Peter Goller
Heinrich Lammasch gegen bellizistische Völkerrechtler, gegen die „Völkerrechtsleugner“. Seine Stellung in der Völkerrechtswissenschaft (1914-1920)
Albert Fuchs (1905-1946), Aktivist der in austrofaschistischen Jahren verbotenen KPÖ, hat in seiner nach 1938 im englischen Exil erstellten, beeindruckenden jüngeren österreichischen Geistesgeschichte Heinrich Lammasch als pazifistisch fortschrittlichen Völkerrechtler, zugleich als konservativen Denker dargestellt:[1] „Das geistige Bild Lammaschs ist merkwürdig; es verquickt so widersprechende Züge, dass es nicht leicht unter einen bekannten ideologischen Typus subsumiert werden kann. In vielen Dingen hielt Lammasch treu am Hergebrachten fest. Er war ein religiöser Mensch, ein strenger Katholik. Kirche und Papst standen ihm höher als alles in der Welt. Seine philosophischen Anschauungen waren antiquiert. Das zeigte sich in der Art, wie er die Grundprobleme seines ersten Faches, des Strafrechts, behandelte. Zwangsläufig geriet er in einen Gegensatz zur ‚soziologischen‘ Schule, die das Strafrecht an die Doktrinen der zeitgenössischen bürgerlichen Natur- und Sozialforscher anpassen wollte.[2] Die österreichische Monarchie im besonderen war Gegenstand seiner herzlichen Zuneigung. (…) Alles in allem: ein konservativer Denker und Staatsmann. Und zugleich ein ganz und gar nicht konservativer!“
Lammasch hielt an der Integrität des habsburgischen Gesamtstaates fest. Er reagierte oft verständnislos gegenüber den nationalen Separatbewegungen, wie jenen der Tschechen um Thomas G. Masaryk. Er polemisiert aber vor allem gegen die deutschliberalen Zentralisten, die den Erhalt einer föderativ übernationalen Monarchie gefährden! Die Oktoberrevolution fürchtet Lammasch.
Als Herrenhausmitglied griff Heinrich Lammasch 1917/18 den militaristischen „Geist von Potsdam“ und damit den Fortbestand des Kriegsbündnisses mit Deutschland an. Lammasch – so Albert Fuchs fortfahrend – begriff, „welch ein Verhängnis für Österreich das Bündnis mit Deutschland darstellte. Gegen den ‚Mitteleuropa‘ genannten Plan zur weiteren Festigung des Bündnisses (…) trat er in einer Denkschrift auf. Als Deutschland im Zenit der Macht stand, wandte er sich – Herrenhausrede vom 27.10.1917 – mit Schärfe gegen den unheilvollen ‚Geist von Potsdam‘. (…) In dem Buch ‚Das Völkerrecht nach dem Kriege‘ erklärte er mit trockenen juristischen Worten, dass militärische Bündnisse grundsätzlich ungültig seien und dass jeder Bündnispartner jederzeit berechtigt sei, einen Separatfrieden zu schließen.“
In der kriegsrevanchistischen Stimmung nach 1918, in den Jahren der „Anschluss“-Propaganda geriet das auf einen Völkerbund orientierende Friedensideal des 1920 verstorbenen „kaisertreuen“ Heinrich Lammasch rasch in politisch erwünschte Vergessenheit. Daran änderte sich auch in den Jahren der Zweiten Republik wenig, auch wenn ihm der Wiener Völkerrechtsordinarius Stephan Verosta 1971 eine erste historisch politische Monographie widmete.[3]
Erst mit einer 1993 von dem antifaschistischen Widerstandskämpfer und Wiener Arbeiterkammerjuristen Eduard Rabofsky (1911-1994) gemeinsam mit dem Innsbrucker Universitätsarchivar Gerhard Oberkofler veröffentlichten biographischen Studie wurde Lammaschs, von Karl Kraus gewürdigter Einsatz für einen raschen, dauerhaften, notfalls auch separat abgeschlossenen Verständigungsfrieden, für einen Frieden „ohne Annexionen“ wieder nachhaltig in Erinnerung gerufen.[4]
Während viele deutsche und österreichische Professoren in hetzerischen Schriften den „Deutschen Weltkrieg“ verherrlichten, appellierte Lammasch – schon kurz nach Kriegsbeginn 1914 – an den Fortbestand einer übernationalen wissenschaftlichen Zusammenarbeit. Er erinnert etwa an eine vor 1899 auf Initiative des Wiener Klassischen Philologen Wilhelm Hartel und jener von Theodor Mommsen eingerichtete weltweite „Assoziation der Akademien“, an die medizinische Forschung, die „Entdeckungen und Anregungen Rokitanskys, Listers, Pasteurs und Kochs“. Das Werk eines Leibniz kann nur in internationaler Kooperation bearbeitet werden. Für die „Edition der Werke Eulers ist das Zusammenwirken der Mathematiker verschiedener Staaten notwendig“.[5]
1917 appelliert Lammasch an die Wissenschaftswelt: „Das Eindringen chauvinistischen Geistes in die geheiligten Hallen der Wissenschaft war vielleicht das betrübendste Zeichen jener schweren Desorganisation der Menschheit, die im Gefolge des Krieges eintrat. Darum ist jede Stimme zu begrüßen, die den Mut hat, sich dagegen zu erheben.“[6]
Mit Franz Grillparzers „Von Humanität durch Nationalität zur Bestialität“ tritt Lammasch im Sommer 1915 gegen „den Völkerhass“ auf. Er erinnert ganz im Widerspruch zum dominierenden alldeutschen Chauvinismus an das literarische Erbe des Engländers Charles Dickens, an den Russen Leo Tolstoi.[7]
Auch 1917 hält Heinrich Lammasch am Fortleben der Friedensidee über den imperialistischen Weltkrieg hinaus fest. Den teils schon völkisch überlagerten völkerrechtlich gestützten Revanchegeist, wie er etwa 1930 im Werk seines Wiener Fachkollegen Alexander Hold-Ferneck zum Ausdruck kommen sollte, musste Lammasch nicht mehr erleben.[8] Er hält mitten im Weltkrieg fest: „Manche glauben, die Friedensidee sei durch den Weltkrieg erschlagen. Ich bin vom Gegenteil überzeugt. Sie wird durch den Weltkrieg nach dessen Beendigung einen bisher nicht dagewesenen Aufschwung erfahren. Die Politik des Wettrüstens, der Bündnisse, des europäischen Gleichgewichts hat Schiffbruch gelitten; an ihre Stelle muss eine Politik der Verständigung durch gegenseitige Konzessionen treten; der Gedanke friedlicher Schlichtung von internationalen Differenzen kann nicht wieder für Jahrzehnte oder Jahrhunderte verschüttet werden.“[9]
Auch wenn Lammasch manchmal zu idealistisch, etwa gerade – wie Albert Fuchs mit Recht andeutet – gegenüber den als demokratisch antiimperialistisch, potentiell neutral eingeschätzten USA zu optimistisch erscheinen mag, benennt er – so 1915 in der „Arbeiter-Zeitung“ – auch die Kriegsprofiteure des internationalen Rüstungskapital, etwa jenes der USA, wo „eine Handvoll Industrieller und Kapitalisten auf die günstige Konjunktur, aus Waffen- und Munitionslieferungen nach Europa kolossale Wuchergewinne zu erzielen“.[10]
Lammasch prangert immer wieder den Waffenhandel (auch aus neutralen Ländern) an, Geschäfte, die „dem Effekte nach ein Handel in Menschenleben“ sind. Lammasch spricht 1917 von der Schuld der „Banken, Reeder, des Großhandels, der Großindustrie“. Lammasch bezeichnet die Kriegsgewinnler im Sinn von Karl Kraus‘ „Letzten Tagen der Menschheit“ auch als jene, die „nach Art der Hyänen von Leichen zehren“. Im Herrenhaus wendet er sich im Frühjahr 1918 gegen die Anwälte „der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie“.
Lammasch spricht 1917 im „Völkerrecht nach dem Kriege“ die Rüstungsindustrie und deren Börsenspekulanten als „Gilde jener Parasiten des Krieges“ an, „die aus den Kriegsanleihen ihre Millionengewinne ziehen“. Gleich Karl Kraus spricht er von den „Magnaten der Presse, die im Kriege eine Macht über die Geister und Gemüter der Nation erlangen, die den edelsten ihrer Denker und Forscher versagt bleibt“. Er markiert jene Presseleute, die „Nationen in einen psychopathischen Zustand versetzen“, die ein „geistiges Kontagium“ ausströmen.[11]
Mit der nur mühevoll und unvollständig zustande gekommenen sozialdemokratischen Friedenskonferenz von Stockholm verbindet Lammasch Mitte 1917 die Hoffnung, die „Hölle des gegenwärtigen Krieges“ rascher beenden zu können. In Stockholm trafen sich Vertreter einiger „regierungssozialistischer“ Parteien, die 1914 den proletarischen Internationalismus zugunsten eines „Burgfriedens“, manchmal auch in Richtung parlamentarischer Zustimmung zu „Kriegskrediten“ sistiert hatten.
Ausgerechnet der konservative Hofrat Heinrich Lammasch bedauert – in der sozialdemokratischen Wiener „Arbeiter-Zeitung“ – Einbrüche in den Arbeiterinternationalismus: „Drei Jahre lang war in einem großen Teil des Proletariats die Erkenntnis verdunkelt, dass die Arbeiter der verschiedenen Staaten weit mehr Interessen miteinander gemeinsam haben als Arbeiter und Unternehmer desselben Landes, dass darum jeder Krieg für sie ein Bruderkrieg sei.“ Lammasch hofft auf ein Völkerrecht jenseits von herkömmlicher Bündnis- und „Gleichgewichtspolitik“, jenseits des Wettrüstens, wie dies seit 1871 betrieben wurde.[12]
Zum bleibenden Wert des Völkerrechts im Krieg: Gegen die Kriegsideologen
Heinrich Lammasch verteidigte den Wert des Völkerrechts mit Hilfe der Schriften des in Zürich, Wien und München lehrenden pazifistischen Philosophen und Erziehungswissenschaftlers Friedrich Wilhelm Foerster (1869-1966): „In deutschen Landen ist es das größte Verdienst Friedrich Wilhelm Försters immer wieder auf die Gefahr des nationalen Dünkels, der Hybris, hingewiesen zu haben.“[13]
Foerster, der sich 1917 in kleinem Kreis mit Lammasch um rasche Friedensverhandlungen bemühte, stand in der kurzen gemeinsamen Zeit an der Universität Wien mit Lammasch in Kontakt. In seinen Erinnerungen beschreibt Foerster, wie isoliert Lammasch und der deutsche Staatsrechtler Philipp Zorn während der Haager Friedenskonferenzen innerhalb ihrer jeweiligen Delegationen waren. Zorn gelang es etwa nicht, Deutschland zur Zustimmung zur (obligatorischen) Schiedsgerichtspflicht zu bewegen: „Es gelang Philipp Zorn, wenigstens ein Minimum zu erreichen: die deutsche Regierung gab ihre Zustimmung zu der Errichtung eines internationalen Schiedsgerichtes im Haag.“[14]
In seinem Bemühen um ein dem Frieden dienendes Völkerrecht verweist Lammasch auch auf den russisch-polnischen Bankier und Pazifisten Ivan (Johann) Bloch, der 1899 „in seinem zur Zeit der 1. Haager Konferenz veröffentlichten Werke über die Dauer und über die Verluste des künftigen Krieges“ vor den entsetzlichen Folgen eines Krieges angesichts der neuen technischen Waffen gewarnt hatte. Bloch sei deshalb „von den Militärs vielfach verspottet“ worden.[15]
Lammasch wandte sich gegen die „Philosophie des Krieges“ des niederländischen Ethnologen und Soziologen Sebald Rudolf Steinmetz. Steinmetz hatte 1907 von der erzieherischen Funktion des Krieges, vom „Krieg als Volkserzieher“, vom „Kulturwert“ des Krieges, vom Krieg als „kultureller Triebkraft“, von der Aussichtslosigkeit aller Abrüstungsbemühungen, der Naivität des Pazifismus gesprochen. Lammasch widerspricht Steinmetz‘ Rede vom Krieg „als Weltgericht, als dem ‚Henker‘ der Staaten, die dem Todesurteil der Geschichte verfallen sind“. Er hält Steinmetz die barbarischen Folgen moderner Massenkriege entgegen. Steinmetz‘ Thesen wie: Der Krieg „ist Richter und Reformator zu gleicher Zeit“ oder „wenn es keinen Krieg gäbe, müsste man ihn erfinden!“ stoßen auf Lammaschs Verachtung.[16]
Lammasch beunruhigte der Einfluss des Historikers Heinrich von Treitschke, eines rabiaten Ideologen des wilhelminischen Imperialismus und des „Faustrechts“ im System der internationalen Beziehungen, auf zahlreiche deutsche Völkerrechtswissenschaftler (wie Erich Kaufmann). Mit Treitschke wurde mitten im Weltkrieg für weitere und sogar erhöhte Kriegsbereitschaft agitiert, so 1917 in einem Buch des „Durchhalten“ propagierenden Generalstabsoffiziers Hugo Freytag-Loringhoven, mit der Parole: „Ein dauerhafter Friede ist nur durch eine starke Rüstung verbürgt!“
Freytag polemisiert mit Treitschkes Berliner „Politik“-Vorlesungen gegen „kosmopolitische Schwärmereien“ von einem allen deutschen Idealen entgegenstehenden „Weltbund“. Lammasch widerspricht Freytag, dessen „bluttriefender Satz ‚Si vis pacem, para bellum‘ hat gründlichst abgewirtschaftet“. Zum Frieden kann vielmehr nur ein Völkerbund führen, der auf gemeinsam anerkannten Grundsätzen der Nationalitätenpolitik und der Wirtschaftspolitik, auf Rüstungsbeschränkungen und auf friedlicher Schlichtung von Streitigkeiten aufgebaut ist. Ein solcher Weltbund ist weder „hassenswert, wie die Idee eines Weltreiches‘, noch eine ‚unerträgliche Bevormundung eines selbstbewussten großen Volkes’, wie Herr von Freytag im Anschluss an Treitschke und andere Gewaltanbeter meint.“[17]
1917 verteidigt Lammasch in seinem „Völkerrechts“-Buch Immanuel Kants „ewigen Frieden“, Kants Friedens- und Völkerbundutopie gegen eine Kriegshetzschrift des „kathedersozialistischen“ Berliner Nationalökonomen Werner Sombart. Dieser behauptete 1915 in „Händler und Helden“, einem „der frivolsten während des Krieges fabrizierten Bücher, der Pazifismus Kants sei nur ein Ergebnis der greisenhaften Entartung seines Geistes gewesen.“[18]
Sombart, der sich später auch noch dem NS-Regime anbiedern sollte, hat Kant denunziert: „Die traurige Schrift des alten Kant über den ‚Ewigen Frieden‘, in der nicht der große Philosoph, sondern nur der über den Tod Lampes [?] vergrämte, gnittrige und verärgerte Partikulier Kant aus Königsberg zu Worte kommt, bildet die einzige, unrühmliche Ausnahme. Sonst sind mir von repräsentativen Deutschen pazifistische Äußerungen aus keiner Zeit bekannt geworden.“[19]
Lammasch hingegen trat mit Immanuel Kant und Gotthold Ephraim Lessing für die erzieherische Idee einer sittlichen Höherentwicklung des Menschengeschlechts ein. Kants Gedanken zu einem künftigen Bund der Völker beeindruckten ihn. Eingehend zitiert Lammasch aus Kants „Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“: „Auch der schärfste Denker des deutschen Volkes hat die Menschheit nach der Richtung eines Verbandes zwischen den Staaten hingewiesen, in dem die Staaten durch gegenseitige Anerkennung ihrer Rechte und Pflichten, Ruhe und Sicherheit sich verschaffen können. ‚Die Natur treibt durch die Kriege, durch die überspannte und niemals nachlassende Zurüstung zu denselben, durch die Not, die dadurch endlich ein jeder Staat selbst mitten im Frieden innerlich fühlen muss, zu anfangs unvollkommenen Versuchen, endlich aber nach vielen Verwüstungen, Umkippungen und selbst durchgängiger innerer Erschöpfung ihrer Kräfte zu dem, was ihnen die Vernunft auch ohne soviel traurige Erfahrungen hätte sagen können, nämlich aus dem gesetzlosen Zustand der Wilden hinaus zu gehen und in einen Völkerbund zu treten … die brutale Freiheit aufzugeben und in einer gesetzmäßigen Verfassung Ruhe und Sicherheit zu suchen.‘“[20]
Im Weltkrieg. Gegen die Völkerrechtsresignation
Heinrich Lammasch stellt sich vehement gegen jede teils politisch gezielt geschürte völkerrechtliche Resignation: „In den ersten Monaten des Krieges, den wir schaudernd durchlebten, bekamen wir von allen Seiten zu hören, das Völkerrecht sei völlig zertrümmert worden. Sonderbarerweise sind, je mehr sich die einzelnen Akte der Verletzung des Völkerrechtes häuften, diese allgemeinen Klagen seltener geworden und mehrten sich die Stimmen, dass trotz zahlreicher und schwerer Verletzung der Rechtsnormen, die gegenüber den Neutralen wie gegenüber den Feinden gelten sollen, im Einzelnen, doch von einem allgemeinen Zusammenbruche des Völkerrechtes nicht die Rede sein könne.“ Zu den Völkerrechts optimistischen Kollegen zählt Lammasch neben Franz Liszt, einem ehemaligen Gegner im strafrechtlichen Schulenstreit, auch Theodor Niemeyer, den Herausgeber der „Zeitschrift für Internationales Recht“ und den friedensfreundlichen Berliner Staatsrechtler Heinrich Triepel, sowie den Schweizer Max Huber, ständiges Mitglied des internationalen Gerichtshofs in Den Haag, und den norwegischen Völkerrechtler George Francis Hagerup, Delegierter in Haag und später beim Völkerbund.
Letztere haben gegen die Auflösung völkerrechtlicher Normen in die Willkür von „Kriegsnotwendigkeiten“ und militärischem Notstand Stellung genommen: „Mit Recht aber bekämpft Max Huber ‚die allgemeine Erweichung der Rechtsbegriffe durch allgemeine Zulassung eines besonderen kriegerischen Notrechtes wenigstens bei den Verträgen‘, ‚die Untergrabung des ganzen Kriegsrechtes durch Anerkennung eines unklaren allgemeinen Begriffes der Kriegsraison‘.“ Leider hat sich nur eine Minderheit der Völkerrechtler dem angeschlossen, bedauert Lammasch: „Die beiden Begriffe der Repressalien und der Kriegsnotwendigkeiten sind, allen Haager- und Londoner-Konferenzen zum Trotz, die Hebel, mittels deren man das gesamte Kriegsrecht aus den Angeln heben kann. (…) Mit Recht nennt Hagerup insbesondere die Lehre vom Notstand die Achillesferse des Völkerrechtes und bezeichnet er die ausreichende Umgrenzung dieses Begriffes als das wichtigste und praktische Problem des Kriegsrechtes.“[21]
Lammasch sieht das „Recht des Friedens“ durch den Weltkrieg „gar nicht berührt“: „Das Recht der Friedenssicherung, der Streiterledigung außer dem Kriege, ist bisher erst rudimentär vorhanden, nur in Wünschen der Staaten, nicht aber in verbindlichen Rechtssätzen zum Ausdruck gelangt. Dass dieses noch ungeborene Völkerecht versagt habe, kann doch wohl niemand behaupten.“ Die Haager Gegner eines Ausbaus einer normierten Streitbeilegung, die „Apologeten des Krieges“, die gerade seit 1914 die Wirkungskraft der Verträge herabsetzen, sehen sich nach Kriegsausbruch in ihrer Völkerrechtsskepsis bestätigt, „weil sie ein Völkerrecht überhaupt leugnen“. Für Lammasch gilt aber trotz unzähliger Kriegsgreuel und permanenter Völkerrechtsverletzungen: „Das Völkerrecht ist, wie wir gesehen haben, sogar im Kriege nicht unmöglich; es ist sogar im Kriege bis zu einem gewissen Maße wirksam und lebendig geblieben. Jeder heil aus der Gewalt des Feindes zurückkehrende Kriegsgefangene, jeder zur Bezahlung gelangende Requisitionsschein wird ein sprechender Beweis dafür sein. Umsomehr wird das Völkerrecht im Frieden wieder möglich sein und wirklich werden.“[22]
Rechtsgeschichte und Völkerrecht
Mit rechtshistorischen Argumenten tritt Lammasch gegen Einwände auf, das Völkerrecht „könne nicht wahres Recht sein, weil ihm die Essentialien des Rechtes fehlen: der Gesetzgeber, der Richter und das Vollstreckungsorgan“: „Allen drei Einwände ist ein Grundprinzip gemeinsam, der Gedanke, die Annahme eines Völkerrechtes sei mit der Koexistenz mehrerer Staaten als Souveräner unvereinbar, über souveränen Staaten könne es kein Recht geben; Recht bestehe nur in Subordinations-, nicht auch in Koordinationsverhältnissen.“
Lammasch sieht lange Perioden der Rechtsgeschichte, in denen es generell an ständigen [quasi-]staatlichen Rechtspflegorganen fehlte, in denen sowohl zivil- als auch strafrechtliche Sprüche nur freiwillig anerkannt waren: „Die Rechtsgeschichte hat genügend nachgewiesen, dass das Recht älter ist als die Organe bewusster und beabsichtigter Rechtssatzung, dass die Überzeugung von der verpflichtenden Kraft des Gesetzes selbst erst durch Gewohnheit entstanden ist, dass auch, nachdem Organe der Rechtssatzung geschaffen waren, sich noch immer unabhängig von ihnen neues Recht bildet. Nicht die organisierte allgemein anerkannte und bestreitbare politische Gemeinschaft hat das Recht geschaffen, vielmehr ist sie dessen Produkt.“
Unter Zitierung von Rudolf Jherings „Geist des römischen Rechts“ (I, 2. Auflage 1866) führt Lammasch zum „Mangel des Richters“ aus: „Der Richter war nichts als ein Schiedsrichter.“ „Die Parteien werden durch keine staatliche Macht gezwungen, sich ihm unterzuordnen, sondern sie unterwarfen sich ihm sozusagen freiwillig, bestimmt durch die unmittelbare Macht des Lebens.“
Der Wiener Römisch-Rechtler Moriz Wlassak hat nach Lammasch in einem Aufsehen erregenden Beitrag „Praescriptio und bedingter Prozess“ (in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung, Romanistische Abteilung 33) Jherings These quellenexakt belegt: „Und was Ihering in großen Zügen angedeutet, hat neuestens Wlassak mit eingehenden Quellenbelegen ausgeführt, indem er zeigt, dass noch im Formularprozess der klassischen Zeit die Kraft des Urteils wesentlich auf Ermächtigung des Richters seitens der Parteien beruhte, dass der Beamte bei der Bestellung des judex privatus nur mitwirkte und sie beaufsichtigte, die rechtlich entscheidende Handlung jedoch nur von den Parteien gesetzt wurde.“
Im Strafrecht sei lange keine „staatliche Exekution“ erfolgt, diese vielmehr der „Selbsthilfe des Verletzten und seiner Sippe“ überlassen worden. Strafsachen wurden durch „privaten Vergleich der Parteien“ erledigt, wie Lammasch unter Berufung auf den Münchner Rechtshistoriker Karl Amira (“Grundriss des germanischen Rechtes“, 2. Auflage 1897) und den Berliner Fachkollegen Heinrich Brunner („Grundriss der deutschen Rechtsgeschichte“, Berlin 1901) betont. Gleiches scheint auch für den „Mangel des Gesetzgebers“ zu gelten: „Als ausgebildete Disziplin zählt [das Völkerrecht] kaum 3 Jahrhunderte; es ist jünger, als der allgemeine Landfrieden in Deutschland. Kann daher von ihm verlangt werden, dass es in einer weltgeschichtlich genommen, so kurzen Spanne Zeit die Ordnung der Gesellschaft der Staaten so verbürge, wie es erst nach jahrhundertelangem Kampf der Reichsgewalt gegenüber den Lokaltyrannen – und zuerst noch recht unvollkommen – gelang?“ Lammasch stützt sich bei der Beschreibung der Landfriedensbewegung und des temporär freiwilligen Verzichts auf das Fehderecht auf Arbeiten seines Innsbrucker und Wiener Fakultätskollegen Otto Zallinger, die dieser als Schüler von Julius Ficker erstellt hatte: „Wesen und Ursprung des Formalismus im altdeutschen Privatrecht“ (Wien 1878) und „Der Kampf um den Landfrieden in Deutschland während des Mittelalters“ (MIÖG, Ergänzungsband IV, Innsbruck 1893).
Und überdies, auch im öffentlichen Recht der Gegenwart gibt es Normen, „denen keine Sanktion“ entspricht: „Nur einer oberflächlichen Betrachtung kann es scheinen, als gäbe es keine wahre Rechtsnorm ohne Sanktion, kein wirkliches Gericht ohne eine ihm zur Seite stehende Exekutivgewalt. Blickt man aber etwas tiefer, so erkennt man auch in unserem heutigen staatsrechtlichen Rechte Normen, namentlich solche des öffentlichen Rechts, denen keine Sanktion entspricht, z.B. die Pflicht des Souveräns alljährlich das Parlament einzuberufen, und überzeugt man sich, dass auch die Normen des bürgerlichen und des Strafrechts für sehr viele nicht erst dadurch wirksam werden, dass sie für den Fall ihrer Übertretung Schadensersatzpflicht oder Strafe zu besorgen haben, sondern weil überaus wirksame, wenn auch unsichtbare, seelische Mächte, Rücksichten religiöser, ethischer, gesellschaftlicher Natur die Befolgung dieser Normen von ihnen erheischen.“[23]
Naturrecht und Völkerrecht
Im religiös christlichen und dann im seit Hugo Grotius säkularisierten Naturrecht sah Lammasch eine entscheidende, dem rechtspositivistischen Souveränitätsdenken entgegenwirkende Stütze des Naturrechts: „In Anlehnung jener das Völkerrecht negierenden [bellizistischen] Auffassung, bot das Naturrecht ihm [dem Völkerrecht] dagegen seine stärkste theoretische Stütze. Auf diesem Grunde war es auch von Grotius aufgebaut worden, der dem alten aristotelisch-scholastischen Begriffe eine neue, vom göttlichen Recht unabhängige Stellung zuwies. (…) Freilich hat das Naturrecht seither das Ansehen verloren, das es befähigen würde, das Völkerrecht auf seinen Schultern zu tragen. (…) Auch ewig und unveränderlich kann das Recht nicht sein, wie die historische Schule und die Rechtsvergleichung gezeigt haben. (…) Nur einige oberste Grundsätze des Rechts sind aus der menschlichen Natur und aus den notwendigen Bedingungen des menschlichen Verkehrs abzuleiten.“ Auch wenn ein überspannt überzogenes Naturrecht jeden Kredit verloren habe, gilt für Lammasch, dass die „Machtgebote des Staates“ nicht mit gewissen „obersten Grundsätzen“ in Konflikt stehen dürften.[24]
Lammasch interessierte sich für die Tradition des scholastisch religiösen Naturrechts nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem „gerechten Krieg“, also für das Erbe von Augustinus, Thomas von Aquin bis hin zu den „katholischen Vorboten des Völkerrechts“ in der frühen Neuzeit, zu Francisco Suarez mit seiner Idee einer universellen „societas christiana“, einem „bonum commune omnium nationum“ und seiner Ablehnung von Prestige- und Eroberungskriegen, zum ebenfalls dem Jesuitenorden angehörenden Gabriel Vasquez mit dessen Eintreten für die Pflicht, internationale Streitigkeiten zunächst einer schiedsgerichtlichen Entscheidung zu unterziehen, oder zum Dominikaner Francisco Vittoria mit seiner scharfen Kritik am Vorgehen der spanischen Conquistadoren.[25]
Lammasch geht von einer moralisch, ethisch naturrechtlichen Sanktionierung im Völkerrecht aus: „Die innere oder ethische Macht des Rechtes tritt freilich nicht so sinnfällig hervor, wie die äußere mechanische Macht, die ihm zur Durchsetzung manu militari verhilft. Sie ist aber darum nicht minder wirksam. Was hält die meisten Menschen ab, sich fremdes Gut anzueignen oder andere Menschen, die ihnen weh getan haben, zu misshandeln? Nicht die Furcht vor der Strafe, (…)“. Überraschend stützt sich Lammasch dabei auf einen eigentlich als Rechtspositivist bekannten Strafrechtler wie Adolf Merkel, der 1885 nichtsdestotrotz in seiner „Juristischen Encyclopädie“ die „ethische Macht in erste Reihe“ gestellt habe.[26]
Ein naturrechtliches Minimum vom „richtigen Recht“, so wie ein in der jüngeren Zeit an den Rand gedrängtes Nachdenken über den „gerechten Krieg“ schien Lammasch sinnvoll, so wenn er sich auf das formale Naturrecht „mit wechselndem Inhalt“ des neukantianisch orientierten Rechtsphilosophen Rudolf Stammler beruft, auf dessen 1896 formuliertes Ideal „einer Gemeinschaft frei wollender Menschen“: „Während eine zeitlang die Gesetzgebung wie die Rechtswissenschaft von der Tendenz beherrscht war, sich von der Moral möglichst unabhängig zu stellen und die Rechtswissenschaft geradezu in der Aufzeigung ihrer Selbständigkeit, ja ihres Gegensatzes zu der Moral schwelgt, ist heute sowohl im Zivil- als im Strafrecht eine erfreuliche Umkehr in dieser Richtung eingetreten und streben beide nach ‚Ethisierung‘. Ob man das als Rückkehr zum Naturrecht, als Streben nach dem Vernünftigen, nach dem ‚richtigen‘ Recht oder als Sozialethik bezeichnet, ist für die Sache gleichgiltig.“ Lammasch reklamiert die „necessitas moralis“ auch für das moderne Völkervertragsrecht.[27]
Mit Recht haben nach Lammasch auch zwei Wiener Protagonisten der österreichischen Zivilrechtswissenschaft Leopold Pfaff und Franz Hofmann gegen die Geringschätzung des Naturrechts Stellung bezogen. Gegen die Unterschätzung des Naturrechts durch die historisch-systematische Savigny-Puchta-Pandektistik waren Hofmann und Pfaff 1877 in ihrem großen ABGB-Kommentar aufgetreten. Mit Blick auf die „natürlichen Rechtsgrundsätze“ des § 7 ABGB formulierten sie mit Bezug auf das Völkerrecht ihre These von der notwendigen und bedeutsamen „culturgeschichtlichen Erscheinung“ des Naturrechts vor dem Hintergrund barbarischer Kriegsfolgen: „Obgleich die Unterscheidung des Geltenden und des Gerechten so alt ist, als das Nachdenken des Menschen über das Recht, so hat doch erst Hugo Grotius durch sein Werk „De iure belli ac pacis“ (1625) das Naturrecht zugleich mit dem Völkerrecht als eigene Disciplinen begründet. [Es war nur consequent, daß Puchta zugleich mit dem Naturrecht auch das Völkerrecht leugnete.] Die Gräuel des damals schon mehrere Jahre wüthenden (30jährigen) Krieges zeigten [Grotius] das Bedürfniß, daß auch zwischen unabhängigen Staaten und zwar selbst im Kriege Rechtsnormen respectirt werden möchten. Diese Normen mußten selbstverständlich als unabhängig von Gesetz und Gericht gedacht und als positiv konnte hier nur der Vertrag anerkannt werden. So erklärt der Ursprung des Naturrechts zwei seiner charakteristischen Züge: die Anerkennung eines ewigen, ungeschriebenen Rechtes über aller Satzung, und die Rückführung des Inhaltes aller Satzung auf Vertrag.“[28]
Gegen die Völkerrechtsleugnung (G.W.F. Hegel, J. Austin, A. Lasson). Hat das Völkerrecht Rechtscharakter?
Während das Naturrecht in Lammaschs Sicht „die beste Stütze des Völkerrechts“ ist, so „lag im Souveränitätsbegriff oder wenigstens in seiner Überspannung die größte Schwierigkeit für seine Entwicklung“. Die aus Jean Bodins frühneuzeitlichem Souveränitätsbegriff gezogenen militanten Konsequenzen wurden zur Gefahr für das Völkerrecht: „Der Staat würde alles Recht souverän schaffen. Einzige Quelle des Rechts wäre der absolute, schrankenlose Wille der Staatsgewalt. Neben deren Gesetzen gäbe es kein Recht, also kein Gewohnheitsrecht, kein Naturrecht, kein Völkerrecht. Vor dem Willen des Staates würde der Rechtsbegriff Halt machen; denn das Prius wäre der Staat und erst aus ihm, durch ihn und in ihm wäre das Recht.“
In Hegels Staatsauffassung führt dies – so Lammasch „zur Leugnung des Völkerrechts“: „Der Staat ist nach Hegel ‚Die Wirklichkeit des substantiellen Willens … das an und für sich vernünftige. Diese substantielle Einheit ist absoluter unbewegter Selbstzweck, in welchem die Freiheit zu ihrem höchsten Rechte kommt, sowie dieser Endzweck das höchste Recht gegen die einzelnen hat, deren höchste Pflicht ist, Mitglieder des Staates zu sein.‘ [§ 258, Grundlinien der Philosophie des Rechts, herausgegeben von Georg Lasson 1911, S. 195] ‚Das Volk als Staat ist der Geist in seiner substanziellen Vernünftigkeit und mittelbaren Wirklichkeit, daher die absolute Macht auf Erden.‘ (§ 331)“
Hegel schließe deshalb für das Völkerrecht in unglücklicher Weise, dass es nur „äußeres Staatsrecht“ sein kann, dass „das Verhältnis der Staaten das von Selbständigkeiten [ist], die zwischen sich stipulieren, aber zugleich über diesen Stipulationen stehen.‘“[29]
Mit Carl Victor Fricker, Tübinger, dann Leipziger Völkerrechtsprofessor, will Lammasch den juristischen Charakter des Völkerrechts bewahren. Er zitiert aus Frickers 1872 veröffentlichter, das Souveränitätsdogma ablehnender Arbeit über „das Problem des Völkerrechts“: Wenn das Staatswohl, die Staatsräson zum „höchsten Gesetz“ stilisiert werden, „so gilt das für alle Staaten und während man in dem Rechte eine unerträgliche Schranke des einzig sein individuelles Wohl cultivirenden Staates erblickt, giebt man dieses selbe Wohl fortwährend der Gewalt preis. Ein Staat, der wirklich jenem egoistischen Prinzipe huldigte, hätte nothwendig alle andern Staaten zu Feinden und müsste ihrer Vereinigung unterliegen; er wäre ein gemeingefährliches Subject in der Gesellschaft der Staaten. So löst sich die Theorie vom Wohl als dem höchsten Gesetz der Staaten mit Nothwendigkeit selbst auf.“[30]
Der englische Rechtspositivist John Austin zieht trotz Hegels Idealismus entgegengesetzter philosophischer Position analoge, das Völkerrecht herabsetzende Konsequenzen: „In England fand die Leugnung des Völkerrechts ihre Stütze an dem unsystematischen, man möchte fast sagen unwissenschaftlichen Geist, in dem die Rechtswissenschaft als bloße Gesetzeskunde vor kurzem von den allermeisten betrieben wurde.“
Für Austin sind Rechtsnormen Imperative, die zwangsweise verpflichten: „Beim Völkerrecht scheint Austin beides zu fehlen.“ Dessen Regeln seien nur Ausdruck von „Meinungen und Empfindungen der Staaten“. Das Völkerrecht ist nach Austin allenfalls so etwas wie „positive Morality“.
Lammasch stellt Hegel und Austin das französische Staats- und Völkerrechtsdenken gegenüber: „Den geraden Gegensatz gegen Hegel und Austin stellen die französischen Schriftsteller dar. Ideale Verfassungen zu konstruieren war seit Montesquieu und Sieyès die besondere Freude der Franzosen, wie einst der Griechen. Warum sollte also nicht auch eine auf Staatsverträgen beruhende Weltverfassung möglich sein, wie sie neuestens noch [Paul] Otlet erdacht hat?“[31]
Der rechte nachhegelianische Epigone Adolf Lasson gab 1871 in seiner zum Zeitpunkt der Bismarck’schen Reichsgründung veröffentlichten Schrift „Prinzip und Zukunft des Völkerrechts“ dieses militant kriegerisch, „mit größter Brutalität“ – so Lammasch - zugunsten einer Macht- und Gewalttheorie preis. Für Lasson steht eine Pflicht der staatlichen Selbsterhaltung über allem. Lammasch zitiert aus Lasson, übrigens hier in gleichem Sinn wie Hans Kelsen drei Jahre später 1920: „‚Der Zustand der zwischen den Staaten obwaltet (ist) ein völlig rechtloser‘ ‚Das sogenannte Völkerrecht ist in Wahrheit kein Recht, ja es ist nicht einmal Moral, sondern nur Sitte, Gebrauch, Übung.‘ (S. 52) ‚Nun und nimmer kann sich der Staat einem Rechtsurteil unterwerfen.‘ (S. 53) ‚Daher herrscht von Natur zwischen den Staaten der Streit.‘ (S 23) In diesem Streit wird auch das Volk hineingezogen, dessen Interessen ‚nur zum Teil mit jenen des Staates zusammenfallen‘. (S. 31) ‚Ein Volk, welches das Fremde nicht hassen kann, ist ein erbärmliches Volk.‘ (S. 34).“ Allenfalls aus pragmatischen Gründen der Klugheit, der Staatsräson, des Machtkalküls ist der Staat vertragstreu.
Die „Pflicht zur Vertragstreue [hat] vor jener der Selbsterhaltung des Staates“ zurückzutreten. Keine Völkerrechtsnorm kann nach Lasson die unbeschränkte Souveränität des Staates, „frei über sich zu verfügen und seine Handlungen nach Notwendigkeiten seiner Lage einzurichten“, einschränken. „eine verpflichtende Kraft des Völkerrechts“ zu postulieren, ist für Lasson „Phantasterei“, „sittliche Verirrung“. Der Staat könne „niemals Untertan“ sein, „ohne dass er sich vollkommen aufgäbe und aufhörte Staat zu sein“. Lammasch wirft Lasson vor, sich zum Vorschlag zu versteigen, die „Verbreitung der staatsgefährlichen Lehre ‚pacta sunt servanda‘ unter Strafe zu stellen“. Nach Lasson „gelten mithin alle völkerrechtlichen Regeln, ‚sowohl die die Selbsterhaltung des Staates unmittelbar betreffenden, als auch die zur Regelung weniger wichtiger Verhältnisse bestimmten, nur in bedingter Weise, nämlich nur solange als ein Staat nicht seine Selbsterhaltung durch solche Bestimmungen bedroht glaubt‘. (S. 48)“[32]
Georg Jellinek: Ein Völkerrechtsrelativierer?
Einleitend zu seiner „Lehre von der Schiedsgerichtsbarkeit“ deutet Heinrich Lammasch 1914 Kritik an Georg Jellineks gelegentlicher Völkerrechtsrelativierung an: „In der Gesellschaft der Staaten, die nach dem Grundsatze der Koordination geordnet ist, gibt es keinen solchen den Staaten kraft äußerlicher Autorität übergeordneten Gesetzgeber, Richter und Vollstreckungsbeamten. Daraus folgt aber keineswegs, dass diese Gesellschaft eine anarchische, der Ordnung unfähige wäre. (…) Darum ist Jellineks Bezeichnung des Völkerrechts als eines anarchischen völlig verfehlt. Dagegen auch Oppenheim, Zukunft des Völkerrechts, 14. Anarchie und Recht sind Gegensätze.“[33]
Zum juristischen Rang des Völkerrechts hat Georg Jellinek – seit Wiener Berufungsverfahren um 1890 auch persönlicher Konkurrent von Lammasch – angemerkt: „Über die Möglichkeit und Dasein des Völkerrechtes ist viel gestritten worden. Selbstverständlich wird es von denjenigen, die ausschließlich mit den alten civilistischen Schablonen an das Problem herantreten, verworfen. Die letzte Entscheidung über sein Dasein liegt aber bei den Gemeinwesen, für welche es gelten soll, bei den Staaten.“
In der Tat hielt Jellinek, der nicht zu den „Völkerrechtsleugnern“ zu zählen ist, wenig von einer dichten Regulierung durch völkerrechtliche (Schiedsgerichts-) Normen, wenn er 1900 in der „allgemeinen Staatslehre“ davon spricht, dass eine solche den Fortschritt in der Staatengemeinschaft, der durch nationale defensive und offensive Einigungskriege erzielt worden ist, verhindert hätte. Nach Jellinek sind weder die Lücken im Staatsrecht, und auch nicht jene noch größeren im Völkerrecht problematisch, „weil das System des Völkerrechts noch viel weniger der Geschlossenheit fähig ist, als das des Staatsrechtes“. Die „Fortbildung des Völkerrechts“ hat nach Jellinek gerade „die Möglichkeit eines Widerstreits der Staaten“ zur Voraussetzung, „als dessen Resultat neues Recht erscheint“: „Die durch Rechtssätze nur in geringem Maße einschränkbare auswärtige Politik bezeichnet das weite Gebiet, auf dem die faktische Macht entscheidet und die Interessen der verschiedenen Staaten Kämpfe aller Art – nicht etwa blos kriegerische – führen, mit einander Waffenstillstände eingehen, unter einander sich auf kürzere oder längere Dauer verbinden. (…) Eine lückenlose, jeden Streit durch bereitstehende Rechtsregeln entscheidende zwischen- oder gar überstaatliche Ordnung würde bei der heutigen Weltlage und in absehbaren Zeiten das Ungesunde, das Veraltete und Überlebte in der Staatenwelt konserviren und damit jeden gedeihlichen Fortschritt unmöglich machen. Man denke nur an die großen Kriege in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Wären diese geschichtlichen Kämpfe, für deren Beurteilung kein Rechtssatz vorhanden war, durch irgend eine Rechtsnorm und irgend einen Richter zu schlichten gewesen, so hätte der Spruch nur zu Gunsten des Bestehenden als des Rechtmäßigen ausfallen können, und Deutschland und Italien wären geographische Begriffe geblieben, die Staaten der Balkanhalbinsel (mit Ausnahme Griechenlands) wären weiterhin türkische Provinzen, die spanische Misswirtschaft auf Kuba und den Philippinen wäre konservirt worden!“
Weder die italienische (1859/1866) noch die deutsche Nationaleinigung (1866/1871) waren nach Jellinek im Wege völkerrechtlicher Schiedssprüche erreichbar gewesen, die militärische Auseinandersetzung hätte entscheiden müssen: „Die Staatengemeinschaft ist daher rein anarchischer Natur, und das Völkerrecht, weil einer nicht organisierten und daher keine Herrschermacht besitzenden Autorität entspringend, kann füglich als ein anarchisches Recht bezeichnet werden, was zugleich seine Unvollkommenheiten und Mängel erklärt.“[34]
Gegen Erich Kaufmanns „Machttheorie“
Ausführlich setzte sich Lammasch zwischen 1914 und 1917 mit der offenen Einführung von
Machtkriterien in das Völkerrecht durch Erich Kaufmann auseinander. Kaufmann, der 1917 auch „Bismarcks Erbe in der Reichsverfassung“ gegen parlamentarisch demokratische Reformideen verteidigen sollte, und der 1921 gegen den „metaphysikfreien, abstrakten Formalismus und den transzendentalen Rationalismus und Intellektualismus“ der neukantischen Rechtsphilosophie auftreten sollte, verleihe dem zynischen Satz „Nur der darf, der kann!“ scheinbar rechtswissenschaftlichen Glanz, um damit ein „Völker-,recht‘“ zu installieren, das diesen Namen nicht verdient.[35]
Nach Lammasch steht Kaufmanns umstrittene Schrift „Das Wesen des Völkerrechts und die clausula rebus sic stantibus“ (1911) im ideologischen Sog von imperialistischen Ideologen wie Heinrich Treitschke („Politik“, Leipzig 1897) und Friedrich von Bernhardi („Deutschland und der nächste Krieg“, Stuttgart 1912).[36]
In deren Sinn lehrt Kaufmann, dass „‚der Staat über seinen Verträgen stehen‘ muss, dass das völkerrechtliche Vertragsrecht ‚seine Grenze hat an dem Rechte der Staaten, Staat zu sein und zu bleiben solange sie es können: an ihrem Selbsterhaltungsrechte‘. (S. 182) ‚Das Grundrecht der Staaten auf Selbsterhaltung, auf dem auch alles Vertragsrecht beruht, ist über allen Verträgen bestehen geblieben.‘ (S 193) Es berechtigt auch zu ‚vertragsaufhebenden Rechtshandlungen‘ (S. 199), mit welchem Euphemismus Kaufmann [so Lammasch] das bezeichnet, was die undiplomatische Sprache Vertragsbruch nennt. Vertragstreue ist ihm nur ein ‚subordinationsrechtliches Vorurteil‘ (S. 205), dessen Bruch er durch den Hinweis auf Ranke, Hegel und Bismarck, besonders auf des letzteren ‚scharfe Erfassung der staatlichen Pflicht zum Egoismus‘ (S. 27) rechtfertigt.“
Lammasch verweist auf die lange Tradition akzeptierter Vertragstreue. Grotius und Pufendorf begründeten die völkerrechtliche Vertragstreue. Kant hat in den „metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre“ die „Pflicht, Verträge zu halten, als kategorischen Imperativ“ postuliert. Selbst Thomas Hobbes, der Ideologe des fürstlichen Absolutismus, hatte das Pacta sunt servanda-Prinzip anerkannt: „Auch aus dem Wesen der Souveränität kann für Staatsverträge eine Ausnahme von der allgemeinen Pflicht der Vertragstreue nicht abgeleitet werden, ebensowenig, wie es möglich ist, daraus die Leugnung des Rechtscharakters der völkerrechtlichen Normen im Allgemeinen zu deduzieren. Gerade jene Schriftsteller, die den modernen Souveränitätsbegriff ausgebildet haben, sind mit größter Entschiedenheit für die Pflicht der Vertragstreue eingetreten, so zunächst Bodinus.“
Nach Lammasch vertritt die überwiegende Mehrheit der völkerrechtswissenschaftlichen Zunft den Grundsatz der Vertragstreue: „Nur über die Frage herrscht Meinungsverschiedenheit, ob, bezw. welche Einschränkungen und Ausnahmen der Grundsatz zulasse oder sogar erfordere. Die drei hauptsächlichsten dieser Beschränkungen sind die der Selbsterhaltungspflicht des Staates und des Notstandes sowie die sogenannte Clausula rebus sic stantibus“.[37]
Mit Verweis auf Emanuel Ullmann, seinen Innsbrucker Vorgänger in der Straf- und Völkerrechtslehre, widerspricht Lammasch Kaufmanns jedem Staate zugeschriebenen „Recht der Selbsterhaltung als ein alle Verträge durchbrechendes Recht“: „Damit ist aber negiert, was man seit Kant als den allgemeinen Zweck des Rechts ansieht, die Koexistenz jener Individuen zu ermöglichen, für die das Recht gilt, hier als die Koexistenz der Staaten. Nur derjenige kann die Selbsterhaltung als oberstes und einziges Grundrecht des Staates auffassen, der das Existenzrecht jedes anderen Staates geringer einschätzt als das des eigenen, also überhaupt das Völkerrecht verneint.“
Für Kaufmann scheint „der Krieg ‚die letzte Norm‘ [zu sein], ‚die darüber entscheidet, welcher der Staaten Recht hat‘ (S. 153), weil der Krieg einen ‚Rechtsnachweis‘ erbringt. (S. 179).“ Mit einem 1912 veröffentlichten Beitrag des pazifistisch liberaldemokratischen Göttinger Rechtsprofessors Carl Ludwig von Bar „zur Kodifikation des Völkerrechts“ schließt Lammasch, „dass die Betrachtungsweise E. Kaufmanns nicht dem Gebiete des Rechts angehört, sondern [dem] der Politik“. Für Lammasch ist Kaufmanns „Machttheorie“ die „Verirrung einer der Gewalt gegenüber willfährigen Theorie“, Lammasch sarkastisch: „Wie haben wir es doch so herrlich weit gebracht, seit jenen Dunkelmännern des finsteren Mittelalters, die von Augustinus bis Suarez als Grundbedingungen für das Recht zum Kriege eine justa causa und eine recta intentio forderten!“ Nach Kaufmann gibt es keine Brücke zwischen Pazifismus und Völkerrecht. Für Kaufmann ist, wie der Lammasch gleichgesinnte Walther Schücking hervorhebt, der „siegreiche Krieg“ das „soziale Ideal“ schlechthin.[38]
Ottfried Nippold, Lammaschs Schweizer pazifistischer Bündnispartner, würdigte 1920 in der Lammasch-Gedenkschrift dessen Verdienst, der „Auffassung von Erich Kaufmann entgegen [getreten zu sein], „dass der Sieg ein ‚Rechtsnachweis‘ sei, und dass man den Krieg also mit einem Prozess vergleichen könne. Den geschichtlichen Machtentscheidungen wohne nicht immer die Gerechtigkeit inne; es gelte das mannhafte Wort Catos: ‚Victrix causa Diis placuit, sed victa Catoni‘.“[39]
Erich Kaufmanns Plädoyer zugunsten einer exzessiven Anwendbarkeit der „clausula rebus sic stantibus“ widerspricht Lammasch unter Berufung auf den Wiener Bürgerlichrechtler Leopold Pfaff, der 1898 darauf aufmerksam gemacht hat, dass Hugo Grotius der erste gewesen ist, der sich „gegen die Lehre aussprach, dass Rechtsgeschäften (allen oder gewissen) und insbesondere Verträgen die clausula rebus sic stantibus inhäriere“.[40]
Jüngst vermehrte Stimmen für die Umstandsklausel stünden im Widerspruch zur Völkerrechtspraxis. Das „positive Völkerrecht“ – so Lammasch – weiß „nichts von ihr. Sie ist nicht nur in keinem ausdrücklich vereinbarten Rechtssatze ausgesprochen, sondern sie lässt sich auch aus der konstanten Übung der Staaten, aus dem sogenannten Gewohnheitsrechte nicht nachweisen. (…) Ja in neuester Zeit wurde die Klausel durch ein von den europäischen Großmächten unterzeichnetes Protokoll, wenn auch nicht ausdrücklich, so doch implicite abgelehnt.“ (Hinsichtlich der Verpflichtungen Russlands in Bezug auf das Schwarze Meer laut Pariser Frieden 1856!)[41]
Die Umstandsklausel liefert „den einen Vertragspartner völlig der Willkür des andern aus, steht daher im schärfsten Widerspruch mit dem Zwecke des Vertrages, die Verhältnisse für die Zukunft sicherzustellen“. Sie bietet – Lammasch stützt sich hier auf den deutschen Staatsrechtler Bruno Schmidt „‚dem bösen Willen die Möglichkeit‘, ‚den frivolsten Rechtsbruch zu begehen, ohne ihn doch brutal als solchen zugeben zu müssen‘“.[42]
Trotzdem formuliert Erich Kaufmann in Lammasch irritierender Weise, dass „alle Beschränkungen, die einzelne Autoren [der Klausel] haben zuteil werden lassen wollen, weder theoretisch zu rechtfertigen“ sind, noch „Aussicht auf Berücksichtigung in der Staatenpolitik“ haben. Lammasch scheint, dass Kaufmann aus der Klausel ein offenes „Recht auf Aufsagung der Vertragstreue“ ableiten will.[43]
Lammasch bemüht deshalb in seiner Kaufmann-Kritik auch Völkerrechtsautoritäten wie Philipp Zorn oder Heinrich Triepel: „Aus all diesen Gründen kann ich daher Bruno Schmidt nur vollkommen zustimmen, wenn er sagt: ‚Das Material ist so ungenügend wie nur möglich, der Annahme einer stillschweigenden gewohnheitsrechtlichen Sanktionierung der Klausel irgendwelche Stütze zu gewähren; weit entfernt, für eine solche zu sprechen, vermag es umgekehrt nur aufs entschiedenste wider sie zu zeugen.‘ Auch außer Schmidt haben sich in jüngster Zeit einzelne Stimmen gegen die Klausel erhoben, so Zorn [Reich und Reichsverfassung, 1895], Triepel [Völkerrecht und Landesrecht, Leipzig 1899], Olivi.“[44]
Zur „Sonderstellung der Bündnisse“, zum Recht auf den Separatfrieden
Ein Recht, „Verträge unter gewissen Umständen zu brechen“, soll – so Lammasch gegen Kaufmann – nie anerkannt werden, mit einer Ausnahme: „Nur für eine Gattung von Verträgen, für die Bündnisse, beansprucht [die „Umstandsklausel“] mit Recht ihre volle Bedeutung.“
Lammasch begründet das Recht auf Auflösung von Militärbündnissen und damit auf den Abschluss eines Separatfriedens mit dem Umstand, dass es sich hierbei meist um weitreichende Verpflichtungen „zu einem künftigen Krieg“ handelt. Auf zukünftige Konflikte ausgerichtete Bündnisverträge stünden nicht auf derselben Ebene wie etwa die überwiegende Mehrzahl der internationalen (Verwaltungs-) Verträge, etwa jene im Sozialrecht: „Der Staat, der mit einem anderen ein, wenn auch nur defensives Bündnis schließt, macht dadurch sein Schicksal von allen Sprüngen abhängig, die dessen Politik machen wird, übernimmt damit die Mithaftung für dessen Politik. Das widerstreitet aber seiner Souveränität. Krieg führen kann ein Staat nur wegen seiner unmittelbaren, wegen seiner ureigenen Interessen.“
In seinen Herrenhausreden von 1917/18 begründete Lammasch den möglichen Abschluss eines österreichischen Separatfriedens mit dem Umstand, dass die defensiven Verteidigungskriegsziele von 1914 ohnedies schon erreicht und damit die Bündnispflicht erloschen sei. Mit dem Wegfall des „casus foederis“ fällt auch die „Fortdauer der Bündnispflicht während des Krieges, hinsichtlich der Berechtigung eines Sonderfriedens.“
Lammasch geht vom „Ultra posse nemo tenetur“-Prinzip aus: „Über die Gebrechlichkeit der Allianzen hilft kein Vertrag hinweg, auch wenn er ausdrücklich den Abschluss eines Separatfriedens verbietet. (…) Dass Bündnisse so gebrechlich sind, ist übrigens nicht zum Nachteile der Menschheit. Mancher Krieg unterblieb, weil der Verbündete den casus foederis nicht anerkennen wollte; mancher Krieg wurde verkürzt, weil einer der Alliierten vertragswidrig einen Sonderfrieden schloss. Mag auch sein Verbündeter ihm dafür gezürnt haben; die Menschheit und die Weltgeschichte verzeihen es ihm höchst bereitwillig. Je weniger man auf Bündnisse für den Kriegsfall zählen kann, desto besser ist der Friede gesichert.“
Wird für Bündnisverträge das „Pacta sunt servanda“ ausgeschaltet, „so kann dieser Grundsatz um so unverbrüchlicher hinsichtlich aller anderen internationalen Verträge aufrecht erhalten werden. Diese anderen Verträge, insbesondere der Verwaltungsverträge im weitesten Sinn des Wortes (mit Einschluss der Rechtshilfeverträge), die Verträge über die Anrufung schiedsgerichtlicher Entscheidungen und über die Ausführung von Schiedssprüchen oder über die Einholung von Gutachten gemischter Kommissionen und über die Berücksichtigung dieser Gutachten sind es, auf denen das Völkerrecht im Wesen beruht.“[45]
Lammaschs Auffassung zur Auflösbarkeit (militärischer) Bündnisse, zum Recht auf Separatfrieden stieß nicht nur auf großen politischen Widerspruch, sondern auch auf rechtswissenschaftliche Kritik. Der Kölner Völkerrechtler Fritz Stier-Somlo meinte 1918: „Entweder sind alle Verträge unverbrüchlich oder es kann auf alle der Satz von den veränderten Umständen zur Anwendung gelangen.“ Alfred Verdross, kurz vor seiner Wiener Völkerrechtshabilitation stehend, erklärte Lammaschs Sicht für allenfalls rechtspolitisch erwünscht: „Dem kann nicht beigepflichtet werden, so sehr es auch de lege ferenda zu begrüßen wäre, wenn die demokratischen Ideen Lammaschs siegen würden. Für eine Betrachtung de lege lata ist aber kein juristischer Grund ersichtlich, dass die Bündnisse grundsätzlich anders als die übrigen Verträge zu behandeln wären oder dass sie gar ‚nicht verbindlich’ seien.“
Otto Mayer, der Begründer der deutschen Verwaltungsrechtswissenschaft als einer rein juristischen Disziplin, argumentierte 1918 grobschlächtig von einem alldeutschen Standpunkt aus gegen Lammasch, dessen Vorschläge zum Nachkriegsvölkerrecht, insbesonders auch zum Mediationsrecht der Neutralen „der guten Sache des künftigen Weltfriedens schwerlich von Nutzen“ sein würden. Auf den ersten Blick könne man glauben, Lammasch wolle mit seiner Bündnisauffassung den „italienischen Mohren“, dessen „sacro egoismo“ und dessen Bruch des „Dreibundes“ rechtfertigen. Offensichtlich sei aber der deutsche Bündnispartner gemeint, die Idee eines österreichischen Separatfriedens, der Ausstieg aus dem Kriegsbündnis mit Deutschland: „Aber die Spitze wendet sich alsbald von diesem Falle ab: die behauptete Unverbindlichkeit gilt ‚auch hinsichtlich der Fortdauer der Bündnispflicht während des Krieges hinsichtlich der Berechtigung zum Abschluss eines Sonderfriedens‘. Was mag der Verfasser wohl im Auge haben? Wahr ist natürlich, dass Kriegsbündnisse ganz besonders ernst und bedeutungsvoll sind für beide Teile.“ Lammasch halte offenbar nichts von der „Treue“ zwischen den Völkern.[46]
Lammasch gegen die bellizistische Völkerrechtsperspektive von C. Bornhak und P. Eltzbacher
Lammasch verurteilt Versuche, „Überschreitungen der Normen des Kriegsrechts“ auf ein diffuses „Recht der [verhältnismäßigen] Repressalien“ zu gründen. Bemühungen, dies in Haag zu begrenzen, seien gescheitert. Völkerrechtswissenschaftler – wie die Berliner Professoren Paul Eltzbacher („Totes und lebendes Völkerrecht“, München 1916) und Conrad Bornhak („Der Wandel des Völkerrechts“, Berlin 1916) glauben sogar, dass das Völkerrecht, wie es bis zum Juli 1914 bestanden hat, „vernichtet worden ist, so dass ‚jetzt die Staaten sich ohne rechtliche Bindung frei bewegen können‘, und ‚der Urstand der Natur wiedergekehrt ist‘“.
Lammasch widerspricht Eltzbachers These, aus (gewohnheitsmäßigen) Rechtsverletzungen könne konkludent durch „usus contrarius“ bzw. „mutuus dissensus“ neues Recht entstehen. Dieser Sicht, die sogar zentrale Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung gefährdet „kann nicht entschieden genug widersprochen werden“: „Daraus, dass Rechtsverletzungen stattfinden, folgert Eltzbacher für das Völkerrecht: ‚Diese sind zunächst nichts als Rechtsverletzungen; sie häufen sich aber dann mehr und mehr und werden schließlich so zahlreich und allgemein, dass dadurch der verletzte Rechtssatz die Geltung verliert. In den Rechtsverletzungen ist nach und nach ein Umschwung der allgemeinen Rechtsüberzeugung zum Ausdruck gekommen. Für die Zukunft ist nicht anzunehmen, dass der Rechtssatz, gegen den die Verstöße erfolgt sind, überhaupt noch befolgt werden wird. Wenn künftig noch ebensolche Handlungen stattfinden, so sind es keine Rechtsverletzungen mehr, sondern rechtmäßige Handlungen.‘ (Seite 44).“
Eltzbacher und Bornhak gefährden nach Lammasch mit solchen „kühnen Sätzen“ den ganzen „Fortschritt, den das Völkerrecht seit dem Wiener Kongress gemacht hat“: „Noch weniger kann man annehmen, dass, wenn zwei Staaten gleichmäßig eine zwischen ihnen vereinbarte Norm verletzen, sie etwa durch dieses konkludente Verhalten die übereinstimmende Willenserklärung abgäben, diese Norm außer Kraft zu setzen. Die Verletzung eines Völkerrechtssatzes bedeutet keineswegs dessen Aufhebung durch usus contrarius, auch dann nicht, wenn sie wiederholt geschieht. Die im Haag abgeschlossenen kriegsrechtlichen Konventionen bestimmen geradezu ausdrücklich, dass sie nur durch Kündigung aufgehoben werden können. (…) Eine Außerkraftsetzung dieser Normen durch mutuus dissensus ist damit ausgeschlossen. Damit ist die Auffassung Bornhaks verneint, dass alle Vertragsnormen, die von beiden Seiten verletzt wurden, dadurch eo ipso ihre Geltung verloren haben. Das behauptet Bornhak insbesondere vom Verbote der Stickgase, vom Verbote der Bombenwürfe ohne militärischen Zweck, vom Verbote der Beschießung unverteidigter Küstenplätze.“
Sämtliche dieser „für tot erklärten Verbote“ bleiben nach Lammasch „weiterhin Bestandteile geltenden Völkerrechts“. Eltzbacher und Bornhak folgen mit ihrer These der rücksichtslosen Machtpolitik Heinrich Treitschkes, wonach „in diesem Kriege aus tausend Verletzungen des Völkerrechts neues Völkerrecht geboren wurde“: „Entschieden Widerspruch erfordert auch die Einleitung Bornhaks mit ihren tönenden Sätzen, insbesondere dem, dass ‚alle großen Entwicklungsperioden der Geschichte durch Kriege bestimmt sind‘.“[47]
Belgische Neutralität 1914: Josef Kohler – „Beruf der Neutralen“
Lammasch demaskiert – so Otfried Nippold 1920 – Josef Kohlers Versuch, die deutsche Verletzung der belgischen Neutralität mit einer „Theorie des Notstandes“ zu rechtfertigen. Der Berliner Rechtsprofessor Josef Kohler, rechtsphilosophisch einen reaktionären mit Nietzsche-Motiven aufgemachten Neuhegelianismus vertretend, ein scharfmachender Gegner der sozialistischen Arbeiterbewegung, hat nicht nur jede Menschenrechtsposition als „weltgeschichtliche Verherrlichung des Stallknechts“ verächtlich gemacht. Er hat etwa nach Kriegsausbruch 1914 auch den in Cambridge International Law lehrenden Lassa Oppenheim aus der Redaktion der „Zeitschrift für Völkerrecht“ entfernt.[48]
In seiner „Theorie des Notrechts“ hat Kohler 1915 die belgische Neutralität zu einer zu vernachlässigenden Größe herabgewertet. Der deutsche Truppendurchmarsch sei gleichsam in Ausübung einer „Staatsservitut“ erfolgt, ganz abgesehen vom ohnedies fragwürdigen belgischen Neutralitätsstatus. Nur ein Durchzug durch Belgien, das seinen Neutralitätspflichten u.a. wegen Absprachen mit England nicht nachgekommen sei, hat nach Kohler Deutschland „in seinem Existenzkampf“ retten können. Deutschland hat nicht nur kein „entschuldbares Unrecht begangen, sondern es hat gehandelt in Ausübung des Notrechtes, und zu gleicher Zeit hat es eine heilige Pflicht gegen sich selbst und gegen die Kulturwelt erfüllt“.
Nach Kohler hat dieses deutsche Notrecht im Sommer 1914 ganz unabhängig davon gegriffen, ob dagegensprechend ältere völkerrechtliche Verpflichtungen vorgelegen haben oder nicht: „Der Staat, der um seine Existenz zu kämpfen hat, handelt recht, wenn er in seinem Kampfe in die Rechte anderer Staaten eingreift, auch in die Rechte der Neutralen, denn seine Existenz geht vor: für diese ist alles und jedes zu opfern. (…). Natürlich gilt dies auch dann, wenn der Staat früher Versprechungen gemacht und Abkommen getroffen hat. Auf die Lehre der clausula rebus sic stantibus ist hier nicht einzugehen.“ Im Fall des deutschen Einmarsches in Belgien ist nach Kohler „das Notrecht am allersichersten, denn hier sind nicht zwei gleichberechtigte Werte in Kollision, sondern ein weltgeschichtlich großes Recht gegenüber einem kleinen, partiellen.[49]
Lammasch sieht – so wie dann 1920 sein 1926 in Wien habilitierter Fachkollege Josef L. Kunz – im deutschen Überfall auf Belgien ein Völkerrechtsdelikt. Lammasch notiert zu Kohlers Geringschätzung der belgischen Neutralität als einer „accidentellen“ Nebensache knapp: „Auf der einen Seite steht [Kohler] das Recht des deutschen Reiches zu leben, auf der andern ein ‚einzelnes, accidentelles Lebensgut‘ Belgiens. Nicht ‚zwei gleich berechtigte Werte stehen‘ für ihn in Kollision, sondern ‚ein unendliches, gegenüber einem endlichen und hier muss offenbar das endliche weichen‘. Wen, der nicht ohnedies überzeugt ist, vermöchte dieses Argument zu überzeugen?“[50]
Lammasch hielt es angesichts der dramatischen Kriegsfolgen für notwendig, die von Grotius und Pufendorf eingeklagten, erstmals im Pariser Krimkriegsfrieden 1856 festgeschriebenen Vermittlungsrechte, also den „Beruf der Neutralen“ im Sinn der Haager Friedensakte, der Konventionen über die Rechte und Pflichten der Neutralen im Land- und Seekrieg, entscheidend auszubauen. Die Neutralen sollen nicht nach Art von „Pfahlbürgern“ abseitsstehen, wenn „hinten in der Türkei die Völker aufeinander einschlagen“: „Von alters fasste man den Beruf der Neutralen in das eine Wort zusammen: ‚Stillesitzen‘. Diese rein negative Auffassung ist allerdings seither dadurch überwunden worden, dass das neuere Völkerrecht eine Reihe positiv formulierter Rechte und Pflichten der neutralen Mächte aufgestellt hat, die teils in geschriebenen, zum größten Teil allerdings in ungeschriebenen und daher vielfach umstrittenen Normen zum Ausdruck gelangt sind.“
Die Pflicht der Kriegsparteien, sich einem neutralen Mediationsversuch zu stellen, soll ausgebaut werden: „Sobald der eine oder der andere der beiden Streitteile die Diskussion ablehnt, müssen sich die Neutralen mit ihrem Vermittlungsanerbieten zurückziehen, allerdings mit dem Vorbehalt, es später wieder zu erneuern. Ein direktes Mittel, ihrem Vorschlage, die Streitteile sollten nicht sofort zu den Waffen greifen, sondern noch weitere Versuche friedlicher Beilegung ihres Konfliktes zu unternehmen oder zulassen, Beachtung zu schaffen, fehlt im System der Haager Friedensordnung. Ein solches direktes Mittel könnte wohl auch nur darin bestehen, dass der zur Vermittlung geneigte Staat droht, wenn sein Antrag abgewiesen wird, sich dem Gegner des ablehnenden Staates anzuschließen und ihn im Kampfe gegen den anderen Streitteil zu unterstützen.“
Das Vermittlungsangebot der Neutralen dient aber auch der „Pazifikation“ durch Zeitgewinn, um die Eskalationslogik von Ultimaten zu entspannen, nach dem Grundsatz „Time is peace!“, auch wenn derartige Angebote mit dem Argument, das Moment des Überraschungsangriffes, der Vorteil einer vollzogenen Mobilisierung, eines abgeschlossenen Truppenaufmarschs, eines Rüstungsvorsprungs ginge verloren, zurückgewiesen werden.
Lammasch diskutiert Probleme einer (nicht) bewaffneten, einer strikten bzw. einer differenzierenden Neutralität: Können die Neutralen gegenüber der vermittlungsfreundlichen Partei unterstützungsbereiter sein, indem sie etwa Warenlieferungen von Seite ihrer Bürger an diesen Staat zulassen? Oder sind sie nach der Haager Konvention verpflichtet, „beide Kriegsparteien in dieser Beziehung gleichmäßig zu behandeln“? Kann ein Bund der Neutralen von „jener Partei, die sein Anerbieten [auf Vermittlung] ablehnt, „vollen Ersatz alles Schadens begehren“, der ihm und seinen Bürgern durch den Krieg entsteht?
Die Bündnisfreiheit muss angesichts der Dimension des imperialistischen Kriegstreibens durch einen „Bund der Neutralen“ – die skandinavischen Länder, Belgien, Niederlande, Schweiz, Spanien, Griechenland oder – wie Lammasch zu Jahresbeginn 1915 noch hoffte – Italien gestärkt werden, sodass „ihre Stimme umso sicherer gehört wird. In einem solchen Bunde einer zunächst unbewaffneten, unter Umständen aber zu bewaffnenden Neutralität läge vielleicht auch eine wirksamere Bürgschaft für die Erhaltung der eigenen Neutralität der Bundesmitglieder als in Garantieverträgen von seiten der kriegslustigen Staaten. (…) Das Hauptziel des Bundes würde es sein, Kriegen durch die dargestellten Mittel unter den anderen Mächten vorzubeugen. Sollte ihnen dies nicht immer gelingen, (…) dann wird es, wie in dem gegenwärtigen Kriege, auch in Zukunft der Beruf der Neutralen sein – einzeln und zusammen – ihre Kräfte für rasche Widerherstellung dauerhaften Friedens einzusetzen, (…).“
Lammasch wandte sich gegen Heinrich Treitschkes borussische Verachtung der „kleinen Staaten“: „Während Treitschke den ‚Kleinen‘ geradezu das Recht absprach, über Völkerrecht auch nur mitzureden, da er es als ‚großes Unglück‘ bezeichnete, ‚dass Belgien und Holland solange die Heimat der Völkerrechtswissenschaft gewesen sind‘, [Politik, Leipzig 1898, II, 548] dürfte in Wahrheit ein solcher Bund der Kleineren der Eckstein werden für einen rechtlich geordneten Aufbau der Staatengemeinschaft [also eines Völkerbundes – Anm.] Die Mitglieder dieses Bundes würden untereinander weitgehende Schiedsgerichtsverträge abschließen, denen nach und nach auch andere Mächte zunächst im Verhältnisse mit jenen beitreten würden. Aber bald würden diese ‚Großmächte‘ einsehen, dass auch sie ‚ihrer Würde nichts vergeben‘, wenn sie auch untereinander diesen Weg betreten.“
Vermitteln, schlichten ist die Aufgabe der Neutralen: „Nicht ‚stillesitzen‘ also ist der Beruf der Neutralen, sondern tätig sein, sehr tätig sein, wirksam zu gestalten und zu bewahren. In dieser Weise können die von Treitschke so verachteten ‚Kleinen‘ den Großen den größten Dienst leisten.“[51]
„Die Friedensbewahrung“ 1917
Heinrich Lammasch fordert 1917, dass von den Haager Konferenzen ausgehend „das 1899 ruhmvoll begonnene, und 1907 schwächlich fortgesetzte Werk“ vertieft wird: „Drei Mittel sind es, die die Haager Konferenzen zu dem Zwecke der friedlichen Beilegung von Differenzen unter den Staaten in Aussicht genommen haben: Schiedsgerichte, internationale Untersuchungskommissionen und Vermittlung. Die Konferenzen haben sich damit begnügt, dieses Mittel den Staaten zu empfehlen, den Wunsch ihrer Anwendung auszusprechen. Nirgends aber haben sie ihren Gebrauch zur Pflicht gemacht. Dieser weitere Schritt wurde besonderen Vereinbarungen zwischen je zwei Staaten oder zwischen kleineren Gruppen von Staaten vorbehalten.“[52]
In einem Rückblick auf die zehn Jahre zurückliegende Eröffnung der zweiten Haager Friedenskonferenz bedauerte Lammasch 1917, dass die Haager Abrüstungsbemühungen sowohl 1899 als auch 1907 gescheitert sind. Die Bemühungen um „Humanisierung des Krieges“, was aber angesichts der Gewaltspirale des Krieges einer zynischen „Quadratur des Kreises“ gleichkommt, zumal „Repressalien nicht ausgeschlossen wurden, so dass sie auch als Gegenrepressalien zulässig blieben“, sollten weiterverfolgt werden, zumal immerhin ein „ziemlich detailliertes Reglement für den Landkrieg und eine Reihe von Vereinbarungen über gewisse Grundsätze des Kriegsrechts“ zustande gekommen waren. Aber: „Weit aussichtsreicher ist der Versuch, den Krieg einzuschränken, als der, ihn zu vermenschlichen.“, - so durch Ausbau der Schiedsgerichtsbarkeit (institutionell, permanent, obligatorisch, unter Einbezug auch der großen Streitfälle), durch Einführung „des neugeschaffenen Rechtsinstituts der internationalen Untersuchungskommissionen“.[53]
Lammasch solidarisiert sich 1917 mit den Strömungen einer – wie er dies sieht – realistischen Friedensbewegung, die vom utopischen Plan, den Krieg unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen abzuschaffen, von nicht umsetzbaren bedingungslosen Abrüstungsplänen ablasse, stattdessen vielmehr auf die evolutionäre Fortentwicklung des Haager Friedenswerkes setzt: „Dieser Pazifismus hat auch im Kriege nicht Schiffbruch erlitten.“[54]
Lammasch erwähnt namentlich drei Pazifisten und Rechtsprofessoren, die das Haager Friedenswerk in Richtung auf einen Völkerbund[55] fortbilden können: Alfred Hermann Fried,[56] Otfried Nippold[57] und Walther Schücking[58].
So wie Karl Kraus hat auch Otfried Nippold Heinrich Lammasch im Frühjahr 1918 gegen die kriegspsychotische Pressehetze, gegen die Stimmungsmache des „pangermanistischen“ Historikers Heinrich Friedjung verteidigt: „So wie in Deutschland [Friedrich Wilhelm] Förster wie ein einsamer Baum in der Wüste dazustehen scheint, so ist in Österreich Lammasch einer der wenigen, die man dort als Vorkämpfer des Rechtsgedankens bezeichnen kann. (…) Der Name Lammasch bedeutet daher für das heutige Österreich in der Welt einen moralischen Machtfaktor. Er ist für Österreich mehr wert als die sämtlichen österreichischen Armeekorps mit ihren Generälen und Armeekorps zusammengenommen. Denn an den Namen Lammasch knüpft sich alles das, was ich als die Existenzberechtigung Österreichs in der künftigen Völkergemeinschaft bezeichnen möchte.“[59]
Heinrich Lammasch hatte Anfang 1918 in seiner dritten Herrenhausrede nicht nur für die Lösung des deutsch-österreichischen Kriegsbündnisses, für einen raschen Separatfrieden, für eine Kompromisslösung in der Elsaß-Lothringen- und in der Trentino-Frage geworben, sondern auch gegen die deutsche imperialistische Annexionspolitik, gegen Friedrich Naumanns von Deutschland dominiertes „Mitteleuropa“-Gebilde und gegen die Ausbeutung der von den Mittelmächten okkupierten Ukraine protestiert.[60]
Gleich Lammasch verlangte Otfried Nippold 1917, dass das Völkerrecht künftig vermehrt über Zwang, über Sanktionsregeln geschützt werden muss, „dass man sich nach diesem Kriege nicht damit begnügen dürfe, die Beachtung des Völkerrechts zu sichern, sondern dass man auch reale Garantien hiefür schaffen, dass man diese Beachtung mit anderen Worten erzwingen müsse. Also an Stelle von bloßen Sicherungsmaßregeln Zwangsmaßregeln.“
Nippold übernahm auch Lammaschs Forderung nach einem „Bund der Neutralen“: „Als Zukunftspostulat bezeichnete ich die Kodifikation des gesamten Neutralitätsrechts zu Lande und zur See. Ich stellte den Satz auf, dass jede unberechtigte Schädigung der Neutralen als einem Bruch des Völkerrechts gleichstehend erachtet werden sollte.“[61]
Der während des Weltkrieges von den deutschen Militärbehörden überwachte und drangsalierte Marburger Völkerrechtler Walther Schücking, der seit 1900 gemeinsam mit seinem Göttinger Lehrer Ludwig Bar für nachhaltige Abrüstungsabkommen eingetreten war, der für die Demokratisierung des „autoritären Prinzips des deutschen Konstitutionalismus“ kämpfte, der die repressive preußische Nationalitätenpolitik gegenüber der polnischen Bevölkerung anprangerte, bedauerte 1915, dass die weitgehend militarisierte deutsche Wissenschaft in unzähligen Broschüren den Krieg statt des Friedens gerüstet und das Haager Friedenswerk nicht nur geringgeschätzt, sondern auch ignoriert hat: „Wer das Geistesleben an unseren Universitäten aus eigener Anschauung kannte, konnte freilich dadurch kaum überrascht werden. Unsereinem war es kein Geheimnis, dass die Vertreter der Geisteswissenschaften seit Jahrzehnten in Deutschland vorzugsweise nach rückwärts orientiert sind, dass z.B. für die neueren Historiker in der großen Mehrzahl die nationale Einigung im Jahre 1870/71 noch den Brennpunkt ihres Denkens ausmacht. Von diesem Standpunkt alldeutsch gefärbter nationalliberaler Gesinnungen aus, die für das Denken unserer Professoren charakteristisch sind, gab es zwischen Deutschland und dem Ausland keine geistige Brücke mehr, die man mit Erfolg hätte beschreiten können.“[62]
Die Völkerrechtswissenschaft hat die Aufgabe, „die Herrschaft des Rechtes zwischen den Staaten“ zu sichern, „nach den Worten von Kant das größte Problem der Menschengattung“.
Schücking forderte, die „friedensrechtlichen Normen über die Kriegsverhütung“ weiter auszubauen. Mit Lammasch widersprach er der Anschauung, „man könne im Kriege unter dem Gesichtspunkt des politisch-militärischen Notstandes das Völkerrecht verletzen“, zumal damit „das Völkerrecht schlechterdings negiert“ wird.
Schückings Vorschläge zu einer permanenten, fest institutionalisierten „obligatorischen Instanz für die Schiedsgerichtsbarkeit“ zur „möglichsten Vermeidung des Krieges“ lagen auf der Linie von Lammasch und Nippold. Ein künftiger, sich auf Abrüstungsabkommen stützender „Haager Staatenverband“ soll das Völkerrecht fortschreitend kodifizieren. Gleich Lammasch unterstützte Schücking die Idee zu einem Weltstaatenbund mit internationaler Exekutive. Wie Lammasch fürchtete Schücking einen deutsch dominierten, Völkerbund feindlichen „mitteleuropäischen Staatenbund“.[63]
Wie Lammasch griff auch Schücking in seiner Völkerrechtsbegründung zu Immanuel Kants „Rechtslehre“, deren § 61 er zitiert: „Den Naturzustand der Staaten in einem Staatenverein in einen gesetzlichen Zustand umzuwandeln, der im Hinblick auf die Idee des ewigen Friedens zu einem wahren Friedenszustand werden soll, dazu ist das Völkerrecht angetan.“[64]
[1] Albert Fuchs: Geistige Strömungen in Österreich 1867-1948. Nachdruck der Ausgabe von 1949, mit einem Nachwort von Friedrich Heer, Wien 1984, 265-270. Über Albert Fuchs vgl. Robert Bondy: Einleitung zu „Ein Sohn aus gutem Haus“ in: Die Alfred Klahr Gesellschaft und ihr Archiv, hrg. von Willi Weinert, Wien 2000, 211-258.
[2] Zu Lammaschs Stellung im Strafrecht vgl. Martin Schennach: Der Strafrechtswissenschaftler Heinrich Lammasch und der „Schulenstreit“ in der österreichischen Monarchie, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 42 (2020), 202-233.
[3] Stephan Verosta: Theorie und Realität von Bündnissen. Heinrich Lammasch, Karl Renner und der Zweibund (1897-1914), Wien 1971.
[4] Gerhard Oberkofler – Eduard Rabofsky: Heinrich Lammasch (1853-1920). Notizen zur akademischen Laufbahn des großen österreichischen Völker- und Strafrechtsgelehrten, Innsbruck 1993. Vgl. auch Friedrich Lehne: Heinrich Lammasch, in: Juristen in Österreich 1200-1980, hrg. von Wilhelm Brauneder, Wien 1987, 229-233 und Dieter Köberl: Heinrich Lammasch. Ein konservativer Reformer und unbeirrbarer Vorkämpfer für den Weltfrieden, in: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv Nr. 38/39 (2019/20), 123-143.
[5] Heinrich Lammasch: Die Wissenschaft und der Krieg (1914), in derselbe: Europas elfte Stunde, mit einem Geleitwort von Friedrich Wilhelm Förster, München 1919, 3-11.
[6] Heinrich Lammasch: Das Völkerrecht nach dem Kriege (Publications de Institut Nobel Norvegien III), Kristiania 1917, 32.
[7] Heinrich Lammasch: Gegen den Völkerhass (1915), in derselbe: Europas elfte Stunde (wie Anm. 5), 11-18.
[8] Vgl. Alexander Hold-Ferneck: Lehrbuch des Völkerrechts I, Leipzig 1930, u.a. IVf., 17, 47, 60, 68f.
[9] Heinrich Lammasch: Wer war der erste Pazifist? (1917), in derselbe: Europas elfte Stunde (wie Anm. 5), 18-22.
[10] Heinrich Lammasch: Vor hundert Jahren (1915 in „Arbeiter-Zeitung), in derselbe: Europas elfte Stunde (wie Anm. 5), 24.
[11] Heinrich Lammasch: Das Völkerrecht nach dem Kriege (wie Anm. 6), 182, 188f.
[12] Heinrich Lammasch: Stockholmer Verhandlungen („Arbeiter-Zeitung“ 1917), in derselbe: Europas elfte Stunde (wie Anm.5), 116-118. Vgl. zum teils mit den jeweiligen nationalen Regierungen abgestimmten sozialdemokratischen Rumpfkongress von Stockholm Peter Kulemann: Am Beispiel des Austromarxismus. Sozialdemokratische Arbeiterbewegung in Österreich von Hainfeld bis zur Dollfuß-Diktatur, Hamburg 1982, 178-180.
[13] Heinrich Lammasch: Das Völkerrecht nach dem Kriege (wie Anm. 6), 60
[14] Friedrich Wilhelm Foerster: Erlebte Weltgeschichte 1869-1953, Nürnberg 1953, 237, 312f. Vgl. Hans Wehberg: Philipp Zorn und seine Bedeutung für die Völkerverständigung, in: Friedens-Warte 28/2 (1928), 42-45.
[15] Heinrich Lammasch: Das Völkerrecht nach dem Kriege (wie Anm. 6), 3. 1887 hatte Friedrich Engels prognostiziert, dass für Deutschland ein Krieg nur mehr als „Weltkrieg“ möglich sein wird „und zwar ein Weltkrieg von einer bisher nie geahnten Ausdehnung und Heftigkeit. Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen und dabei ganz Europa so kahlfressen, wie noch nie ein Heuschreckenschwarm.“ Alle Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges werden übertroffen: „Hungersnot, Seuchen, allgemeine, durch akute Not hervorgerufene Verwilderung der Heere wie der Volksmassen“, „allgemeiner Bankrott; Zusammenbruch der alten Staaten und ihrer traditionellen Staatsweisheit, derart, dass die Kronen zu Dutzenden über das Straßenpflaster rollen und niemand sich niemand findet, der sie aufhebt.“ Friedrich Engels: Einleitung zu Sigismund Borkheims Broschüre ‚Zur Erinnerung für die deutschen Mordspatrioten. 1806-1807“, in: Marx-Engels-Werke 21, Berlin 1975, 346-351.
[16] Vgl. Heinrich Lammasch: Völkermord oder Völkerbund?, Haag 1920 33-39, auch Heinrich Lammasch: Das Völkerrecht nach Kriege (wie Anm. 6), 184-187.
[17] Heinrich Lammasch: Weiter Kriegsbereit! (1917) in derselbe: Europas elfte Stunde (wie Anm. 5), 101-105.
[18] Heinrich Lammasch: Das Völkerrecht nach dem Kriege (wie Anm. 6), 90.
[19] Werner Sombart: Händler und Helden. Patriotische Besinnungen, München-Leipzig 1915, 93.
[20] Heinrich Lammasch: Das Völkerrecht nach dem Kriege (wie Anm. 6), 88f.
[21] Ebenda, 21f.
[22] Ebenda, 24, 61. Ähnlich Walther Schücking: Die völkerrechtliche Lehre des Weltkrieges, Leipzig 1918, 4: „Denken wir uns aber einmal aus dem gegenwärtigen Kriege das Völkerrecht hinweg, wieviel grauenhafter würde dann doch noch das Bild sein. Nur der eine Satz, dass der besiegte Feind geschont wird, mag das beleuchten.“
[23] Ebenda, 62-66, 70.
[24] Ebenda, 77f.
[25] Vgl. Heinrich Lammasch: Katholische Vorboten des Völkerrechts, in derselbe: Europas elfte Stunde (wie Anm. 5), 24-35. Vgl. Alfred Verdross: Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Auflage, Wien 1963, 96-99. Vgl. zur Einschätzung der katholischen Naturrechtstradition als einer opportunistischen Unterdrückungsideologie hingegen August M. Knoll: Katholische Kirche und scholastisches Naturrecht. Zur Frage der Freiheit, Neuwied-Berlin 1968.
[26] Heinrich Lammasch: Das Völkerrecht nach dem Kriege (wie Anm. 6), 72f. Vgl. Adolf Merkel: Juristische Encyclopädie, Berlin-Leipzig 1885, 30.
[27] Heinrich Lammasch: Das Völkerrecht nach dem Kriege (wie Anm. 6), 78-80.
[28] Leopold Pfaff und Franz Hofmann: Commentar zum österreichischen allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuche I, Wien 1877, 199f.
[29] Heinrich Lammasch: Das Völkerrecht nach dem Kriege (wie Anm. 6), 80-84.
[30] Ebenda, 84f. Zitiert nach Carl Fricker: Das Problem des Völkerrechts I, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 28 (1872), 90-144, hier 104f. Zur Lammasch konträren Einschätzung von Fricker, der die Möglichkeit, das Völkerrecht als „äußeres Staatsrecht“ zu begründen, abgelehnt habe, vgl. Georg Jellinek: Die rechtliche Natur der Staatenverträge. Ein Beitrag zur juristischen Construction des Völkerrechts, Wien 1880, 46f. Dazu Jellinek zustimmend Alfred Verdross: Zur Konstruktion des Völkerrechts (1914), in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule. Schriften von Hans Kelsen, Adolf Merkl, Alfred Verdross, hrg. von Hans R. Klecatsky u.a., 2 Bände, 2. Auflage, Wien 2010, Band 2, 1635-1657, hier 1642. Fricker hatte 1872 ausgeführt, dass das Völkerrecht ohne ein vorausgesetztes „Recht über Staaten“ undenkbar ist.
[31] Heinrich Lammasch: Das Völkerrecht nach dem Kriege (wie Anm. 6), 85-88.
[32] Ebenda, 131f. Zur Lammasch verwandten Einschätzung der „Leugnung des Völkerrechts“ (als überstaatlichem Recht) durch Adolf Lasson, Erich Kaufmann, den bayerischen Staatsrechtler Max Seydel oder Fritz Stier-Somlo vgl. Hans Kelsen: Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts. Beitrag zu einer reinen Rechtslehre, Tübingen 1920, 196-204. – Die Frage des Rechtcharakters des Völkerrechts trennte Lammasch auch von Philipp Zorn, mit dem er gemeinsam in Haag für eine stabile Friedensordnung, für die obligatorische Schiedsgerichtspflicht eingetreten war. Lammasch merkt zu dem ihm also durchaus verbundenen Zorn 1917 in „Das Völkerrecht nach dem Kriege“ an: „Auch deutsche Rechtslehrer, die sich sonst von der Auffassung Hegels fern halten, nähern sich dieser Anschauung, wenn sie das Völkerrecht in äußeres Staatsrecht auflösen. So Zorn, Vater und Sohn. [Philipp und Albert Zorn]. Da es sich bei Staatsverträgen ‚nur um Verabredungen von Staat zu Staat, nicht um Befehle des Staates an seine Untertanen‘ handelt, reichen sie nach Philipp Zorn nicht bis in die Sphäre des Rechts hinein und sind nur ein Bestandteil des Moralgebotes. Daraus folgt wohl, dass der Vertrag die Staaten juristisch nicht binde, da er juristisch gar nicht existiert; dass er die Staaten moralisch binde, leugnet auch Zorn nicht.“
[33] Heinrich Lammasch: Die Lehre von der Schiedsgerichtsbarkeit in ihrem ganzen Umfange (Die Ergebnisse der Haager Konferenzen. Das Kriegsverhütungsrecht. Handbuch des Völkerrechts 5/2), Stuttgart 1914, 2.
[34] Georg Jellinek: Allgemeine Staatslehre, Berlin 1900, 337-341. Zu „dualistischen und monistischen Völkerrechtskonstruktionen“, zur „Wahlmöglichkeit zwischen dem Primat des Staatsrechts und dem des Völkerrechts“, zu den Ansätzen von Georg Jellinek, Heinrich Triepel oder dem von Hans Kelsen vgl. Alfred Verdross: Völkerrecht und einheitliches Rechtssystem (1923), in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule (wie Anm. 30), 1659-1688. Verdross spricht davon, dass die „imperialistisch (subjektivistische) Weltanschauung“ sich in der Regel für den Primat des Staatsrechts, die „pazifistische (objektivistische) dagegen für den Primat des Völkerrechts entscheiden“ wird. Der Kanonist Willibald M. Plöchl stellt in seiner auch Leopold Neumann oder Leo Strisower vorstellenden Geschichte der „modernen Völkerrechtswissenschaft an der Wiener Juristenfakultät“ (in: Völkerrecht und rechtliches Weltbild. Festschrift für Alfred Verdross, Wien 1960, 31-33, hier 44) die Frage, ob die Wiener Fachentwicklung für den Fall, dass Jellinek statt Lammasch berufen worden wäre, nicht in eine „ganz andere Richtung“ geführt hätte: „Der Weg hätte in den Positivismus geführt, und zwar in einen Positivismus, der die Grundlagen des Völkerrechts schließlich in Zweifel gezogen hätte.“
[35] Heinrich Lammasch: Die Lehre von der Schiedsgerichtsbarkeit (wie Anm. 33), 2.
[36] Vgl. Heinrich Lammasch: Vertragstreue im Völkerrecht?, in: Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht 2 (1915/16), 1-37, hier 29. Über die antidemokratische Staatsrechtslehre des 1933 vom NS-Regime in das Exil vertriebenen Kaufmann vgl. Manfred Friedrich: Erich Kaufmann (1890-1972), in: Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, hrg. von Michael Stolleis u.a., München 1993, 693-704. Vgl. auch Klaus Schwabe: Wissenschaft und Kriegsmoral. Die deutschen Hochschullehrer und die politischen Grundfragen des Ersten Weltkrieges, Göttingen 1969, 152-155.
[37] Heinrich Lammasch: Das Völkerrecht nach dem Kriege (wie Anm. 6), 92-100.
[38] Ebenda, 133-135. 92-100. Walther Schücking: Die völkerrechtliche Lehre des Weltkrieges (wie Anm. 22), 12. Nach Erich Kaufmann: Das Wesen des Völkerrechts und die Clausula rebus sic stantibus. Eine rechtsphilosophische Studie zum Rechts-, Staats- und Vertragsbegriff, Tübingen 1911, hier etwa 146: „Nicht die ‚Gemeinschaft frei wollender Menschen’, sondern der siegreiche Krieg ist das soziale Ideal: der siegreiche Krieg als das letzte Mittel zu jenem obersten Ziel.“ – Der in Prag, Innsbruck, Wien und zuletzt in München lehrende Emanuel Ullmann (1843-1913) trat gleich Lammasch gegen die „Leugnung des Völkerrechts“ auf: „Die auch heute noch auftretende Meinung, dass die Regeln des Staaten- und Völkerverkehrs rechtlichen Charakters ermangeln, steht in Widerspruch mit den Tatsachen der Geschichte des Völkerverkehrs und den namentlich in den letzten Jahrhunderten hervortretenden dauernden Beziehungen und internationalen Einrichtungen der Völker, welche nach Form und Inhalt rechtlichen Charakter an sich tragen.“ (Vgl. Emanuel Ullmann: Völkerrecht, Tübingen 1908, 17-26)
[39] Ottfried Nippold: Heinrich Lammasch als Völkerrechtsgelehrter und Friedenspolitiker, in: Heinrich Lammasch. Seine Aufzeichnungen, sein Wirken und seine Politik, hrg. von Marga Lammasch und Hans Sperl, Wien-Leipzig 1922, 118-153, hier 137. Gegen Kaufmanns Tendenz, den Krieg „als das gerechte Weltgericht anzusehen“ bzw. dem „Völkerrecht den Rechtscharakter“ abzusprechen vgl. auch Josef L. Kunz: Völkerrechtswissenschaft und reine Rechtslehre (Wiener Staatswissenschaftliche Studien Neue Folge III), Leipzig-Wien 1923, 73. Kunz fügt aus dem Blick nach 1918 süffisant an: „Jetzt, nach dem verlorenen Krieg, liest man’s übrigens bei E. Kaufmann anders.“
[40] Heinrich Lammasch: Das Völkerrecht nach dem Kriege (wie Anm. 6), 142f. Vgl. Leopold Pfaff: Die Klausel rebus sic stantibus in der Doktrin und in der österreichischen Gesetzgebung, Stuttgart 1898.
[41] Heinrich Lammasch: Das Völkerrecht nach dem Kriege (wie Anm. 6), 145f.
[42] Ebenda, 152.
[43] Ebenda, 155.
[44] Ebenda, 149. Gegen die „berüchtigte Theorie von der clausula rebus sic stantibus“ vgl. auch Heinrich Triepel: Völkerrecht und Landesrecht, Leipzig 1899, 90.
[45] Heinrich Lammasch: Das Völkerrecht nach dem Kriege (wie Anm. 6), 156-158, 165-170.
[46] Otto Mayer: Rezension von Heinrich Lammasch, Das Völkerrecht nach dem Kriege (1917), in: Archiv des öffentlichen Rechts 38 (1918), 410-413. - Alfred Verdross: Rezension von Heinrich Lammasch, Das Völkerrecht nach dem Kriege (1917), in: Zeitschrift für öffentliches Recht 1 (1919/20), 177-182. - Fritz Stier-Somlo: Rezension von Heinrich Lammasch, Das Völkerrecht nach dem Kriege (1917), in: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie 11(1917/18), 259-265.
[47] Heinrich Lammasch: Abgestorbenes Völkerrecht (1916), in derselbe: Europas elfte Stunde (wie Anm. 5), 128-132.
[48] Über Kohler Hermann Klenner: Deutsche Rechtsphilosophie im 19. Jahrhundert. Essays, Berlin 1991, 203. Vgl. auch Andreas Gängel und Michael Schaumburg: Josef Kohler Rechtsgelehrter und Rechtslehrer an der Berliner Alma mater um die Jahrhundertwende, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 75 (1989), 289-312. Zum nationalchauvinistischen Ausschluss von Lassa Oppenheim vgl. Peter K. Keiner: Bürgerlicher Pazifismus und ‚neues‘ Völkerrecht. Hans Wehberg (1885-1962), jur. Diss., Freiburg 1976, 6f.
[49] Vgl. Josef Kohler: Not kennt kein Gebot. Die Theorie des Notrechtes und die Ereignisse unserer Zeit, Berlin-Leipzig 1915, 33-39.
[50] Heinrich Lammasch: Das Völkerrecht nach dem Kriege (wie Anm. 6), 138. Vgl. Josef L. Kunz: Das Problem von der Verletzung der belgischen Neutralität (Publikationen der österreichischen Völkerbundliga 1), Wien 1920, 17. Vgl. auch Leo Strisower: Der Krieg und die Völkerrechtsordnung, Wien 1919, 24f. Der deutschnational kriegsrevanchistische Straf- und Völkerrechtsprofessor Alexander Hold-Ferneck sah 1926 Kunz‘ Wiener Habilitationsverfahren wegen der Qualifikation des Bruchs der belgischen Neutralität durch Deutschland als „Rechtswidrigkeit“ zumindest erschwert. Vgl. Peter Goller: Naturrecht, Rechtsphilosophie oder Rechtstheorie? Zur Geschichte der Rechtsphilosophie an Österreichs Universitäten (1848-1945), Frankfurt 1997, 254f.
[51] Heinrich Lammasch: Der Beruf der Neutralen (1915), in: derselbe: Europas elfte Stunde (wie Anm. 5), 71-79 (Manuskript abgeschlossen im Februar 1915). Vgl. ausführlicher Heinrich Lammasch: Das Mediationsrecht der Neutralen in: Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht 2 (1915/16), 205-242.
[52] Heinrich Lammasch: Das Völkerrecht nach dem Kriege (wie Anm. 6), 172f.
[53] Heinrich Lammasch: Der 15. Juni 1907, in derselbe: Europas elfte Stunde (wie Anm. 5), 124-127. Vgl. auch Heinrich Lammasch: Rückblicke auf die Haager Friedenskonferenzen, in: Niemeyers Zeitschrift für Internationales Recht 26 (1916), 153-183 und Heinrich Lammasch: Aus meinem Leben, in: Heinrich Lammasch. Seine Aufzeichnungen, sein Wirken und seine Politik, hrg. von Marga Lammasch, Wien-Leipzig 1922, 10-76.
[54] Heinrich Lammasch: Der Wandel der Friedensbewegung (1917), in derselbe: Europas elfte Stunde (wie Anm. 5), 80-86. Zur Geschichte der deutschen Friedensbewegung bis 1918 vgl. u.a. Ludwig Quidde: Der deutsche Pazifismus während des Weltkrieges 1914-1918, aus dem Nachlass des Friedensnobelpreisträgers Ludwig Quidde hrg. von Karl Holl und Helmut Donat, Boppard 1979; Dieter Riesenberger: Geschichte der Friedensbewegung in Deutschland. Von den Anfängen bis 1933, Göttingen 1985; Karl Holl: Pazifismus in Deutschland, Frankfurt 1988.
[55] Vgl. dazu Heinrich Lammasch: Der Völkerbund zur Bewahrung des Friedens. Entwurf eines Staatsvertrages mit Begründung, 2. ergänzte Auflage, Olten 1919.
[56] Über Alfred H. Fried (1864-1921) mit Kritik an dessen bürgerlichem Pazifismus Albert Fuchs: Geistige Strömungen in Österreich (wie Anm. 1), 261-265.
[57] Vgl. Hans Wehberg: Otfried Nippold (1864-1938), in: Friedens-Warte 38/5 (1938), 235-243.
[58] Vgl. Hans Wehberg: Das Leben Walther Schückings, in: Friedens-Warte 35/5 (1935), 162-175. - Detlev Acker: Walther Schücking (1875-1935), Münster 1970. - Wolfgang Kohl: Walther Schücking (1875-1935). Staats- und Völkerrechtler – Demokrat und Pazifist, in: Streitbare Juristen, hrg. von Kritische Justiz, Baden-Baden 1988, 230-242 und Frank Bodendiek: Walther Schücking und Hans Wehberg – Pazifistische Völkerrechtslehre in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Friedens-Warte 74 (1/2, 1999), 79-97.
[59] Otfried Nippold: Ein Vorkämpfer des Rechtsgedankens. Zur Affäre des Hofrat Lammasch, in: Friedens-Warte 20 (April 1918), 101-103.
[60] Vgl. Heinrich Lammasch: Erste, zweite, dritte Friedensrede im Herrenhause des österreichischen Reichsrats (28. Juni 1917, 27. Oktober 1917, 28. Februar 1918) und Epilog zur dritten Herrenhausrede, in derselbe: Europas elfte Stunde (wie Anm. 5), 135-175.
[61] Otfried Nippold: Die Gestaltung des Völkerrechts nach dem Weltkriege, Zürich 1917, 34, 50, 117.
[62] Walther Schücking: Die deutschen Professoren und der Weltkrieg (1915), in derselbe: Der Dauerfriede. Kriegsaufsätze eines Pazifisten, Leipzig 1917, 15-22.
[63] Walther Schücking: Der Ausbau des Haager Werkes (1916), in: ebenda, 69-86.
[64] Walther Schücking: Die völkerrechtliche Lehre des Weltkrieges (wie Anm. 22), 7, 9, 11.