Der 1978 in der Oberpfalz geborene Stefan Hofmann SJ ist seit 1. April 2022 neuer Professor für Moraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Innsbruck. Er hat in Regensburg, Rom und Steubenville (USA) studiert. 2010 ist Hofmann dem Jesuitenorden beigetreten und wurde 2016 zum Priester geweiht. 2021 wurde er an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen mit einer Arbeit über „Normative Bedeutung der Handlungsfolgen“ habilitiert. Nun freuen wir uns über die personelle Verstärkung im Institut für Systematische Theologie.
Lieber Stefan Hofmann, die Gesellschaft der Gegenwart steht vor zahlreichen Herausforderungen, seien es politische, ökonomische oder ökologische. Wie würdest du die drängendsten ethischen Fragen unserer Zeit beschreiben?
Ich denke, langfristig dürften für unsere Gesellschaft der Klimawandel und die Ökologie die drängendsten Herausforderungen sein. Allerdings haben sich in den vergangenen Jahren ja immer neue Themen in den Vordergrund geschoben: die Frage des assistierten Suizids, die Pandemie mit der Frage der Impfpflicht, die zunehmende gesellschaftliche Polarisierung und jüngst – auf kaum für möglich gehaltene Weise – der Krieg in der Ukraine. Tatsächlich plane ich für das kommende Semester nun anders als vorgesehen ein Seminar zur Friedensethik. Wer hätte es für möglich gehalten, dass Europa im Jahr 2022 einen Krieg erleben muss? Die genannten Herausforderungen decken nicht das gesamte Spektrum der in der theologischen Ethik virulenten Themen ab. Zu nennen sind auch der Umgang mit der Sexualität, Genderfragen und in der Medizinethik z.B. der sog. Gewissensvorbehalt. Viele dieser Themen werden auf Jahre hin aktuell bleiben.
Ethik scheint zumindest in den Diskursen der medialen Öffentlichkeit einen recht hohen Stellenwert einzunehmen. Etwas anders sieht es mit religiösen Weltanschauungen und mit Theologie aus. Worin besteht deiner Ansicht nach der Beitrag, den Glaube und Theologie heute zum Umgang mit ethischen Fragen leisten können?
Wer glaubt, hat Heimat über das eigene Dorf hinaus: Heimat in Gott und als Katholikin oder Katholik in einer weltweiten Gemeinschaft. Ein Beitrag von Glaube und Theologie ist es, gleichzeitig Orientierung zu bieten und eine Öffnung auf etwas Größeres und auf eine größere Gemeinschaft hin. In Westeuropa erleben wir heute, dass die Kirche massiv an Vertrauen verloren hat. In manchen Themenfeldern wie z.B. der Sexualmoral scheint die Kirche den Entwicklungen hinterherzuhinken. Andererseits stehen Glaube und Theologie auch hier für Werte, die von Jugendlichen an erster Stelle genannt werden: Ehe, Partnerschaft, Treue, Verbindlichkeit, dies sind Werte, die gerade Jugendlichen und Studierenden unter 25 Jahren als höchste Werte gelten. In Bereichen wie der Medizinethik habe ich den Eindruck, dass die theologische Ethik durch ihr ganzheitliches Menschenbild weiterhin einen sehr wertvollen Beitrag für unsere Gesellschaft leistet. Im Bereich der Spiritualität lassen sich veritable Schätze heben. Die Herausforderung ist es, diese einer zunehmend säkular werdenden Gesellschaft zu erschließen.
In vielen individualethischen Fragen hat die Kirche durch ihr eigenes Fehlverhalten stark an Glaubwürdigkeit verloren, man denke nur an die zahlreichen Fälle sexuellen Missbrauchs. Wie kann die Kirche ihre Stimme in solchen Fragen noch einbringen, soll sie es überhaupt noch oder ist es ihr nun geboten zu schweigen?
Das Thema des sexuellen Missbrauchs erschreckt nicht zuletzt deshalb, weil die Amtsträger, die hier zum Schutz der Opfer aufklären und Grenzen hätten ziehen müssen, an vielen Orten mehr mit dem Ansehen der Institution als mit der Not und der Verletzlichkeit der Kinder und anderen Betroffenen beschäftigt waren. Soweit ich sehe, ist in den vergangenen Jahren sehr viel zur Aufklärung und zur verbindlichen Einführung von Präventionsmaßnahmen unternommen worden. Präventionsschulungen sind vielerorts verpflichtend eingeführt worden (auch in Innsbruck), es gibt Ombudsstellen und externe Beauftragte etc. Vielleicht ist es vorerst der beste gesellschaftliche „Beitrag“ der Kirche, wenn sie in ihren vielen Einrichtungen die bestehenden Standards weiterentwickelt und verstärkt. Dies wird von Journalist*innen auch wahrgenommen. Allerdings sollte sich die Kirche nicht auf dem Erreichten ausruhen. Recht besehen gibt es hier ja keine Benchmark. Wir müssen die Haltung Jesu einüben (vgl. Mt 18,1-14) und die Perspektive derer einnehmen, die zu Opfern wurden oder es werden könnten. Wir müssen in der gesellschaftlichen Diskussion nicht immer schweigen. Entscheidend ist jedoch Bescheidenheit und v.a. das Handeln.
Wo möchtest du in deiner Arbeit in nächster Zeit Schwerpunkte setzen? Was sind die Themen, die dich besonders interessieren und die du vertieft erforschen möchtest?
Ein Schwerpunkt der nächsten Jahre wird sicherlich die Medizinethik sein. Angesichts der zunehmenden Pluralisierung unserer Gesellschaft stellt sich mehr und mehr die Frage, ob und inwiefern die verschiedenen Akteur*innen des Gesundheitssystems (Ärzt*innen, Pharmazeut*innen, Pfleger*innen…) bei ethisch kontroversen Fragen einen Gewissensvorbehalt geltend machen können. Das „Sterbeverfügungsgesetz“ hat in Österreich zum 1. Januar 2022 eine weitere Möglichkeit eines solchen Gewissensvorbehalts eingeführt. Gleichzeitig werden auch die Grenzen solcher Vorbehalte sehr kontrovers diskutiert. Im Europaparlament kommt es je nach politischen Mehrheiten zu fast gegensätzlichen Stellungnahmen pro oder contra die Möglichkeit von Gewissensvorbehalten (z.B. hinsichtlich der Mitwirkung an einer Abtreibung). Negativ äußerte sich zuletzt eine Mehrheit von Parlamentarier*innen im Jahr 2021 im sog. Matic-Bericht. Ich denke, es wäre ein wichtiger Dienst an unseren Gesellschaften, hier zu guten und vernünftigen Kompromisslösungen beizutragen. In der angewandten Ethik beschäftige ich mich v.a. mit der Ethik am Lebensende. Darüber hinaus bin ich sehr an der Theologie der Spiritualität und den Themen der Fundamentalmoral (Autonomie, Normen, Handlungstheorie, Naturrecht usw.) interessiert. Die Theologie der Spiritualität scheint mir auch mit Blick auf einen guten und achtsamen Bezug des Menschen zur Schöpfung hilfreich zu sein. Wir werden in den kommenden Jahren weiter CO2-Emissionen reduzieren müssen. Das muss nicht einen Verlust an Lebensqualität bedeuten. Allerdings braucht es insgesamt auch eine gewisse Offenheit: Die theologische Ethik sollte in kritischer Zeitgenossenschaft betrieben werden. Welche Themen jeweils aktuell zu reflektieren sind, werden die gesellschaftlichen Entwicklungen zeigen. Dies macht die theologische Ethik zu einer äußerst spannenden Disziplin.
Das Interview führte Dekan Wilhelm Guggenberger.