Projektziel 6: Leitfäden zur Biografiearbeit

Biografische Rekonstruktion und Biografiearbeit haben in den letzten Jahren in der Bildungsarbeit an Bedeutung gewonnen. Sie stellen die Lebensgeschichte der einzelnen Person in den Mittelpunkt: Deren Erfahrungen und Erleben werden für einen kürzeren oder längeren Zeitraum herausgehoben. Sie können die verloren gegangene Wertschätzung bewusst machen, die die Gesellschaft nicht oder nicht ausreichend (ge-)leistet (hat) und machen darauf aufmerksam, dass das Leben und das Schicksal des Einzelnen ihren eigenen Wert haben. Biografiearbeit kann zu einem besseren Verständnis durch das soziale Umfeld und zu einer höheren Akzeptanz und Anerkennung einer Person führen. Sie befähigt aber auch zur Selbsterkenntnis und eröffnet neue Wege der Selbstthematisierung, stärkt das Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl und fördert die Entfaltung bisher vernachlässigter oder zurückgestellter Vorlieben und Interessen. Es geht darum, den „roten Faden“ des eigenen Lebens zu erkennen.

Biografiearbeit erfüllt drei Aufgaben und wirft dabei den Blick sowohl auf die Vergangenheit, als auch auf die Gegenwart und Zukunft: Durch das Bewusstsein der Vergangenheit kann sich der Blick für die Zukunft öffnen. Rückblickend werden Lebenserfahrungen geordnet und ihnen Bedeutung zugeschrieben. Fremdbestimmte und selbstverantwortete Strukturen werden deutlich, die sonst selten wahrgenommen werden. Biografiearbeit ist Arbeit an und mit den Lebensspuren der Menschen. Dabei geht es nicht so sehr um die objektive Realität eines Lebenslaufs, sondern um das subjektive Erinnern und Erzählen. Aus diesem Grund bleiben biografische Rekonstruktionen und Biografiearbeit stets bis zu einem gewissen Grad fragmentarisch. Die Erzählenden entscheiden selbst, was sie preisgeben und wie sie ihr Leben deuten bzw. gedeutet wissen wollen. Daher ist weder Widerspruch noch Korrektur notwendig.

Die unterschiedlichen Lebensalter und Erfahrungsfelder können zur Versöhnung mit fremden Welten und wechselseitiger Anerkennung von persönlichen Erfahrungen und Kompetenzen beitragen. Biografiearbeit ist insofern ganzheitlich: Sie enthält die individuelle Ebene (Lebensgeschichte, Erfahrungen, Begebenheiten, Erlebnisse, tiefenpsychologische Deutungen) und die gesellschaftliche Ebene (soziale Strukturen, gesellschaftliche Ereignisse, die Lebenschancen bedingen und Biografie beeinflussen). Biografische Rekonstruktionen und Biografiearbeit orientieren sich an der Lebenswelt der Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen und Verhaltensauffälligkeiten und sind darauf ausgelegt, ihre jeweils spezifischen Probleme und Interessenlagen zu erkunden. Sie können in diesem Sinne auch als Methodik der Lebensweltanalyse verstanden werden. Biografiearbeit ist damit zugleich Arbeit an und mit zeitlichen Veränderungen. Sie zeigt Möglichkeiten auf, an Geschichten, Vorlieben und Interessen anzuknüpfen, um darauf aufbauend Handlungsalternativen zu gestalten und mehr Teilhabe zu ermöglichen.

 

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© Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung Bremen e.V., Illustrator Stefan Albers

 

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