Wolfgang Stegmüller (1955/56)

1955 stand die Besetzung der nach Theodor Erismann (1883-1961) vakanten philosophischen Professur an. Die Lehrkanzel wurde in eine rein philosophische und in eine rein experimentalpsychologische Professur geteilt, letztere ging an Ivo Kohler (1915-1985).

Für die philosophische Lehrkanzel hatten sich auch einige nur im Tiroler bürgerlich katholischen Umfeld verankerte Privat-dozenten, manche habilitiert in den Jahren des austrofaschistischen „Ständestaats“ in Position gebracht. Trotzdem war der auch in Innsbruck habilitierte, aber durch zahlreiche internationale Studienaufenthalte bei Rudolf Carnap, Willard Quine oder Alonzo Church bereits renommierte, analytisch ausgerichtete Wolfgang Stegmüller (1923-1991) nicht zu übergehen. Für Stegmüllers Mitbewerber setzten sich die Gutachter Josef Santeler (SJ, theologische Fakultät Innsbruck), Albert Auer (theologische Fakultät Salzburg) und Leo Gabriel (Universität Wien) ein, indem sie deren „Nähe zu metaphysischem Denken“, „Talent und Neigung zur spekulativen Philosophie“, zum „synthetischen Denken“, zur „christlichen Philosophie“ oder zu idealistisch existentialistischem Irrationalismus lobten.

Für Wolfgang Stegmüller traten die Gutachter Erwin Schrödinger, Friedrich Waismann, Viktor Kraft und Theodor Radakovic (Graz) ein. Schrödinger kannte Stegmüllers Wissen im Bereich der mathematisch physikalischen Disziplinen seit einer Innsbrucker Gastprofessur 1950/51. Schrödinger hatte gemeinsam mit Stegmüller und anderen Innsbrucker Kollegen ein interdisziplinäres Seminar abgehalten.

Viktor Kraft, Erbe des seit 1934 nach und nach vertriebenen „Wiener Kreises“, urteilte: Stegmüller „hat im Dezember 1952 in Wien einen Vortrag über die Grundlagen der Mathematik und einen über die Semantik gehalten und in meinem Arbeitskreis über die Wahrscheinlichkeitslogik von Carnap vorgetragen und diskutiert. Ich schätze Herrn Stegmüller außerordentlich hoch; er ist hervorragend begabt, ein scharfsinniger Kopf und philosophisch ausgezeichnet ausgebildet, vor allem in der modernen Logik und Semantik. Sein Studium bei Quine im vergangenen Winter wird ihn in dieser Hinsicht allen anderen Logikern in Österreich überlegen gemacht haben.“

Friedrich Waismann, schon 1936 aus Österreich emigriert und seit 1939 in Oxford lehrend, schloss sich dem an, nachdem Stegmüller das Studienjahr 1953/54 in Waismanns Seminar verbracht hatte: „Er ist tiefer als die meisten anderen in die Probleme der mathematischen Logik eingedrungen.“ (UAI, Reihe „Philosophische Berufungsakten nach 1945, Berufungsakt nach Theodor Erismann 1954-1956“ – Faksimile-Auszug im Anhang!)

Von Anfang an war klar, dass es sich um die Besetzung einer zentral „weltanschaulich-politischen“ Lehrkanzel im Sinn der konservativen Restauration handelte. Der bürgerlich liberale Stegmüller, der schon die erste Auflage seiner „Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie“, eine viel beachtete Studie über den „Evidenzbegriff in der formalisierten Logik und Mathematik“ oder die Monographie „Metaphysik – Wissenschaft - Skepsis“ vorzuweisen hatte, wurde hingegen im Unterrichtsministerium gar als „Marxist und Mitglied der SPÖ“ markiert. Aus dem Umfeld der Innsbrucker katholisch-theologischen Fakultät war Stegmüller von Emerich Coreth SJ im Vorfeld der Berufung in der einflussreichen „Zeitschrift für katholische Theologie“ in die Nähe eines bedenklichen „Nihilismus“ gerückt worden. Stegmüller lasse tieferes Verständnis für Fragen der „Metaphysik“ missen. (Vgl. Emerich Coreth: Rezension von Wolfgang Stegmüller: Metaphysik – Wissenschaft – Skepsis (Frankfurt-Wien 1954), in: Zeitschrift für Katholische Theologie 77 (1955), 102f.)

In der Berufungskommission gelang es den beiden Fachvertretern, den jeweils vor der Emeritierung stehenden Professoren Theodor Erismann und Richard Strohal – Strohal übrigens ein 1938 vom NS-Regime entlassener Vertrauensmann des katholischen Schuschnigg-Regimes – Wolfgang Stegmüller primo loco gegen das opponierende Stimmverhalten des offen auch im universitären Alltagshandeln katholische Glaubensdogmen verfechtenden Mathematikers Leopold Vietoris und des Klassischen Philologen Robert Muth, einer im Cartell-Verband verankerten Schlüsselfigur des österreichischen politischen Universitätskatholizismus seit 1945 bis in die 1980er Jahre, durchzusetzen. Im Fakultätsplenum wurde der Vorschlag im Mai 1955 aber mit „13 Ja-Stimmen, 12 Nein-Stimmen und 5 Stimmenthaltungen“ so knapp angenommen, dass es für Unterrichtsminister Heinrich Drimmel ein leichtes war, Stegmüller zu übergehen. Stegmüller – 1958 an die Universität München berufen – wurde zu einem federführenden Analytischen Philosophen des 20. Jahrhunderts. (Über alle berufungspolitischen Details Gerhard Benetka: Der Fall „Stegmüller“, in: Elemente moderner Wissenschaftstheorie. Zur Interaktion von Philosophie, Geschichte und Theorie der Wissenschaften, hrg. von Friedrich Stadler, Wien 2000, 123-176. Vgl. Michael Schorner: Die wissenschaftliche Korrespondenz von Wolfgang Stegmüller [im „Brenner-Archiv“], in: Vertreibung, Transformation und Rückkehr der Wissenschaftstheorie am Beispiel von Rudolf Carnap und Wolfgang Stegmüller, hrg. von Friedrich Stadler, Wien 2010, 453-484)

Stegmueller_001

Stegmueller_002

Stegmueller_003

Stegmueller_004

Stegmueller_005

Stegmueller_006

Stegmueller_007

Stegmueller_008

Stegmueller_009

Stegmueller_010

Stegmueller_011

Stegmueller_012

Stegmueller_013

Stegmueller_014

Stegmueller_015

Stegmueller_016

Stegmueller_017

Stegmueller_018

Stegmueller_019

Stegmueller_020

 


Nach oben scrollen