NS-Forschungsprogramme 1938-1945 – Illusionen von einer „deutschen Grenzland-Universität Süd“ (nach: Universitätsarchiv Innsbruck, Akten des Kurators 1940-1945, Karton 12)
Die propagandistisch inszenierten Universitäts-„Aufbauprogramme“ vom Frühjahr 1938 wurden schon 1939 Makulatur. Die Universität Innsbruck wurde zu Kriegsbeginn für das Wintersemester 1939/40 vorübergehend geschlossen. Gerüchte über eine endgültige Aufhebung, eine Zusammenlegung mit München kursierten. Allein der Rückgang der Inskriptionen Anfang 1940 um über ein Viertel (gegenüber Anfang 1938) und der schon 1939 einsetzende Rückgang der Studienabschlüsse, der Promotionen um bis zu zwei Drittel waren Zeichen dafür, dass die Innsbrucker Professoren auf die faschistische Propaganda hereingefallen waren.
Mit erfolgtem „Anschluss“ hatten viele Universitätsgelehrte die Hoffnung auf eine grundlegende Verbesserung der materiellen Situation verbunden. Nach Jahren materieller Stagnation setzten die Professoren im Zusammenhang mit der Rüstungsscheinkonjunktur und dem deutschen Großmachtstreben auf „Aufbauprogramme“. Kurzfristig gewährte Sonderdotationen nährten Illusionen vom Ausbau der Universität Innsbruck zu einer „deutschen Grenzlanduniversität Süd“.
Dekan Ernst Philippi, Professor der Chemie, stellte im „Aufbauprogramm für die Philosophische Fakultät“ im Juni 1938 die naturwissenschaftlichen Disziplinen in den Mittelpunkt: „Hier hat sich das Fehlen jeglichen ordentlichen Etats durch nunmehr
6 1/2 Jahre auf alle Institute verheerend ausgewirkt. Außerdem gingen in den letzten Jahren die zweite botanische, die zweite zoologische und die mit dem Strahlenforschungsinstitut verbundene zweite physikalische Lehrkanzel verloren. Die Errichtung einer selbständigen Lehrkanzel für physikalische Chemie wurde hartnäckig verweigert, sodass unsere Chemiker eigentlich kein Verbandsexamen ablegen können, für das ja ein physikalisch-chemisches Praktikum vorgeschrieben ist. Der Vorstand des Institutes für kosmische Physik wurde zwar zum Mitglied der Akademie der Wissenschaften, aber noch immer nicht zum Ordinarius ernannt, wofür er seit 8 Jahren vorgeschlagen ist. Bei den Assistentenbestellungen und Weiterbestellungen ließ man die Vorgeschlagenen zumeist aus politischen Gründen monatelang unbestätigt - kurzum, die Tatsache, dass sich unter der Professorenschaft der Naturwissenschaften kein einziger ‚Vaterländer’, wohl aber etwa die Hälfte illegaler P(artei)g(enossen) befanden, während die andere Hälfte mit diesen sympathisierte, wurde von den Unterrichtsministern Schuschnigg und Pernter mit biblischer Grausamkeit an den Kindern gerächt.“
Einige wenige umgesetzte Vorhaben – wie die Neuerrichtung einer Physikalischen Chemie und deren Etablierung als „Wehrbetrieb“ – und viele subjektive Einschätzungen belegen, dass Innsbrucks Professoren begeistert auf einen vom deutschen Imperialismus geprägten europäischen Forschungsraum setzten und in diesem Zusammenhang in jeder Hinsicht auf Beutestücke aus den unterdrückten Ländern hofften, sogar direkt über Kriegsverbrechen, wie einem Massaker an der jüdischen Bevölkerung von Jassy, Rumänien, 1941 informiert waren. Teile des Professorenkaders fielen angesichts der „Blitzkriegsiege“ in Euphorie, so im Sommer 1940 nach dem „Norwegen- und Frankreichfeldzug“.
Der Zoologe Otto Steinböck sah sich bestätigt. Nach seiner Rückkehr aus dem „siegreichen“ Frankreichfeldzug schrieb er im Dezember 1940 an dänische Kollegen: „Das Institut selbst würden Sie gar nicht mehr kennen. Nachdem wir unter Dollfuß-Schuschnigg schon jahrelang überhaupt kein Geld mehr bekamen, wurde dies im Sommer nach dem Umbruch anders. Ich konnte alle meine alten Pläne verwirklichen, bekam neue Räume hinzu, auch einen Garten mit Freilandbecken, in dem sich augenblicklich Saiblinge für verschiedene Experimente aus einem 2800m hohen Hochgebirgsee befinden, und die ganzen Räume wurden vollkommen neu hergerichtet, ausgemalt, gestrichen usw. Mein Institut ist jetzt sicherlich eines der schönsten unter den Zoologischen im Großdeutschen Reich.“
Rektor und Medizinerdekan planten im Sommer 1938 nicht nur die Errichtung eines „Rassenbiologischen Instituts“, sondern etwa auch den Aufbau einer zentralen, von der Universität geführten „heilklimatischen Station“ in Hochserfaus. Für diesen Zweck sollte der Gießener Dermatologieprofessor Walter Schultze, seit Jahren ein faschistischer „Asozialenbekämpfer“, gewonnen werden. Schultze sollte als Direktor der Innsbrucker Hautklinik auch „Hochserfaus“ leiten. Berufung und Projekt scheiterten.
Im Bereich der medizinischen und naturwissenschaftlichen Forschung gab es zahlreiche Einbindungen in die „Wehrforschung“, in Militär- und Rüstungsprogramme. Zahlreiche Forschungsprojekte der Universität Innsbruck waren über das so genannte Planungsamt beim Reichsforschungsrat (kurz als „Stelle Osenberg“ bezeichnet) koordiniert, so neben physikalisch-chemischen Forschungen die pharmakognostischen Vorhaben des NS-Dozentenbundleiters aus „illegaler Zeit“ Ludwig Kofler, der einen Teil der Institutsarbeit als „kriegswichtige Forschungsaufgaben“ deklarieren konnte, so „Mikromethoden“, die „sich auch zur Untersuchung von organischen Sprengstoffen eignen“, so Forschungen zur „Galvanonarkose“ am von Medizinerdekan Ferdinand Scheminzky geleiteten physiologischen Institut, so medizinisch-chemische Projekte, so im Bereich der Physik Untersuchungen zur „Auslösung von Neutronen (aus Atomkernen) durch energiereiche Strahlung“, die unter dem Titel „Sperr-Versuchskommando Kiel (Kriegsmarine) Geheime Kommandosache“ zugeordnet waren.
Der 1940 von der Technischen Hochschule München nach Innsbruck berufene, zum Direktor des neu errichteten Physikalisch-Chemischen Instituts ernannte Carl Angelo Knorr hat mehrere militärisch wichtige „Kriegsaufträge“ erhalten. So wurde über das als „Wehrbetrieb“ eingerichtete Universitätsinstitut von Seite des Reichsministers für Luftfahrt und des Oberbefehlshabers der Luftwaffe am 20. Dezember 1942 unter Geheimhaltung und dem Betreff „Kriegsauftrag, Untersuchungen über eine kurzzeitige Stromquelle“ festgehalten: „Der Auftrag ist kriegswichtig: Dringlichkeit: Sonderstufe: SS/IV/42. Auftragsnr. SS 6133-0959/42. Erweitere Auftrags-Nr.SS 4602-6133-0959/42.“
Verschiedene geologische und botanische Aufträge (für Kraftwerks- oder [Kriegs-] Straßenbau) liefen ebenfalls über die „Stelle Osenberg beim Reichsforschungsrat“, über das Oberkommando von Heer, Kriegsmarine, Luftwaffe oder über die „Organisation Todt“. Federführender Koordinator beim „Reichsforschungsrat“ war der Geologieprofessor Raimund Klebelsberg, zugleich 1942 bis 1945 Rektor der Universität.
Nach der Befreiung 1945 gab es im Zug der Dachauer Ärzteprozesse Vorwürfe gegen die am pharmakologischen Institut angesiedelten Forschungen, die unter dem „Kennwort: Bezoldeffekt - Wehrmachtauftragsnummer: S 4891-5162 (513/10-III/43)“ und dem „Kennwort: Kälteschäden - Wehrmachtsauftragsnummer: S 4891-5163 (514/10-III/43)“ liefen. Möglicherweise wussten Professoren verschiedener Universitäten (z.B. in Marburg oder Freiburg) über koordinierende Tagungen dieser weit verzweigten Forschungen (etwa im Zug einer Tagung in Nürnberg 1941) davon, dass im Rahmen der „Kälteversuche“ im KZ Dachau Häftlinge gequält und ermordet wurden.
Am 9. August 1942 meldete Adolf Jarisch als Direktor des Pharmakologischen Instituts etwa dem Dekan der Medizinischen Fakultät Innsbruck: „Ich möchte Ihnen mitteilen, dass ich über Aufforderung des Kanzlers der Deutschen Luftfahrtforschung am vergangenen Freitag vor prominenten Vertretern der Wehrmacht, Wissenschaft und Technik in Berlin über unsere Entdeckungen Bericht erstattet habe. Ich habe dabei nicht schlecht abgeschnitten.“ (Vgl. Karl Heinz Roth: Tödliche Höhen. Die Unterdruckkammer-Experimente im Konzentrationslager Dachau und ihre Bedeutung für die luftfahrtmedizinische Forschung des „Dritten Reichs“, in: Vernichten und Heilen. Der Nürnberger Ärzteprozess und seine Folgen, hrg. von Angelika Ebbinghaus und Klaus Dörner, Berlin 2002, 110-151; weiters laufende Forschungen von Paul Weindling [Oxford]!)
Erst einige Fragen sind im Zusammenhang, ob der Wissenschaftsbetrieb der Universität Innsbruck unmittelbar von Verbrechen des deutschen Faschismus profitiert hat, näher geklärt:
Sind Leichen von hingerichteten Widerstandskämpfer/inne/n der Innsbrucker Anatomie übergeben worden? Am 15. Juli 1942 meldete Medizinerdekan Franz Josef Lang in Übereinstimmung mit Anatomieprofessor Felix Sieglbauer an den Polizeidirektor in Salzburg: „Zu V-39.00/42 vom 9.7.1942 teile ich mit, dass die Medizinische Fakultät der Universität Innsbruck vom Recht Gebrauch macht und die Überlassung justifizierter Militärpersonen beansprucht. Anschrift: Anatomisches Institut Innsbruck, Müllerstr. 59, Fernruf 351. Überführung der Leichen mit der Bahn in Kisten, die vom Anatomischen Institut bereitgestellt werden.“
Dieser Komplex wurde 2019 im Rahmen eines Forschungsprojekts von Erich Brenner und Herwig Czech im Detail im online zugänglichen „Anatomischen Anzeiger“ aufgeklärt. (Vgl. oben Rubrik „Politische Dokumente aus dem Universitätsarchiv“, Dokument Nr. 8)
Gibt es einen Zusammenhang zwischen den „Zwillingsforschungen“ und dem „Erb- und Rassenbiologischen Institut Innsbruck“? Dies wurde 1995 von einer Auschwitz Überlebenden aus Anlass eines Besuchs des österreichischen Bundespräsidenten in Israel bezeugt, u.a.m.
Im Bereich der geisteswissenschaftlichen Forschung kam es zu Anbindungen an Projekte des um die so genannte „Aktion Ritterbusch“ organisierten „Kriegseinsatzes der Deutschen Geisteswissenschaften“ mit dem Plan, nazistische Europa-Ideologien zu formulieren, - an das „SS-Ahnenerbe“ (Franz Huter und die „Sicherung“ der Archive in Südtirol im Rahmen der „Option“, etc.).
Rektor Steinacker wollte die Innsbrucker geisteswissenschaftliche „Kameradschaft“, die er mit dem Althistoriker Franz Miltner und dem Klassischen Philologen Albin Lesky aufbaute, an Walter Franks „Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschland“ anbinden.