tatsächlich da, erst dann kann man von einer radikalen Gerechtigkeit, die auch diesen Namen verdient, sprechen. Schlußendlich ist erst dann der Teufelskreis von Lüge und Gewalt auch empirisch überwunden. Daß die Menschen dies nicht tun und auch nicht in der jesuanischen Zeit und Umgebung getan haben, ist nur noch eine banale Alltags- und Binsenswahrheit. Solange aber dies nicht der Fall ist, ist die Gottesherrschaft nicht angebrochen. Ist der Anbruch also eine Frage der Zeit?