Peter Goller
„Der Lifschitz“. Michael Lifschitz und Georg Lukács über Marx‘ und Engels‘ ästhetische und literaturtheoretische Auffassungen
1948 erschien „der Lifschitz“ als großes Sammelwerk „Karl Marx, Friedrich Engels: Über Kunst und Literatur. Eine Sammlung aus ihren Schriften“ erstmals in deutscher Sprache, herausgegeben von Michail Lifschitz, redaktionell betreut von Fritz Erpenbeck (Verlag Bruno Henschel und Sohn, Berlin 1948).[1]
Die deutsche Übersetzung von Michail Lifschitz‘ in den 1930er Jahren zusammengestellter Textsammlung erschien Mitten in der aufflammenden innersozialistischen „Formalismusdebatte“ als ein wichtiger Beitrag zur Verteidigung des aus dem Erbe von Marx und Engels hergeleiteten sozialistischen Realismus. Der 1945 aus der Sowjetunion in das befreite Deutschland zurückgekehrte Schriftsteller und Kulturpolitiker Fritz Erpenbeck, auch ein Gegner von Bertolt Brechts epischem Theater, verteidigte nicht zufällig im Goethejahr 1949 das nationale klassische Erbe gegen die „formalistische Dekadenz“.
1958 gab der DDR-Literaturwissenschaftler Hans Koch (1927-1986) „den Lifschitz“ gemeinsam mit Maximilian Jakubietz überarbeitet und erweitert um die Lenin-Periode neu heraus. 1967 ist dieser Band bei Reclam Leipzig unter „Marx, Engels, Lenin: Über Kultur, Ästhetik, Literatur“ auch in einer Taschenbuchausgabe erschienen.[2]
In einem späten Dialog hat Georg Lukács um 1970 auf das gemeinsam mit dem sowjetischen Literaturwissenschaftler Michail Lifschitz (1905-1983) ab 1930 in Moskau entwickelte Konzept einer „spezifisch Marxschen Ästhetik“ hingewiesen: Es gibt eine „eigenständige Marxsche Ästhetik, die der Marxismus weder von Kant noch von anderswo übernommen hat“.[3]
1959 hat Michail Lifschitz im Vorwort zur deutschen Ausgabe von „Karl Marx und die Ästhetik“ dargelegt, wie er sich im Jahrzehnt nach der Oktoberrevolution gegen den „linken Radikalismus“, gegen proletkultische Formen einer sozialistischen Avantgarde, eines „ultralinken Nihilismus“ angelehnt an westliche Varianten der „Dekadenz“, eines „literarischen Symbolismus“, des Expressionismus, Dadaismus oder Futurismus gewandt hat: „Die Idee des heiligen Vandalismus, eine ultralinke Phantasie des toll gewordenen Spießers, für den die Revolution ein mystischer Weltuntergang war, wurde abgeworfen. (…) Das Schwärmen für den Modernismus führte Lenin auf einen anderen Mangel zurück: auf die Unerfahrenheit, Unorganisiertheit und Spontaneität in der Bewegung der breiten kleinbürgerlichen Massen, vor allem der Bauern. Man kann gewiss sagen, dass er ‚die sinnloseste Äfferei‘ in der linken Kunst ebenso als Erscheinungen des kleinbürgerlichen Anarchismus auffasste, wie das Hamstern, Vergeuden gesellschaftlichen Eigentums, Rowdytum oder Widerstand gegen die proletarische Organisation der neuen Arbeitsdisziplin.“
Auch wenn die westliche Intelligenz – so etwa Theodor W. Adorno 1958 gegenüber Georg Lukács – der Sowjetunion eine geradezu „altmodisch“ ästhetische „Rückkehr zum Viktorianischen Zeitalter“ vorwirft, hätten sich Lenins Schüler mit Recht nicht dazu bewegen lassen, „mit der dekadenten ‚Umwertung aller Werte‘ und der Zerstörung des klassischen Kanons“ gemeinsame Sache zu machen. Lenins Haltung in der „Erbefrage“ diente Lifschitz als Leitfaden seiner – teils gemeinsam mit Lukács – vorangetriebenen Marx-Engels-Forschung: „Ohne Zweifel war der größte Revolutionär unseres Jahrhunderts, ebenso wie Marx und Engels, ein überzeugter Anhänger der Klassik.“[4]
Zur gleichen Zeit verteidigte auch Georg Lukács – skeptisch beobachtet etwa von Bertolt Brecht, Anna Seghers oder Ernst Bloch – das Erbe der Klassik und des Realismus im so genannten „Expressionismusstreit“ seit Mitte der 1930er Jahre im Zeichen der antifaschistischen Volksfrontpolitik unter Berufung auf Marx‘ Kategorie der „Totalität“ („Die Produktionsverhältnisse jeder Gesellschaft bilden ein Ganzes.“) gegen den (experimentell avantgardistischen) „Surrealismus“ in der westlichen Literatur, gegen Franz Kafka oder James Joyce, eintretend für Leo Tolstoi und Maxim Gorki, für Thomas Mann oder Heinrich Mann („Henri IV.“) oder auch für Arnold Zweig („Erziehung vor Verdun“): „Warum bleibt Thomas Mann bei so modernen Themen künstlerisch doch ‚altmodisch‘, ‚herkömmlich‘, gibt sich nicht ‚avantgardistisch‘? Eben weil er ein wirklicher Realist ist, was in diesem Fall zuallererst so viel bedeutet, dass er – als gestaltender Künstler – genau weiß, wer Christian Buddenbrook, wer Tonio Kröger, wer Hans Castorp, Settembrini oder Naphta ist.“[5]
Nach der Befreiung vom Horthy-Faschismus 1945 schreibt Georg Lukács in Budapest unter dem Titel „Einführung in die ästhetischen Schriften von Marx und Engels“ ein Vorwort zur ungarischen Ausgabe „des Lifschitz“. Bereits in gemeinsamen Sowjettagen hatte Lukács im Einklang mit Lifschitz‘ Marx-Engels Forschungen 1935 den Beitrag „Friedrich Engels als Literaturtheoretiker und Literaturkritiker“ verfasst.[6]
- Lifschitz über eine Ästhetik im Sinn des Historischen Materialismus
In der materialistischen (Geschichts-) Philosophie fand Michail Lifschitz den Ausgangspunkt für Marx‘ und Engels‘ ästhetische Auffassungen, entwickelt wider eine idealistische Kulturgeschichtsschreibung, dabei ausgehend von Hegels „Phänomenologie des Geistes“.
Bereits in den von Lifschitz und Lukács in Moskau studierten, um 1930 erst seit Kurzem zugänglichen „ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ von 1844 hat Marx Hegels historisch idealistische Kategorie der „Arbeit“ gewürdigt, auch wenn Hegel diese bloß „abstrakt geistig“ gefasst, auch wenn er sich auf eine „Dialektik des reinen Gedankens“ beschränkt hatte: „Das Große an der Hegelschen ‚Phänomenologie‘ und ihrem Endresultate – der Dialektik der Negativität als dem bewegenden und erzeugenden Prinzip – ist also einmal, dass Hegel die Selbsterzeugung des Menschen als einen Prozess fasst, die Vergegenständlichung als Entgegenständlichung, als Entäußerung und als Aufhebung dieser Entäußerung; dass er also das Wesen der Arbeit fasst und den gegenständlichen Menschen, wahren, weil wirklichen Menschen, als Resultat seiner eignen Arbeit begreift.“ (MEW Ergänzungsband I, 574)[7]
Alle religiösen, ästhetischen und sonstigen ideologischen Vorstellungen sind – so Marx und Engels 1845 in der „Deutschen Ideologie“ – Ausdruck „materieller Produktion“ oder wie es 1847/48 im „Manifest der Kommunistischen Partei“ formuliert wird: „Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse. (…) Als die christlichen Ideen im 18. Jahrhundert den Aufklärungsideen unterlagen, rang die feudale Gesellschaft ihren Todeskampf mit der damals revolutionären Bourgeoisie. Die Ideen der Gewissens- und Religionsfreiheit sprachen nur die Herrschaft der freien Konkurrenz auf dem Gebiete des Gewissens aus.“ (Lifschitz, 13 = MEW 4, 480)
Unter kapitalistischen Bedingungen verlieren die „Kopfarbeiter“, die Literaten als „Kopflanger“ endgültig den Schein freischwebend geistiger Unabhängigkeit. Sie produzieren als Lohnarbeiter, so wiederum im „Manifest“: „Die Bourgeoisie hat alle bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt.“ (Lifschitz, 48f. = MEW 4, 465)
Lifschitz findet einen Großteil der für Marx‘ und Engels‘ kunsttheoretische Auffassungen entscheidenden Begriffe, wie den 1867 im ersten Band des „Kapital“ ausgeführten „Fetischcharakter der Ware“, wie die späteren Analysen zur verkrüppelnden Wirkung der Arbeitsteilung, zur „industriellen Pathologie“ oder zum absoluten und relativen Mehrwert schon in den frühen „ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ angedeutet vor.
Mit Zitaten aus Goethes „Faust“ und Shakespeares „Timon von Athen“ beschreibt Marx 1844 das Geld als universellen „Kuppler“, als „allgemeine Hure“, als militanten „Gleichmacher“. Für Shakespeare ist das Geld „die sichtbare Gottheit, die Verwandlung aller menschlichen und natürlichen Eigenschaften in ihr Gegenteil“, die Verbrüderung der „Unmöglichkeiten“: „Es verwandelt die Treue in Untreue, die Liebe in Hass, den Hass in Liebe, die Tugend in Laster, das Laster in Tugend, den Knecht in den Herrn, den Herrn in den Knecht, den Blödsinn in Verstand, den Verstand in Blödsinn. Da das Geld als der existierende und sich betätigende Begriff des Wertes alle Dinge verwechselt, vertauscht, so ist es die allgemeine Verwechslung und Vertauschung aller Dinge, also die verkehrte Welt, die Verwechslung und Vertauschung aller natürlichen und menschlichen Qualitäten. Wer die Tapferkeit kaufen kann, der ist tapfer, wenn er auch feig ist.“ (Lifschitz, 41f. = MEW Ergänzungsband I, 565f.)
Mit Blick auf die „verkehrende Macht des Geldes“, mit Verweis auf Sophokles‘ „Antigone“ und Shakespeares „Timon‘, auf die Tradition des Reliquienhandels spricht Marx im „Kapital“ 1867 neuerlich von dieser „Alchemie“, der „nicht einmal Heiligenknochen und noch viel weniger minder grobe res sacrosanctae, extra commercium hominum“ widerstehen: „Wie im Geld aller qualitative Unterschied der Waren ausgelöscht ist, löscht es seinerseits als radikaler Leveller alle Unterschiede aus. Das Geld ist aber selbst Ware, ein äußerlich Ding, das Privateigentum eines jeden werden kann. Die gesellschaftliche Macht wird so zur Privatmacht der Privatperson. Die antike Gesellschaft denunziert es daher als die Scheidemünze ihrer ökonomischen und sittlichen Ordnung. Die moderne Gesellschaft, die schon in ihren Kinderjahren den Plutus an den Haaren aus den Eingeweiden der Erde herauszieht, begrüßt im Goldgral die glänzende Inkarnation ihres eigensten Lebensprinzips.“ (Lifschitz, 39 =MEW 23, 145-147)
Im ersten Band des „Kapital“ zitiert Marx etwa folgende Zeilen aus Sophokles „Antigone“ vom Gold, „das Staaten stürzt“: „Denn kein so schmählich Übel, wie des Geldes Wert, / Erwuchs den Menschen: dies vermag die Städte selbst / Zu brechen, dies treibt Männer aus von Hof und Herd; / Dies unterweiset und verkehrt den edlen Sinn / Rechtschaff’ner Männer, nachzugeh’n ruchloser Tat / Zeigt an die Wege böser List den Sterblichen, / Und bildet sie zu jedem gottverhassten Werk.“ (MEW 23, 146)
Die kapitalistische Lohnarbeit, die entfremdete „äußerliche Arbeit“ ist – so notiert der junge Marx 1844 in den Pariser Manuskripten – „eine Arbeit der Selbstaufopferung, der Kasteiung“. „Sentimental“ sind die Sätze der Nationalökonomie, dieser „allermoralischsten Wissenschaft“ von Reichtum und Verelendung, „aufs Theater gebracht“ worden. Der Kapitalist macht aber „den Arbeiter zu einem unsinnlichen und bedürfnislosen Wesen, (…); jeder Luxus des Arbeiters erscheint ihm daher als verwerflich, und alles, was über das allerabstrakteste Bedürfnis hinausgeht – sei es als passiver Genuss oder Tätigkeitsäußerung – erscheint ihm als Luxus. Die Nationalökonomie, diese Wissenschaft des Reichtums, ist daher zugleich die Wissenschaft des Entsagens, des Darbens, der Ersparung, und sie kömmt wirklich dazu, dem Menschen sogar das Bedürfnis einer reinen Luft oder der physischen Bewegung zu ersparen. Diese Wissenschaft der wunderbaren Industrie ist zugleich die Wissenschaft der Askese, und ihr wahres Ideal ist der asketische, aber wucherische Geizhals und der asketische, aber produzierende Sklave. (…) Die Selbstentsagung, die Entsagung des Lebens und aller menschlichen Bedürfnisse, ist ihr Hauptlehrsatz.“ (Lifschitz, 32f. = MEW Ergänzungsband I, 549f.)
Jede materialistische Ästhetik hat nach Marx‘ Pariser Manuskripten zu berücksichtigen, dass im Kapitalismus für die Arbeiter „selbst das Bedürfnis der freien Luft [aufhört], ein Bedürfnis zu sein“. Kein Kunstgenuss für die Verelendeten: Der „Mensch kehrt in die Höhlenwohnung zurück, die aber nun von dem mephytischen [übelriechenden] Pesthauch der Zivilisation vergiftet ist und die er nur mehr prekär als eine fremde Macht, die sich ihm täglich entziehn, aus der er täglich, wenn er nicht zahlt, herausgeworfen kann, bewohnt. Dies Totenhaus muss er bezahlen. Die Lichtwohnung, welche Prometheus bei Äschylus als eines der großen Geschenke, wodurch er den Wilden zum Menschen gemacht, bezeichnet, hört auf, für den Arbeiter zu sein. Licht, Luft etc., die einfachste tierische Reinlichkeit hört auf, ein Bedürfnis des Menschen zu sein. Der Schmutz, diese Versumpfung, Verfaulung des Menschen, der Gossenablauf (dies ist wörtlich zu verstehn) der Zivilisation wird ihm ein Lebenselement. (…) Die rohsten Weisen (und Instrumente) der menschlichen Arbeit kehren wieder, wie die Tretmühle der römischen Sklaven zur Produktionsweise, Daseinsweise vieler englischen Arbeiter geworden ist. Nicht nur, dass der Mensch keine menschlichen Bedürfnisse hat, selbst die tierischen Bedürfnisse hören auf. Der Irländer kennt nur mehr das Bedürfnis des Essens und zwar nur mehr des Kartoffelessens und zwar nur der Lumpenkartoffel, der schlechtesten Art von Kartoffel. Aber England und Frankreich haben schon in jeder Industriestadt ein kleines Irland.“ (Lifschitz, 36 = MEW Ergänzungsband I, 548)
Die bürgerliche Gesellschaft straft – dies ist als Prämisse jeder sozialistisch literarischen Literaturauffassung relevant – alle Lehren der Ökonomen von einer Harmonie von Lohnarbeit und Kapital Lüge. (MEW 20, 25)
Wenn Marx 1859 im Vorwort zur „Kritik der politischen Ökonomie“ das Grundprinzip des Historischen Materialismus formuliert, so kann dieses nicht schematisch „vulgärsoziologisch“ angewandt werden: „Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“ (MEW 13, 8f.)
So hat Friedrich Engels in späten Briefen gegen die Degradierung des Histomat zur „bloßen Phrase“ protestiert, etwa am 5. August 1890 gegenüber Conrad Schmidt: „Unsere Geschichtsauffassung aber ist vor allem eine Anleitung beim Studium, kein Hebel der Konstruktion à la Hegelianertum. Die ganze Geschichte muss neu studiert werden, die Daseinsbedingungen der verschiedenen Gesellschaftsformationen müssen im einzelnen untersucht werden, ehe man versucht, die politischen, privatrechtlichen, ästhetischen, philosophischen, religiösen etc. Anschauungsweisen, die ihnen entsprechen, aus ihnen abzuleiten. Darin ist bis jetzt nur wenig geschehn, (…).“ (Lifschitz, 8 = MEW 37, 436f.)
Mit Blick auf die tendenzielle Kunstfeindlichkeit des Kapitalismus findet Lifschitz bei Marx und Engels den Gedanken der ungleichzeitigen, ungleichmäßigen Entwicklung (von „Basis“ und „Überbau“) vor. So notiert Engels am 27. Oktober 1890 wieder in einem Brief an Schmidt, dass ökonomisch rückständige Länder in Philosophie oder Literatur oft vorangehen: „Und daher kommt es, dass ökonomisch zurückgebliebene Länder in der Philosophie doch die erste Violine spielen können: Frankreich im 18. Jahrhundert gegenüber England, auf dessen Philosophie die Franzosen fußten, später Deutschland gegenüber beiden.“ (Lifschitz, 7 = MEW 37, 493)
Marx hatte in den Jahren um 1860 in den „Theorien über den Mehrwert“ Gotthold Ephraim Lessings Polemik gegen Voltaires Versuch eines Epos über König Heinrich IV. zustimmend aufgegriffen: „Also z.B. der kapitalistischen Produktionsweise entspricht eine andre Art der geistigen Produktion als der mittelaltrigen Produktionsweise. (…) Z.B., kapitalistische Produktion ist gewissen geistigen Produktionszweigen, z.B. der Kunst und Poesie, feindlich. Man kömmt sonst auf die Einbildung der Franzosen im 18. Jahrhundert, die Lessing so schön persifliert hat. Weil wir in der Mechanik etc. weiter sind als die Alten, warum sollten wir nicht auch ein Epos machen können? Und die Henriade für die Iliade!“ (Lifschitz, 54 = MEW 26/1, 257)[8]
In den 1857/58 konzipierten „Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie“ hat Marx das „unegale“ Verhältnis der Entwicklung der materiellen Produktion, z.B. zum künstlerischen, aber auch zum juristischen Überbau näher analysiert: „Überhaupt der Begriff des Fortschritts nicht in der gewöhnlichen Abstraktion zu fassen. (…) Der eigentlich schwierige Punkt, hier zu erörtern, ist aber der, wie die Produktionsverhältnisse als Rechtsverhältnisse in ungleiche Entwicklung treten. Also z.B. das Verhältnis des römischen Privatrechts (…) zur modernen Produktion.“
Gerade für die Literatur gilt es Marx als erwiesen, dass „bestimmte Blütezeiten derselben keineswegs im Verhältnis zur allgemeinen Entwicklung der Gesellschaft, also auch der materiellen Grundlage“ stehen: „Z.B. die Griechen verglichen mit den modernen oder auch Shakespeare. Von gewissen Formen der Kunst, z.B. dem Epos, sogar anerkannt, dass sie, in ihrer Weltepoche machenden, klassischen Gestalt nie produziert werden können, sobald die Kunstproduktion als solche eintritt; also dass innerhalb des Berings der Kunst selbst gewisse bedeutende Gestaltungen derselben nur auf einer unentwickelten Stufe der Kunstentwicklung möglich sind.“
Angesichts des unwiederbringlich versunkenen Zeitalters des [homerischen] Epos stellt sich die Schwierigkeit, warum die klassische griechische Literatur unter den Bedingungen einer arbeitsteilig warenproduzierenden bürgerlichen Gesellschaft so großen Gefallen findet und immer noch „ewigen Reiz“ ausübt: „Nehmen wir z.B. das Verhältnis der griechischen Kunst und dann Shakespeares zur Gegenwart. Bekannt, dass die griechische Mythologie nicht nur das Arsenal der griechischen Kunst, sondern ihr Boden. Ist die Anschauung der Natur und der gesellschaftlichen Verhältnisse, die der griechischen Phantasie und daher der griechischen [Mythologie] zugrunde liegt, möglich mit Selfactors [automatischen Spinnmaschinen] und Eisenbahnen und Lokomotiven und elektrischen Telegraphen? Wo bleibt Vulkan gegen Roberts et Co., Jupiter gegen den Blitzableiter und Hermes gegen den Crédit mobilier?“
Oder wie Marx 1857 weiter variiert: „Ist Achilles möglich mit Pulver und Blei? Oder überhaupt die Iliade mit der Druckerpresse oder gar Druckmaschine? Hört das Singen und Sagen und die Muse mit dem Pressbengel nicht notwendig auf, also verschwinden nicht notwendige Bedingungen der epischen Poesie. Aber die Schwierigkeit liegt nicht darin zu verstehen, dass griechische Kunst und Epos an gewisse gesellschaftliche Entwicklungsformen geknüpft sind. Die Schwierigkeit ist, dass sie für uns noch Kunstgenuss gewähren und in gewisser Beziehung als Norm und unerreichbare Muster gelten.“ (Lifschitz, 21= MEW 13, 640-642)
Marx und Engels kannten auch die aus Ludwig Feuerbach hergeleitete materialistische Ästhetik des russischen revolutionären Demokraten und „utopischen Sozialisten“ Nikolai G. Tschernyschewskij. Engels sprach 1874 in einer Streitschrift gegen Michail Bakunin von den beiden Radikaldemokraten Tschernyschewskij und Nikolai A. Dobroljubow als „sozialistischen Lessings“. Tschernyschewskij glaubt, so Engels weiter, dass es einen direkten Weg vom „russischen Bauernkommunismus“ zum „modernen sozialistischen Gemeineigentum an allen Produktionsmitteln“ gibt. (Lifschitz, 235-237 = MEW 18, 540, 664f.)[9]
Marx‘ und Engels‘ Kritik der Romantik
Mit Hegel und dessen (auch jakobinisch angeleiteter) Verehrung der griechischen Antike wandten sich Marx und Engels gegen die „moderne Mythologie“ der Romantik – gegen das irrational „Mystische, Räthselhafte, Wunderbare und Ueberschwengliche“, wie dies Heinrich Heine 1835 in seiner „Romantischen Schule“ formuliert hat.
Karl Marx‘ frühe Auseinandersetzung mit der „christlichen Kunst“, mit der romantischen Mystik, mit dem religiös bigotten Obskurantismus der „mondbeglänzten Zaubernacht“ ist nur indirekt belegt. Offenkundig lehnt er deren Auftreten unter dem Schein des geschichtlich Außerordentlichen, unter dem Schein einer skeptischen Gedankentiefe, einer aufklärungsfeindlichen sentimentalen Herzlichkeit oder einer freien Genialität bei gleichzeitiger gegenrevolutionärer Hinnahme von feudalherrlicher Unterdrückung, von religiösem Aberglauben, von Habgier und von Ausbeutung ab. Öffentlich formuliert dies Marx 1842 in seiner Abrechnung mit dem „philosophischen Manifest der historischen Rechtsschule“: „Ist daher Kants Philosophie mit Recht als die deutsche Theorie der französischen Revolution zu betrachten“, auch wenn sich Kants praktische Vernunft „bei dem bloßen ‚guten Willen‘“ beruhigt und Kant dessen Verwirklichung angesichts der „Ohnmacht, Gedrücktheit und Misere der deutschen Bürger … ins Jenseits“ verlegt, so ist Savignys Rechtshistorismus bzw. Hugos Naturrecht die offene deutsche Theorie des ancien régime. Ende 1843 spricht Marx dann in der Einleitung „zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ von der rechtshistorischen und damit auch von der romantischen Richtung als einer Schule, die „jeden Schrei des Leibeigenen gegen die Knute für rebellisch erklärt, sobald die Knute eine bejahrte, eine angestammte, eine historische Knute ist“. (Lifschitz, 189 = MEW 1, 80f. und MEW 1, 380)[10]
Friedrich Engels erprobte seine frühe – noch vorsozialistische – Romantik-Kritik 1842 etwa an Hand von „Schelling und die Offenbarung“, an Hand von Schellings „mythologischen und theosophischen Phantastereien“, dessen spätem gegen Hegel gerichteten Versuch, „die Versöhnung von Glauben und Wissen, von Philosophie und Offenbarung zustande zu bringen“, an Hand von Schellings Bemühen, die Vernunft als „schlechthin impotent“ abzutun, also am „Versuch, Autoritätsglauben, Gefühlsmystik, gnostische Phantasterei in die freie Wissenschaft des Denkens hineinzuschmuggeln“. (MEW Ergänzungsband II, 178f.)[11]
Deutsche literarische Vertreter der Romantik wie Novalis, Clemens Brentano oder die Brüder Schlegel finden bei Marx und Engels keine Erwähnung. Stellvertretend gilt, was sie über Francois Chateaubriand als französischen Protagonisten dieser Richtung anmerken. Marx hält diesen im Oktober 1854 für einen der Restauration dienenden „Schönschreiber, der aufs widerlichste den vornehmen Skeptizismus und Voltairianismus des XVIII. Jahrhunderts mit dem vornehmen Sentimentalismus und Romantizismus des XIX. vereint“ (Lifschitz, 193 = MEW 28, 404)
Und im November 1873 merkt Marx wieder in einem Brief an Engels an: Wenn Chateaubriand „in Frankreich so berühmt geworden ist, so, weil er in jeder Hinsicht die klassischste Inkarnation der französischen vanité, und diese vanité nicht im leichten frivolen Achtzehntenjahrhundertgewand, sondern romantisch verkleidet und in neugebacknen Redewendungen stolzierend; die falsche Tiefe, byzantinische Übertreibung, Gefühlskoketterie, buntfarbige Schillerei, word painting, theatralisch, sublime, in einem Wort ein Lügenmischmasch, wie er noch nie in Form und Inhalt geleistet worden.“ (Lifschitz, 193 = MEW 33, 96)
Marx und Engels über den „romantischen Antikapitalismus“
Im „Manifest der Kommunistischen Partei“ rechneten Marx und Engels mit der Literatur des romantischen Antikapitalismus ab, so mit jener des feudalen und kleinbürgerlichen Sozialismus. Die Vertreter einer restaurativen Aristokratie klagen aus eigennützigen Motiven die kapitalistische Verelendung an, zeigen sich als wenig glaubwürdige Ankläger der Bourgeoisie „im Interesse der exploitierten Arbeiterklasse“: „Auf diese Art entstand der feudalistische Sozialismus, halb Klagelied, halb Pasquill, halb Rückhall der Vergangenheit, halb Dräuen der Zukunft, mitunter die Bourgeoisie ins Herz treffend durch bittres, geistreich zerreißendes Urteil, stets komisch wirkend durch gänzliche Unfähigkeit, den Gang der modernen Geschichte zu begreifen. Den proletarischen Bettelsack schwenkten sie als Fahne in der Hand, um das Volk hinter sich her zu versammeln. Sooft es ihnen aber folgte, erblickte es auf ihrem Hintern die alten feudalen Wappen und verlief sich mit lautem und unehrerbietigem Gelächter. Ein Teil der französischen Legitimisten und das Junge England gaben dies Schauspiel zum besten.“ (Lifschitz, 191f. = MEW 4, 483)
Auch die sich vom Abstieg in das Proletariat bedroht fühlende Kleinbürgerschaft stimmt literarische Klagelieder an. Mit der Kapitalismuskritik Jean Sismondis enthüllt der kleinbürgerliche Sozialismus „die gleisnerischen Beschönigungen“ der bürgerlichen Ökonomen: „Er wies unwiderleglich die zerstörenden Wirkungen der Maschinerie und der Teilung der Arbeit nach, die Konzentration der Kapitalien und des Grundbesitzes, die Überproduktion, die Krisen, den notwendigen Untergang der kleinen Bürger und Bauern, das Elend des Proletariats, die Anarchie in der Produktion, die schreienden Missverhältnisse in der Verteilung des Reichtums, den industriellen Vernichtungskrieg der Nationen untereinander, die Auflösung der alten Sitten, der alten Familienverhältnisse, der alten Nationalitäten. Seinem positiven Gehalte nach will jedoch dieser Sozialismus entweder die alten Produktions- und Verkehrsmittel wiederherstellen und mit ihnen die alten Eigentumsverhältnisse und die alte Gesellschaft, oder er will die modernen Produktions- und Verkehrsmittel in den Rahmen der alten Eigentumsverhältnisse, die von ihnen gesprengt wurden, gesprengt werden mussten, gewaltsam wieder einsperren. In beiden Fällen ist er reaktionär und utopistisch zugleich. Zunftwesen in der Manufaktur und patriarchalische Wirtschaft auf dem Lande, das sind seine letzten Worte.“ (Lifschitz, 192 = MEW 4, 484f.)
Friedrich Engels hat 1843/44 für die „Deutsch-Französischen Jahrbücher“ Thomas Carlyles „Past and Present“ als Werk eines romantischen Antikapitalisten mit gewisser Anerkennung besprochen. Engels übersah aber nicht Carlyles „Kultus des Genies“, sein Ausgehen von einer „torystischen Romantik“, seine Rede von „wahrer Aristokratie“ oder seine religiöse Verklärung der mittelalterlichen Feudalherrschaft.
Mit Recht zeigt Carlyle aber – so Engels – gegen die liberal bürgerlichen Whigs, dass es unmöglich ist den Chartismus des englischen Proletariats zu liquidieren, ohne die Ursachen, den kapitalistisch verursachten Pauperismus, zu beheben. Vom Standpunkt einer idealistisch rückwärtsgewandten Kapitalismuskritik zeichnet Carlyle ein dramatisches Gesellschaftsbild, so Engels durchaus anerkennend: „Das ist die Lage Englands nach Carlyle. Eine faulenzende, grundbesitzende Aristokratie, die ‚noch nicht einmal gelernt hat, still zu sitzen und wenigstens kein Unheil anzustiften‘, eine arbeitende Aristokratie, die im Mammonismus versunken ist, (…), ein durch Bestechung gewähltes Parlament, eine Lebensphilosophie des bloßen Zusehens, des Nichtstuns, des Laissez-faire, eine ausgeschlissene bröcklige Religion, eine totale Auflösung aller allgemein menschlichen Interessen, eine universelle Verzweiflung an der Wahrheit und der Menschheit und infolgedessen eine universelle Isolierung der Menschen auf ihre ‚rohe Einzelnheit‘, eine chaotische, wüste Verwirrung aller Lebensverhältnisse, ein Krieg aller gegen alle, ein allgemeiner geistiger Tod, Mangel an ‚Seele‘, d.h. an wahrhaft menschlichem Bewusstsein: eine unverhältnismäßig starke arbeitende Klasse, in unerträglichem Druck und Elend, in wilder Unzufriedenheit und Rebellion gegen die alte soziale Ordnung, und daher eine drohende, unaufhaltsam voranrückende Demokratie – überall Chaos, Unordnung, Anarchie, Auflösung der alten Bande der Gesellschaft, überall geistige Leere, Gedankenlosigkeit und Erschlaffung.“ (Lifschitz, 199f. = MEW 1, 537f.)
Sogar unmittelbar nach der gescheiterten bürgerlichen Revolution von 1848 erkennt Engels 1850 an, dass Carlyles Klage über die verfaulten sozialen Institutionen „gerecht“ ist, auch wenn sie im Zeichen eines irrationalen Heroen-Kultus, einer pseudopantheistischen neuen Religiosität steht: „Thomas Carlyle hat das Verdient, literarisch gegen die Bourgeoisie aufgetreten zu sein, (…). Aber in allen diesen Schriften hängt die Kritik der Gegenwart eng zusammen mit einer seltsam unhistorischen Apotheose des Mittelalters“. Carlyles Gesellschaftskritik, seine Kritik der „freien Konkurrenz“ löst sich in einen „Geniekultus“ auf. Die geschichtliche Entwicklung verflüchtigt sich bei Carlyle „zur einfachen Moral aus der Zauberflöte und zu einem unendlich verkommenen und banalisierten Saint-Simonismus“. Carlyle fürchtet schlussendlich nämlich die plebejische „rote Republik“. Aus seinem „hoch beteuernden Edelmut“ und aus seinem „Phrasen- und Sentenzhimmel“ stürzt Carlyle notwendiger Weise doch in die „unverhüllte Niedertracht“ ab. So enden alle seine literarischen Angriffe „gegen die Bourgeoisverhältnisse und -ideen“ in der antidemokratischen „Apotheose“ der bürgerlichen Verhältnisse: „Die ‚neue Ära‘, worin der Genius herrscht, unterscheidet sich von der alten Ära also hauptsächlich dadurch, dass die Peitsche sich einbildet, genial zu sein. Der Genius Carlyles unterscheidet sich vom ersten besten Gefängniszerberus oder Armenvogt durch die tugendhafte Entrüstung und das moralische Bewusstsein, dass er die Paupers nur schindet, um sie zu seiner Höhe zu erheben. Wir sehen hier den hochbeteuernden Genius in seinem welterlösenden Zorn die Infamien der Bourgeois phantastisch rechtfertigen und übertreiben. Hatte die englische Bourgeoisie die Paupers den Verbrechern assimiliert, um vom Pauperismus abzuschrecken, hatte sie das Armengesetz von 1834 geschaffen, so klagt Carlyle die Paupers des Hochverrats an, weil der Pauperismus den Pauperismus erzeugt.“ (Lifschitz, 201f. = MEW 7, 264f.)
Engels gegen den „deutschen Sozialismus in Versen und Prosa“, gegen den „wahren Sozialismus“
Im „Manifest“ schließen Marx und Engels die in der „Deutschen Ideologie“ Mitte der 1840er Jahre einsetzende Kritik des „wahren Sozialismus“ und damit die Auseinandersetzung mit der Literatur eines ethisch moralisierenden „Liebessozialismus“ ab. In der „Deutschen Ideologie“ werfen sie 1845 dem „wahren Sozialismus“ vor, „einer Masse jungdeutscher Belletristen, Wunderdoktoren und sonstiger Literaten eine Tür zu Exploitation der sozialen Bewegung“ eröffnet zu haben.
Im „Manifest“ erklären sie die Flut an deutscher klagend jammernder Sozialliteratur aus der „deutschen Misere“, also aus den geschichtlich verzögerten Klassenkämpfen etwa gegenüber Frankreich. Soziale Kämpfe verlagern sich unter zurückgebliebenen Verhältnissen auf die Ebene des idealen philosophischen und ästhetischen Scheins: „So hatten für die deutschen Philosophen des 18. Jahrhunderts die Forderungen der ersten französischen Revolution nur den Sinn, Forderungen der ‚praktischen Vernunft‘ im allgemeinen zu sein, und die Willensäußerungen der revolutionären französischen Bourgeoisie bedeuteten in ihren Augen die [Immanuel Kant‘schen] Gesetze des reinen Willens, des Willens, wie er sein muss, des wahrhaft menschlichen Willens. (…) Die deutschen Literaten (…) schrieben ihren philosophischen Unsinn hinter das französische Original. Z.B. hinter die französische Kritik der Geldverhältnisse schrieben sie ‚Entäußerung des menschlichen Wesens‘, hinter die französische Kritik des Bourgeoisstaates schrieben sie ‚Aufhebung der Herrschaft des abstrakt Allgemeinen‘ usw. Die Unterschiebung dieser philosophischen Redensarten unter die französischen Entwicklungen tauften sie ‚Philosophie der Tat‘, ‚wahrer Sozialismus‘, ‚deutsche Wissenschaft des Sozialismus‘, ‚philosophische Begründung des Sozialismus‘ usw.“ An die Stelle „wahrer Bedürfnisse“ setzten sie „das Bedürfnis der Wahrheit, und statt der Interessen des Proletariats die Interessen des menschlichen Wesens“. Sie propagierten einen Menschen, „der keiner Klasse, der überhaupt nicht der Wirklichkeit, der nur dem Dunsthimmel der philosophischen Phantasie angehört“. (Lifschitz, 259f. = MEW 4, 485f.)
Friedrich Engels polemisierte Ende 1847 in der „Deutsch-Brüsseler-Zeitung“ gegen einen „deutschen Sozialismus in Versen und Prosa“, gegen einen resignativ auf Mitmenschlichkeit abstellenden „pomphaft-weinerlichen Sozialismus“, wie er ihn etwa in den hilflos pathetischen Klagen über den „armen Mann“ bei Karl Grün oder Karl Beck vorfand. In Karl Becks „Liedern vom armen Mann“ findet Engels nicht den kämpfend drohenden, sondern nur den bittstellend demütigen, den unterwürfigen, den ohnmächtigen Proleten fernab aller praktischen Kämpfe vor. Beck appelliert kleinmütig an die soziale Gesinnung der Reichen, etwa an jene des Hauses Rothschild. Er verliert sich in endlosen moralisch sentimentalen Reflexionen. Beck klagt, dass die Großbankiers keine sozialistischen Menschenfreunde sind: „Gleich in der Ouvertüre konstatiert [Beck] seine kleinbürgerliche Illusion, dass das Gold nach Rothschilds ‚Launen herrscht‘; eine Illusion, die eine ganze Reihe von Einbildungen über die Macht des Hauses Rothschild nach sich zieht. Nicht die Vernichtung der wirklichen Macht Rothschilds, der gesellschaftlichen Zustände, worauf sie beruht, droht der Dichter; er wünscht nur ihre menschenfreundliche Anwendung. Er jammert, dass die Bankiers keine sozialistischen Philanthropen sind, keine Schwärmer, keine Menschheitsbeglücker, sondern eben Bankiers. Beck besingt die feige kleinbürgerliche Misère, den ‚armen Mann‘, den pauvre honteux mit seinen armen, frommen und inkonsequenten Wünschen, den ‚kleinen Mann‘ in all seinen Formen, nicht den stolzen, drohenden und revolutionären Proletarier.“ Becks „Poesie des wahren Sozialismus“ bleibt ohnmächtig in der deutschen „Kleinbürgermisere“, in der „philanthropisch-heuchlerischen Kleinbürgerlichkeit“ gefangen. Beck trägt eine auf Naturdeismus begründete Lehre der „Bruderliebe und praktischen Religion“ vor. Nicht der kämpfende Arbeiterrebell, sondern der „verschämte Arme“ wird zum Helden dieser Literatur. (Lifschitz, 277 = MEW 4, 207, 221)
Auch Karl Grün bietet unter dem Einfluss von Ludwig Feuerbachs ethischer Liebeshumanität fernab aller Kritik der politischen Ökonomie ein „wahrsozialistisches“ Bild von Gefühl, Menschenliebe, Naturpathos, Naturidyll. Jeder kämpferische Arbeitersozialismus geht in „Bonhomie“, in den „verschiedenen Philosophien des Wesens des Menschen“ auf. Grün klagt – so Engels 1847 – über die „Schlechtigkeit der Revolution“. Grün propagiert einen belletristisch ausgeschmückten sozialfriedlichen Saint-Simonismus. Von der wirklichen „sozialen Bewegung“, etwa von den Klassenkämpfen in Frankreich, ahnt Grün nichts. Er fürchtet die „sanskülottische Armee“. Grün interessiert sich abseits aller gesellschaftlichen Widersprüche nur für ein „Evangelium vom Menschen, vom wahren Menschen“. (MEW 4, 227, 238)
Realismus I: Shakespeare und Goethe statt Schiller? („Sickingen-Debatte“)
In seiner Auseinandersetzung mit dem „wahren Sozialismus“ widerspricht Friedrich Engels 1847 Karl Grün, der Johann Wolfgang Goethe auf die Ebene eines Feuerbachschen Humanismus herabbrechen wollte. Goethe ist nach Marx und Engels nicht am „menschlichen“ Maßstab des bürgerlichen Vormärzliberalismus zu messen. Auch wenn Goethe dem deutschen gesellschaftlichen Elend, „einer spießbürgerlichen Scheu vor aller gegenwärtigen großen Geschichtsbewegung“ verfallen ist, auch wenn er sich wiederholt gegen die jakobinisch terroristische und plebejisch sansculottische Phase der Französischen Revolution gewandt hat, und auch wenn Goethe oft „hinter den unbedeutenden Weimarer Minister“ zurückgefallen ist, zählt er mit Shakespeare, Cervantes oder Diderot zu den Wegbereitern des bürgerlichen Realismus. Dies gilt, obwohl Goethe objektiv nicht in der Lage sein konnte, „die deutsche Misere zu besiegen“: „Goethe verhält sich in seinen Werken auf eine zweifache Weise zur deutschen Gesellschaft seiner Zeit. Bald ist er ihr feindselig; er sucht der ihm widerwärtigen zu entfliehen, wie in der ‚Iphigenie‘ und überhaupt während der italienischen Reise, er rebelliert gegen sie als Götz, Prometheus und Faust, er schüttelt als Mephistopheles seinen bittersten Spott über sie aus. Bald dagegen ist er ihr befreundet, ‚schickt‘ sich in sie, wie in der Mehrzahl der ‚Zahmen Xenien‘ und vielen prosaischen Schriften, feiert sie, wie in den ‚Maskenzügen‘, ja verteidigt sie gegen die andrängende geschichtliche Bewegung, wie namentlich in allen Schriften, wo er auf die französische Revolution zu sprechen kommt. (…) Es ist ein fortwährender Kampf in ihm zwischen dem genialen Dichter, den die Misère seiner Umgebung anekelt, und dem behutsamen Frankfurter Ratsherrenkind, resp. Weimarschen Geheimrat, der sich genötigt sieht, Waffenstillstand mit ihr zu schließen und sich an sie zu gewöhnen. So ist Goethe bald kolossal, bald kleinlich; bald trotziges, spottendes, weltverachtendes Genie, bald rücksichtsvoller, genügsamer enger Philister.“
Im „Kapital“ spricht Marx zwanzig Jahre später 1867 im Abschnitt über die „Verwandlung von Mehrwert in Kapital“ vom „faustischen Konflikt zwischen Akkumulations- und Genusstrieb“, der sich „in der Hochbrust des Kapitalindividuums“ abspielt. (MEW 23, 620) Georg Lukács hat in seinen „Fauststudien“ auf Marx‘ Interesse an Goethes historischem Realismus hingewiesen, so wenn Mephistopheles etwa in der Rolle des Hofnarren mitten in einer „zerfallenden feudalen Welt zum Erfinder des Papiergeldes“, von Staatsanleihen wird und durch diese Geldherrschaft erst recht zum beschleunigten Zerfall eines vor dem Staatsbankrott stehenden korrupt feudalen Kaiserreichs beiträgt.[12]
Wie Friedrich Schiller, der vor der hoffnungslosen deutschen Gegenwart in „die große Geschichte des alten Roms“ floh, und der in der Idee des „ästhetischen Staates“ den Widerspruch zwischen den egoistischen bourgeoisen Privatinteressen und dem Kant’schen moralischen Imperativ zu versöhnen suchte, war auch Goethe nach Engels zu „scharfblickend, um nicht zu sehen, wie diese Flucht sich schließlich auf die Vertauschung der platten mit der überschwenglichen Misère reduzierte“, allerdings: „Goethe war zu universell, zu aktiver Natur, zu fleischlich, um in einer Schillerschen Flucht in das Kantsche Ideal Rettung vor der Misère zu suchen.“ (Lifschitz, 218f. = MEW 4, 232f.)
Vierzig Jahre später sprach sich Engels 1888 in seinem Feuerbach-Buch noch einmal gegen Schillers idealistische Ästhetik aus: „Niemand hat den ohnmächtigen Kantschen ‚kategorischen Imperativ‘ – ohnmächtig, weil er das Unmögliche fordert, also nie zu etwas Wirklichem kommt – schärfer kritisiert, niemand die durch Schiller vermittelte Philisterschwärmerei für unrealisierbare Ideale grausamer verspottet (siehe z.B. die Phänomenologie) als grade der vollendete Idealist Hegel.“ (Lifschitz, 239 = MEW 21, 281)[13]
Im Rahmen der „Sickingen-Debatte“ haben Marx und Engels Ferdinand Lassalle 1859 aufgefordert, sich weniger an Friedrich Schillers allgemein argumentativer Rhetorik denn an William Shakespeares realistischer Technik zu orientieren. Dies hätte Lassalle unter anderem dazu führen können, für sein verschlüsseltes, an der gescheiterten bürgerlichen Demokratie von 1848 orientiertes Schauspiel nicht mit Sickingen einen Protagonisten des untergehenden niederen Ritteradels, sondern mit dem Sozialrebellen Thomas Münzer einen Anführer des plebejisch-bäuerlichen Widerstandes zu gestalten. Lassalle hätte die „grollende Bauernbewegung“, die „Bundschuhe und den armen Konrad“ besser positionieren können. Im April 1859 schreibt Karl Marx dementsprechend an Lassalle: „Du hättest dann von selbst mehr Shakespearisieren müssen, während ich Dir das Schillern, das Verwandeln von Individuen in bloße Sprachröhren des Zeitgeistes, als bedeutendsten Fehler anrechne. Bist du nicht selbst gewissermaßen, wie Dein Franz v. Sickingen, in den diplomatischen Fehler gefallen, die lutherisch-ritterliche Opposition über die plebejeisch-Münzersche zu stellen? (…) Im einzelnen muss ich hier und da übertriebnes Reflektieren der Individuen über sich selbst tadeln – was von Deiner Vorliebe für Schiller herrührt.“
Friedrich Engels gesteht Lassalle im Mai 1859 zu, dass die handelnden Personen des „Sickingen“ durchaus „Repräsentanten bestimmter Klassen und Richtungen“ sind. Deren Motive wären aber „mehr durch den Verlauf der Handlung selbst lebendig, aktiv, sozusagen naturwüchsig“ zu gestalten und weniger plakativ in „argumentierende Debatte“. Auch dies wäre mit mehr Blick auf Shakespeare realisierbar gewesen: „Worauf Sie aber nicht, wie mir scheint, den gehörigen Nachdruck gelegt haben, sind die nichtoffiziellen, plebejischen und bäurischen Elemente mit ihrer daneben laufenden theoretischen Repräsentation. Die Bauernbewegung war in ihrer Weise ebenso national, ebenso gegen die Fürsten gerichtet wie die des Adels, und die kolossalen Dimensionen des Kampfs, in dem sie erlag, stechen sehr bedeutend ab gegen die Leichtigkeit, mit der der Adel, Sickingen im Stich lassend, sich in seinem historischen Beruf des Schranzentums ergab. Auch für Ihre Auffassung des Dramas, die mir, wie Sie gesehen haben werden, etwas zu abstrakt, nicht realistisch genug ist, scheint mir daher die Bauernbewegung ein näheres Eingehen verdient zu haben; die Bauernszene mit Joß Fritz ist zwar charakteristisch und die Individualität dieses ‚Wühlers‘ sehr richtig dargestellt, allein sie repräsentiert nicht mit hinreichender Wucht, der Adelsbewegung gegenüber, den damals schon hoch anschwellenden Strom der Bauernagitation.“
Hätte Lassalle „über dem Ideellen das Realistische, über Schiller den Shakespeare“ nicht vergessen, so Engels in Kenntnis von Marx‘ Argument, hätte er auch die „bunte plebejische Gesellschaftssphäre“ zur „Belebung des Dramas … ins rechte Licht“ setzen können: „Welch wunderlich bezeichnende Charakterbilder gibt nicht diese Zeit der Auflösung der Feudalverbände in den vagierenden Bettlerkönigen, brotlosen Landsknechten und Abenteurern aller Art – ein Falstaffscher Hintergrund, der in einem in diesem Sinn historischen Drama noch effektvoller sein müsste als bei Shakespeare!“ (Lifschitz, 115 = MEW 29, 603)
Wenn er schon kein Thomas Münzer-Motiv wählen wolle – Lassalle selbst hielt dies für nicht möglich, so schien Marx jedenfalls Goethes „miserable“ Götz-Figur historisch realistischer: „Sickingen (und mit ihm Hutten, mehr oder minder) ging nicht unter an seiner Pfiffigkeit. Er ging unter, weil er als Ritter und als Repräsentant einer untergehenden Klasse gegen das Bestehende sich auflehnte oder vielmehr gegen die neue Form des Bestehenden. Streift man von Sickingen ab, was dem Individuum in seiner besondern Bildung, Naturanlage usw. angehört, so bleibt übrig – Götz von Berlichingen. In diesem letztern miserablen Kerl ist der tragische Gegensatz des Rittertums gegen Kaiser und Fürsten in seiner adäquaten Form vorhanden, und darum hat Goethe mit Recht ihn zum Helden gemacht.“ (Lifschitz, 111f. = MEW 29, 591f.)[14]
Bürgerlicher Realismus II: Cervantes – Diderot - Balzac
Von Shakespeare, Cervantes, Diderot oder Goethe ausgehend zeichneten Marx und Engels über viele Werk- und Korrespondenzstellen verstreut eine Linie zum bürgerlichen Realismus des 19. Jahrhunderts.
Mit Miguel Cervantes‘ „Leben und Taten des scharfsinnigen Edlen Don Quijote von La Mancha“ zogen Marx und Engels schon 1845 in der „Deutschen Ideologie“ gegen Max Stirners „Einzigen“ ins Feld. Für eine geplante Arbeit zum gescheiterten Übergang des kolonialistischen spanischen Weltimperiums in die kapitalistische Moderne half Marx der „Don Quijote“ „auf die Sprünge“. (MEW 10, 389)
Den bürgerlichen politischen Ökonomen fehlt es an Verständnis für vorkapitalistische Produktionsformen, die sie abhandeln wie „die Kirchenväter vorchristliche Religionen“. Es fehlt ihnen an wirklichem Verständnis der Differenz von „Sklavenarbeit“ und „Lohnarbeit“, so Marx 1867 im Abschnitt über den „Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis“: Allein „schon Don Quixote [hat] den Irrtum gebüßt, dass er die fahrende Ritterschaft mit allen ökonomischen Formen der Gesellschaft gleich verträglich wähnte.“ (MEW 23, 96)
Es sprach für Cervantes‘ Realismus, wenn Marx glaubte in einem Werk der Phantasie, der wahnhaften Welt der erledigten Ritterromane Aufklärung über die spanische Geschichte zu finden. Ähnliches gilt für die Sozialsatire von Jonathan Swift oder für die Kritik der von Marx aus Daniel Defoes Werk hergeleiteten „Robinsonaden“ der politischen Ökonomie des 18. Jahrhunderts.[15]
Im April 1869 sendet Marx ein Exemplar von Denis Diderots „Rameaus Neffe“ an Engels mit dem „old Hegel“ entlehnten Hinweis auf die sich darin „aussprechende Zerrissenheit des [bürgerlichen Citoyen-] Bewusstseins“ als dem „Hohngelächter über das Dasein sowie über die Verwirrung des Ganzen und über sich selbst“, auf das in „ungebildeter Gedankenlosigkeit“ endende „ehrliche Bewusstsein“, - Marx weiter Hegel zitierend: „Der Inhalt der Rede des Geistes von und über sich selbst ist also die Verkehrung aller Begriffe und Realitäten, der allgemeine Betrug seiner selbst und der Andern, und die Schamlosigkeit, diesen Betrug zu sagen, ist eben darum die größte Wahrheit … Dem ruhigen Bewusstsein, das ehrlicherweise die Melodie des Guten und Wahren in die Gleichheit der Töne, d.h. in Eine Note setzt, erscheint diese Rede als ‚eine Faselei von Weisheit und Tollheit‘ etc.“ (Lifschitz, 185 = MEW 32, 303)
1854 findet Marx im Realismus der englischen „gegenwärtigen glänzenden Schule der Romanschriftsteller“ viel „mehr politische und soziale Wahrheit enthüllt“, als bei allen ökonomischen Publizisten zusammen. Unter einigen anderen hat ein Charles Dickens „jede Schicht der Bourgeoisie beschrieben, vom ‚allervornehmsten‘ Rentier und Inhaber von Staatspapieren (…) bis zum kleinen Ladenbesitzer und Advokatengehilfen. Und wie haben Dickens, Thackeray, Fräulein Bronte und Frau Gaskell sie gezeichnet. Voller Anmaßung, Heuchelei, kleinlicher Tyrannei und Ignoranz“. Im „Kapital“ lässt Marx 1867 den „berühmten Gurgelschneider“ Bill Sikes aus Dickens‘ „Oliver Twist“ auftreten, um die ausbeuterisch „kapitalistische Anwendung der Maschinerie“ zu verdeutlichen. (Lifschitz, 231 = MEW 10, 648 und MEW 23, 465f.)[16]
Im dritten Band des „Kapital “ wiederholt Marx an Hand von Honoré de Balzacs „Bauern“-Roman die Einschätzung, wonach die bürgerlichen Realisten mehr gesellschaftliche Wahrheit bieten als alle akademische Gelehrsamkeit. Das Unglück der in die kapitalistische Warenwirtschaft gerissenen kleinen, teils Frondienste, teils ruinöse Zinsdienste leistenden Parzellenbauern und der landproletarischen Massen wird von Balzac bis in das letzte Detail beschrieben: „In seinem letzten Roman, den ‚Paysans‘, stellt Balzac, überhaupt ausgezeichnet durch tiefe Auffassung der realen Verhältnisse, treffend dar, wie der kleine Bauer, um das Wohlwollen seines Wucherers zu bewahren, diesem allerlei Arbeiten umsonst leistet und ihm damit nichts zu schenken glaubt, weil seine eigne Arbeit ihm selbst keine bare Auslage kostet. Der Wucherer seinerseits schlägt so zwei Fliegen mit einer Klappe. Er erspart bare Auslage von Arbeitslohn und verstrickt den Bauer, den die Entziehung der Arbeit vom eignen Feld fortschreitend ruiniert, tiefer und tiefer in das Fangnetz der Wucherspinne.“ Zu Balzacs Figur des irrational schatzhortenden, die Logik der kapitalistischen Akkumulation grotesk missverstehenden Wucherers Gobseck merkte Marx schon 1867 an: „So ist bei Balzac, der alle Schattierungen des Geizes so gründlich studiert hatte, der alte Wucherer Gobseck schon verkindischt, als er anfängt, sich einen Schatz aus aufgehäuften Waren zu bilden.“ (Lifschitz, 230 = MEW 25, 49 und MEW 23, 615)
Friedrich Engels spricht 1888 von Balzac als einem „weit größeren Meister des Realismus“ – „alle Zolas passés, présents et à venir“ überragend: Der monarchistisch gesinnte Adelige Balzac „gibt uns in ‚La Comédie humaine‘ eine wunderbar realistische Geschichte der französischen ‚Gesellschaft‘, indem er in der Art einer Chronik fast Jahr für Jahr von 1816 bis 1848 die fortschreitenden Einbrüche der aufsteigenden Bourgeoisie in die Gesellschaft der Adligen schildert, die sich nach 1815 rekonstituierte und, soweit sie es vermochte, den Standard der vieille politesse francaise wieder herstellte. Er schildert, wie die letzten Überreste dieser für ihn musterhaften Gesellschaft allmählich dem Eindringen des vulgären, reichen Emporkömmlings nachgaben oder von ihm zersetzt wurden“.
Wie Marx sieht Engels im reaktionären Legitimisten und royalistischen Adelsfreund Balzac den präzisen Anatomen der bürgerlichen Gesellschaft. Er zieht Balzacs literarische Bilder vielen historischen, sozialwissenschaftlichen und nationalökonomischen Studien vor, denn Balzac bietet „eine vollständige Geschichte der französischen Gesellschaft, aus der ich, sogar in den ökonomischen Einzelheiten (zum Beispiel die Neuverteilung des beweglichen und unbeweglichen Eigentums nach der Revolution) mehr gelernt habe als von allen berufsmäßigen Historikern, Ökonomen und Statistikern dieser Zeit zusammengenommen. Gewiss, Balzac war politisch ein Legitimist, sein großes Werk ist ein ständiges Klagelied über den unaufhaltsamen Verfall der guten Gesellschaft; alle seine Sympathien gehören der Klasse, die zum Untergang verurteilt ist. Aber trotz alledem ist seine Satire niemals schärfer, seine Ironie niemals bitterer, als dann, wenn er eben die Männer und Frauen in Bewegung setzt, mit denen er zutiefst sympathisiert, - die Adligen. Und die einzigen Leute, von denen er immer mit unverhohlener Bewunderung spricht, sind seine schärfsten politischen Gegner, die republikanischen Helden vom Cloitre Saint Méry, die Männer, die zu dieser Zeit (1830 bis 1836) in der Tat die Vertreter der Volksmassen waren.“
Größe und Triumph von Balzacs Realismus bestehen für Engels gerade darin, dass er gegen die eigenen Klasseninteressen anzuschreiben vermag: „Dass Balzac so gezwungen war, gegen seine eigenen Klassensympathien und politischen Vorurteile zu handeln, dass er die Notwendigkeit des Untergangs seiner geliebten Adligen sah und sie als Menschen schilderte, die kein besseres Schicksal verdienen; und dass er die wirklichen Menschen der Zukunft dort sah, wo sie damals allein zu finden waren, - das betrachte ich als einen der größten Triumphe des Realismus und als einen der großartigsten Züge des alten Balzac.“ (Lifschitz, 105f. = MEW 37, 43f.)
Was Balzac für Marx und Engels ist, das sollte Tolstoi für Lenin werden. Obwohl Tolstoi wie Balzac mystisch vernunftfeindliche, rückschrittliche und offen revolutionsfeindliche Positionen vertritt, zeichnet er als großer Realist die russische Dorfarmut, die Unterjochung und Hörigkeit der Kleinbauern, die patriarchalische ländliche Abhängigkeit und die Korruption der russischen Grundbesitzercliquen nach. Obwohl Tolstoi sich als asketischer „Narr in Christo gefällt“, eine erneuerte Religion „des Verzichts“ predigt und jeden sozialen Widerstand ablehnt, zeichnet Tolstoi ein Bild von der barbarischen „ursprünglichen Akkumulation“, in die das „alte patriarchalische“ Russland seit 1861 unter dem Einfluss des internationalen Finanzkapitals hineingerissen worden war. Aller reaktionären Gesinnung, aller „widerwärtigen Pfäfferei“ zum Trotz findet Lenin 1908 in Tolstois Werk „nüchternsten Realismus“, das „Herunterreißen jeglicher Masken“, „aufrichtigen Protest gegen gesellschaftliche Verlogenheit und Heuchelei“, sowie „schonungslose Kritik an der kapitalistischen Ausbeutung, Entlarvung der Gewalttaten der Regierung, der Justiz- und Staatsverwaltungskomödie“ vor.[17]
Marx und Engels hielten wenig vom sentimental sozialen Elends- und Kolportageroman im Stil von Eugène Sues „Geheimnissen in Paris“, dem sie 1845 in der „Heiligen Familie“ zwar zubilligten, dass er in seinen Fortsetzungsgeschichten als einer der Ersten die proletarische Armut erfasst und durchaus Elend und Demoralisierung, die auf den „‚niederen Klassen‘ in den Großstädten lasten“, beschrieben hat. Allein Sue lasse das „niederträchtige Bewusstsein“ der Plebejer nicht zum „empörten Bewusstsein“ anwachsen. Er verwandelt es vielmehr in eine billige, von bürgerlich-adeliger Gönnergesinnung gegängelte Spießbürgermoral. Sue sucht die Aussöhnung mit der bürgerlichen Gesellschaft, indem er von einer gerade in Armut und Elend bewahrten Seelenschönheit schwadroniert.
Auch ein Victor Hugo entspricht mit seiner moralisierenden Tendenz als Gegner des bonapartistischen Staatsstreichs von 1851 nicht Marx‘ Ansprüchen an einen kritischen Realismus: „Victor Hugo beschränkt sich [in seinem ‚Napoléon le Petit‘] auf bittre und geistreiche Invektive gegen den verantwortlichen Herausgeber des Staatsstreichs. Das Ereignis selbst erscheint bei ihm wie ein Blitz aus heitrer Luft. Er sieht darin nur die Gewalttat eines einzelnen Individuums. Er merkt nicht, dass er dies Individuum groß statt klein macht, indem er ihm eine persönliche Gewalt der Initiative zuschreibt, wie sie beispiellos in der Weltgeschichte dastehen würde.“ Marx hingegen geht es 1852 in seinem „achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte“ darum zu zeigen, „wie der Klassenkampf in Frankreich Umstände und Verhältnisse schuf, welche einer mittelmäßigen und grotesken Personage das Spiel der Heldenrolle ermöglichen“. (Lifschitz, 212 = MEW 8, 358)
Realismus und Tendenz?
Friedrich Engels selbst erklärte wiederholt, durchaus kein Gegner einer Tendenzpoesie zu sein, aber sie darf nicht plakativ demonstrativer Art sein. Sie darf nicht abstrakt allgemein in das bloß subjektiv Gesinnungshafte abgleiten. Parteilichkeit – Tendenz – sei an sich noch kein Widerspruch zum Realismus, aber: „Je mehr die Ansichten des Autors verborgen bleiben, desto besser für das Kunstwerk.“
Sowohl Äschylus, der „Vater der Tragödie“ als auch Aristophanes, „der Vater der Komödie“, seien „starke Tendenzpoeten, nicht minder Dante und Cervantes“, so der späte Engels 1885: Und „es ist das Beste an Schillers ‚Kabale und Liebe‘, dass sie das erste deutsche politische Tendenzdrama ist. Die modernen Russen und Norweger, die ausgezeichnete Romane liefern, sind alle Tendenzdichter. Aber ich meine, die Tendenz muss aus der Situation und Handlung selbst hervorspringen, ohne dass ausdrücklich darauf hingewiesen wird, und der Dichter ist nicht genötigt, die geschichtliche zukünftige Lösung der gesellschaftlichen Konflikte, die er schildert, dem Leser in die Hand zu geben.“ Der künftige „sozialistische Tendenzroman“ erfülle „seinen Beruf, wenn er durch treue Schilderung der wirklichen Verhältnisse die darüber herrschenden konventionellen Illusionen zerreißt, den Optimismus der bürgerlichen Welt erschüttert, den Zweifel an der ewigen Gültigkeit des Bestehenden unvermeidlich macht, auch ohne selbst direkt eine Lösung zu bieten, ja unter Umständen ohne selbst Partei ostensibel zu ergreifen.“ (Lifschitz, 102 = MEW 36, 394)
Das revolutionäre politische Volkslied
Zeitlebens studierten Marx und Engels die Tradition des (politischen) Volksliedes, des sozialrebellischen Kampfliedes. 1865 übersetzte Engels für den „Social-Demokraten“ das aus der Zeit des „mittelalterlichen Bauernkrieges“ stammende altdänische, sozial widerständige Volkslied „Herr Tidmann“: „In einem Lande wie Deutschland, wo die besitzende Klasse ebensoviel Feudaladel wie Bourgeoisie und das Proletariat ebensoviel oder mehr Ackerbau-Proletarier als industrielle Arbeiter enthält, wird das kräftige alte Bauernlied grade am Platze sein.“ (Lifschitz, 240 = MEW 16, 33f.)
1885 wird Engels das aus der Zeit der Reformation und Bauernkriege stammende Trutzlied „Ein‘ feste Burg ist unser Gott“ als Kampflied der aufständischen Bauern und Plebejer empfehlen und zur „Marseillaise des Bauernkriegs“ erklären. Zur revolutionären Dichtung der Vergangenheit merkt Engels an: „Überhaupt ist die Poesie vergangner Revolutionen (die ‚Marseillaise‘ stets ausgenommen) für spätere Zeiten selten von revolutionärem Effekt, weil sie, um auf die Massen zu wirken, auch die Massenvorurteile der Zeit wiedergeben muss – daher der religiöse Blödsinn selbst bei den Chartisten.“ (Lifschitz, 241 = MEW 36, 314f.)
Schon 1845 hat Engels in der „Lage der arbeitenden Klasse in England“ revolutionäre Chartistenlieder wider das Lohnsklaventum, gegen das Fabriksystem von „König Dampf“ beschrieben, - die Fabrikherren, die „weiße Sklaven“ schaffen, denen Kinder „Fraß sind“, die „Gold aus Blut zaubern“: „Stürzen muss sie des Volkes Zorn / Wie das Scheusal, ihren Gott“. Engels fügt an: „Der Leibeigne opfert sich seinem Herrn im Kriege – der Fabrikarbeiter im Frieden. Der Herr der Leibeigenen war ein Barbar, er betrachtete seinen Knecht wie ein Stück Vieh; der Herr des Arbeiters ist zivilisiert, er betrachtet diesen wie eine Maschine.“ (Lifschitz, 242f. = MEW 2, 405f.)
Im Sommer 1844 hat Karl Marx auf das revolutionäre Lied „Das Blutgericht“, das wenige Wochen zuvor am Vorabend des schlesischen Weberaufstandes anonym entstanden ist, verwiesen: „Zunächst erinnere man sich an das Weberlied, an diese kühne Parole des Kampfes, worin Herd, Fabrik, Distrikt nicht einmal erwähnt werden, sondern das Proletariat sogleich seinen Gegensatz gegen die Gesellschaft des Privateigentums in schlagender, scharfer, rücksichtsloser, gewaltsamer Weise herausschreit.“ Das Lied der Weberbewegung zeigt „theoretischen und bewussten Charakter“. (Lifschitz, 244 = MEW 1, 404)[18]
Friedrich Engels wiederum setzte 1850 seinem Rückblick auf die Revolution „Die deutsche Reichsverfassungskampagne“ einen variierten Refrain aus dem „Heckerlied“ in Erinnerung an den südwestdeutschen Revolutionär Friedrich Hecker voran: „Hecker, Struve, Blenker, Zitz und Blum / Bringt die deutschen Fürsten um!“ (Lifschitz, 241f. = MEW 7, 111 und MEW 36, 314f.)
Politische Vormärzdichtung (F. Freiligrath, G. Herwegh, H. Heine, G. Weerth)
Nach ihrem sukzessiven Übergang auf Positionen der proletarisch sozialistischen Demokratie ab 1843/44 orientierten Marx und Engels vermehrt auf die politische Vormärz-Dichtung, auf die revolutionäre Lyrik und „Tendenzpoesie“ im Umfeld von Heinrich Heine, Georg Herwegh oder Ferdinand Freiligrath.
Ferdinand Freiligraths politische Lyrik fand Marx‘ und Engels‘ Anerkennung allerdings nur für die wenigen Momente, in denen Freiligrath als (proletarisch) revolutionärer Dichter gelten konnte, so 1848 als Redakteur der „Neuen Rheinischen Zeitung“. In den Jahren unmittelbar vor 1848, in denen Freiligrath zeitweise sogar glaubte, der Poet müsse auf einer „höheren Warte“ über „den Zinnen“ einer politischen Partei stehen, galt er Friedrich Engels als harmloser „wahrer Sozialist“, in den postrevolutionären Exiljahren nach 1848 galt er Marx als Renegat im Lager der bürgerlichen Demokratie.
Friedrich Engels ordnet Freiligraths Gedichtsammlung „Ca ira“ 1847 als eine revolutionsgemütliche „deutsche Marseillaise“ der Literatur des „wahren Sozialismus“ zu: „‘Auf des Besitzes Silberflotten / Richte kühn der Kanonen Schlund / Auf des Meeres rottigem Grund / Lass der Habsucht Schätze verrotten.‘ Das ganze Lied ist übrigens so gemütlich abgefasst, dass es trotz des Versmaßes am besten nach der Melodie ‚Auf Matrosen, die Anker gelichtet‘ zu singen ist.“ Wenn „Freiligrath eine Revolution macht“, dann geht alles „so rasch, so flott, dass über der ganzen Prozedur gewiss keinem einzigen Mitglied des ‚Proletarier-Bataillons‘ die Pfeif ausgegangen ist. Man muss gestehen, nirgends machen sich die Revolutionen mit größerer Heiterkeit und Ungezwungenheit als im Kopf unsres Freiligrath.“ Nur reaktionäre Blätter können – so Engels – in „solch einer unschuldigen, idyllischen [Freiligrath‘schen] Landpartie Hochverrat wittern“. (Lifschitz, 268f. = MEW 4, 278f.)
1859 spricht Marx vom „dicken Philister Freiligrath“, der im Jubiläumsjahr einem bürgerlichen Schillerkult verfallen ist, der sich in diversen Emigrantenzirkeln gegen die Mitglieder des ehemaligen „Bundes der Kommunisten“ an die Seite des nationalliberalen „Belletristenpack“ gestellt hat, der zum „Familienpoeten“ verkommen ist, der 1860 in einem Brief an Marx wieder einmal seine „Freiheit“ als Poet einmahnt und glaubt, dass die sozialistische Partei ein Käfig sei und es sich deshalb „besser draus als drin“ singt.
Schlussendlich wird Freiligrath 1870/71 zum Epigonen eines Bismarckianertums, zum Verherrlicher des preußischen Kriegs gegen Frankreich und somit zum Sänger auf das „stolze Weib Germania“: „Freiligrath: ‚Hurra! Germania!‘ Auch ‚Gott‘ fehlt nicht in seinem mühsam herausgefurzten Gesang und der ‚Gallier‘.“ Und Marx fügt seinem Brief an Engels am 22. August 1870 vor dem Hintergrund des deutsch-französischen Krieges mit Shakespeares „König Heinrich IV.“ an: „Lieber wär‘ ich ein Kätzchen und schrie Miau / Als solch ein Versballadenkrämer!“ (Lifschitz, 378, 408 = MEW 33, 47)[19]
Karl Marx interessierte sich Anfang der 1840er Jahre für Georg Herweghs soziale Poesie. Gewissen Anzeichen zufolge studierte Herwegh den utopischen Sozialismus von Charles Fourier. Herwegh wandte sich aber rasch von allen sozialistischen Idealen ab. Er reagierte etwa 1844 schon nicht mehr auf den schlesischen Weberaufstand. Auch Herweghs Beteiligung an einer „Deutschen demokratischen Legion“, die 1848 im deutschen Südwesten mit Waffengewalt einen revolutionären Umsturz herbeiführen wollte, wurde von Marx als putschistisches Abenteurertum abgelehnt. Nach dem Scheitern der „Legion“ stand Herwegh abseits der weiteren Revolutionsbewegung. 1859 protestierte Marx, weil in einem demokratischen Blatt ein „hurrapatriotisches Saugedicht“ von Herwegh abgedruckt worden war. Herweghs in den 1860er Jahren einsetzende Rückkehr zum (Lassalleschen) „Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein“, zur sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, seine Sympathie für die 1864 gegründete „Internationale Arbeiterassoziation“ und vor allem Herweghs 1863 entstandenes „Bundeslied“ („Mann der Arbeit aufgewacht! / Und erkenne Deine Macht! / Alle Räder stehen still, / Wenn Dein starker Arm es will.“) wurde von Marx und Engels nicht mehr kommentiert. (Lifschitz, 368 =MEW 29, 466)[20]
Heinrich Heines Zögern, sich konsequent der proletarisch-revolutionären Demokratie anzuschließen, und sein ständiges ambivalentes Schwanken zwischen Angst vor dem Kommunismus und seiner Sympathie zu ihm, zwischen seiner Furcht, die kultur- und zivilisationsfeindlichen Proletarier könnten „seine Lorbeerhaine zerstören und dort Kartoffeln pflanzen“, und seiner Forderung „für alle Menschenkinder, auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust!“, änderte nichts an Marx‘ und Engels‘ Naheverhältnis zu Heines politischer Lyrik. 1844 konnte Heines „Deutschland. Ein Wintermärchen“ über Marx‘ Vermittlung im Pariser Exil-„Vorwärts“ in Fortsetzungen erscheinen.
Friedrich Engels – 1839 noch Gegner von Heines „Anti-Börne“ – übersetzte 1844 für die von Robert Owen gegründete Londoner „New Moral World“ Heinrich Heines „Weberlied“ („Die schlesischen Weber“) ins Englische. Engels erklärt, dass sich Heine, „der hervorragendste unter allen lebenden deutschen Dichtern“ sich „uns angeschlossen“ hat und einen „Band politischer Lyrik“ veröffentlicht hat, „der auch einige Gedichte enthält, die den Sozialismus verkünden“. (MEW 2, 509-513)[21]
Hat Karl Marx 1844 Wilhelm Weitlings „Garantien der Harmonie und Freiheit“ (1842) als das „brillante literarische Debut der deutschen Arbeiter“ bezeichnet, (MEW 1, 405) so spricht Friedrich Engels 1883 von Georg Weerth als dem „ersten und bedeutendsten Dichter des deutschen Proletariats“. Engels veröffentlicht 1883 im „Sozialdemokrat“ aus dem gefährdet zerstreuten Nachlass Weerths „Handwerksburschenlied“ (1846). Über Georg Weerth, der 1848 als Feuilletonredakteur der „Neuen Rheinischen Zeitung“ „Leben und Thaten des berühmten Ritters Schnapphahnski“ veröffentlichte, merkt Engels an, dass „seine sozialistischen und politischen Gedichte“ – wie das „Hungerlied“ [„Verehrter Herr und König, / Weißt du die schlimme Geschicht? / Am Montag aßen wir wenig / Und am Dienstag aßen wir nicht. […] Drum lass am Samstag backen / Das Brot, fein säuberlich / Sonst werden wir sonntags packen / Und fressen, o König, dich!“] – mit ihrer plebejisch-proletarischen „robusten“ Sinnlichkeit an „Fleischeslust“ und Kampfkraft jenen „Freiligraths an Originalität, Witz und namentlich an sinnlichem Feuer weit überlegen“ sind: „Er wandte oft Heinesche Formen an, aber nur, um sie mit einem ganz originellen, selbständigen Inhalt zu erfüllen.“
Weerths Zeilen von der Arbeiterklasse, die „selbst den Fels beiseite rollt“, die sich „mit dem Schwert aus den Ketten“ rettet, zeigen proletarisch-revolutionären Charakter. Weerth hat die ersten klassenbewussten Proletarier der deutschen Literatur gezeichnet. Die Arbeiter, die Handwerksburschen in Weerths Gedichten sind klassenbewusst draufgängerische, teils schon internationalistisch gesinnte Proletarier. So beschreibt Weerth englische Arbeiter, die den Aufstand der schlesischen Weber begrüßen. (Lifschitz, 409-411 = MEW 21, 5-8)[22]
[1] „Der Lifschitz“: Karl Marx – Friedrich Engels: Über Kunst und Literatur. Eine Sammlung aus ihren Schriften, herausgegeben von Michail Lifschitz. Mit einem Vorwort von Fritz Erpenbeck, Verlag Bruno Henschel und Sohn, Berlin 1948 (im Folgenden im Text laufend kurz als „Lifschitz“ zitiert).
[2] Vgl. dazu Hans Koch: Marxismus und Ästhetik. Zur ästhetischen Theorie von Karl Marx, Friedrich Engels und Wladimir Iljitsch Lenin, Berlin 1961, sowie Karl Marx – Friedrich Engels: Über Kunst und Literatur hrg. von Manfred Kliem, 2 Bände, Berlin 1967/68.
[3] Georg Lukács, Gelebtes Denken. Eine Autobiographie im Dialog, Frankfurt 1981, 140f.
[4] Vgl. Michail Lifschitz: Karl Marx und die Ästhetik, Dresden 1960, 10-14. Vgl. auch Michail Lifschitz: Krise des Hässlichen. Vom Kubismus zur Pop-Art, Dresden 1971.
[5] Georg Lukács: Es geht um den Realismus (1938), in derselbe: Essays über den Realismus (Werke 4), Neuwied-Berlin 1971, 313-343, hier 320f.
[6] Vgl. Georg Lukács: Einführung in die ästhetischen Schriften von Marx und Engels (1952), in derselbe: Probleme der Ästhetik (Werke 10), Neuwied-Berlin 1969, 205-231 und Georg Lukács: Friedrich Engels als Literaturtheoretiker und Literaturkritiker (1935), in ebenda, 505-535.
[7] Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844) in: Marx-Engels-Werke, Ergänzungsband I, Berlin 1981, 465-588 [= Marx-Engels-Werke, hrg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED, 44 Bände, Berlin 1956ff., künftig fortlaufend im Text als „MEW“ zitiert.]
[8] Vgl. Lessings Voltaire-Epigramm „Der liebe Gott verzeih‘ aus Gnade / Ihm seine Henriade.“ Franz Mehring: Die Lessing-Legende [1893] (Gesammelte Schriften 9), Berlin 1963, 237f.
[9] Marx spricht 1873 im Nachwort zur zweiten Auflage des ersten „Kapital“-Bandes von Tschernyschewskij als dem hervorragenden Kritiker der bürgerlich apologetischen Vulgärökonomie. Lenin war begeisterter Leser von Tschernyschewskijs Roman „Was tun?“ mit der Figur des Revolutionärs Rachmetow. Vgl. Georg Lukács: Tschernyschewskijs Roman „Was tun?“ [1948], in derselbe: Der russische Realismus in der Weltliteratur (Werke 5), Neuwied-Berlin 1964, 126-160 und Georg Lukács: Einführung in die Ästhetik Tschernyschewskijs [1952], in derselbe: Beiträge zur Ästhetik, Berlin 1954, 135-190. Lukács hat ebenda, 217-285 auch Karl Marx‘ aus den Jahren 1857/58 stammende Auseinandersetzung mit der idealistischen Ästhetik des „verwässerten“ Hegelianers Friedrich Theodor Vischer beschrieben.
[10] Vgl. Heinrich Heine: Die romantische Schule [1835], in derselbe: Historisch-Kritische Gesamtausgabe 8/I, Hamburg 1979, 121-249, hier 131. Dazu Georg Lukács: Die Romantik als Wendung in der deutschen Literatur, in derselbe: Fortschritt und Reaktion in der deutschen Literatur, Berlin 1950, 49-70. Zur Verteidigung einer „sozialistischen Klassik“ gegen die Romantik-Annäherung in der späten DDR, zur Romantik als ideologischem Überbau der gegen die Französische Revolution gerichteten „gegenbonapartistischen Fronde“, einer Richtung, die „das Elend umglänzt“, vgl. auch Peter Hacks: Zur Romantik, Hamburg 2001.
[11] Über Engels frühe, vorsozialistische Kritik am christlich-romantischen Obskurantismus, über die Einstellung des jungen Engels zu Ludwig Börne und Heinrich Heine, zu Karl Immermann, Karl Gutzkow oder August Platen vgl. Claus Träger: Zur Stellung des Realismusgedankens bei Marx und Engels, in derselbe: Studien zur Realismustheorie und Methodologie der Literaturwissenschaft, Leipzig 1972, 7-66, hier 13f.
[12] Vgl. Georg Lukács: Goethe und seine Zeit, Bern 1947, 161f. Zu Goethes ökonomischen Studien, zu den scheinbar wohltätigen, verderblichen Wirkungen des „Papier-Credits“ vgl. Johann Wolfgang Goethe: Faust. Kommentar, bearbeitet von Albrecht Schöne (Sämtliche Werke I/7,2), Frankfurt 2007, 455-457.
[13] Zur Flucht des späten Schiller aus „dem engen deutschen Leben“ in das „Reich des Ideals“, zu Kants Einfluss auf Schillers „ästhetisch-philosophischen Idealismus“ vgl. Franz Mehring: Schiller. Ein Lebensbild (1905), in derselbe: Ausätze zur deutschen Literatur von Klopstock bis Weerth (Gesammelte Schriften 10), Berlin 1961, 91-241, hier 238-240.
[14] Vgl. Michail Lifschitz: Die Diskussion der tragischen Idee zwischen Marx, Engels und Lassalle (1931), in: Sickingen-Debatte. Ein Beitrag zur materialistischen Literaturtheorie, hrg. von Walter Hinderer, Darmstadt-Neuwied 1974, 150-158.
[15] Vgl. Werner Krauss: Miguel Cervantes. Leben und Werk, Neuwied-Berlin 1966, 220f.
[16] Vgl. Manfred Naumann: Literatur im „Kapital“ (Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR 1979, 2/G), Berlin 1979.
[17] Zu Lenin über Tolstoi vgl. Marx-Engels-Lenin. Über Kultur, Ästhetik, Literatur, hrg. von Hans Koch, Leipzig 1975, 670f.
[18] Das schlesische Webergedicht „Das Blutgericht“ ist abgedruckt in Auguste Cornu: Karl Marx und Friedrich Engels. Leben und Werk. Dritter Band: 1845-1846, Berlin-Weimar 1968, 91f.
[19] Über den „Fall Freiligrath“ vgl. Georg Lukács: Franz Mehring 1846-1919, in derselbe: Beiträge zur Ästhetik, Berlin 1954, 318-403, hier 386-395.
[20] Vgl. Wolfgang Büttner: Georg Herwegh. Ein Sänger des Proletariats, Berlin 1976.
[21] Näher zu Heines Schwanken zwischen bürgerlicher und proletarischer Demokratie, auch zu Karl Kraus‘ „Heine und die Folgen“ vgl. Georg Lukács: Heinrich Heine als nationaler Dichter (1935), in derselbe: Deutsche Literatur in zwei Jahrhunderten (Werke 7), Neuwied-Berlin 1964, 273-333.
[22] Vgl. Georg Weerth: Gedichte (Sämtliche Werke 1, hrg. von Bruno Kaiser), Berlin 1956, 182-185, 193, 220-226.